Der Zahl der lieferbaren Schulausgaben nach zu urteilen gehört die Rede für den Dichter Archias zu den meistgelesenen Schriften Ciceros im Lateinunterricht. Das verwundert nicht: Der Text ist kurz, umfaßt nur elf große oder 32 kleine Paragraphen, in der zweisprachigen Reclam-Ausgabe nimmt die Übersetzung keine zwanzig Seiten ein. Und es geht um ein Thema, das Interesse zu wecken geeignet ist, obwohl es nicht gerade um eine typische Immi-Geschichte handelt. Ein prominenter Grieche, gerngesehener Gast in den besten Häusern Roms, ist angeklagt, sich als römischer Bürger auszugeben, obwohl er gar kein Bürgerrecht besitze, sich dieses also unrechtmäßig anzumaßen. Soziale und formale Integration klaffen auseinander, und eine ganz harmlose Gestalt wird zum Spielball in einem öffentlich ausgetragenen politischen Konflikt unter den Mächtigen. Eine neue, vorzüglich gelungene Ausgabe aus der Feder von Altay Coşkun bietet Anlaß, die Rede auch an dieser Stelle einmal vorzustellen.
Als noch sehr junger Mann bereiste der in Antiochia geborene Archias die Mittelmeerwelt und machte als Dichter Furore. Das junge Alter muß hervorgehoben werden, denn in der Antike setzte der Dichterberuf eine umfassende Bildung voraus; Poesie war in erster Linie ein Wettbewerb mit den Vorgängern seit Homer, die man natürlich kennen mußte. Vor Publikum deklamiert wurde Fremdes und Eigenes; besonders bewunderte man, wenn Verse, unvorbereitet vorgetragen wurden. „Wie oft habe ich diesen gesehen,“ so Cicero (8,18), „dass er, obwohl er nicht einen Buchstaben aufgeschrieben hatte, zahlreiche vorzügliche Verse über genau diejenigen Dinge die sich damals aktuell zutrugen, aus dem Stegreif vortrug! Wie oft habe ich erlebt, dass er, zur Zugabe aufgefordert, dasselbe Thema behandelte und dabei Worte und Gedanken änderte! Was er aber sorgsam und überlegt nieder geschrieben hatte habe ich derartige Zustimmung erlangen sehen, dass es dem Ruhm der altehrwürdigen Schriftsteller gleichkam.“ Nicht zu vergessen die besondere Qualität der Dichtkunst schlechthin: „Das Studium anderer Dinge besteht aus Gelehrsamkeit, Unterweisungen und Fertigkeiten, als Dichter vermag man etwas aufgrund seiner natürlichen Veranlagung, wird durch die Kräfte des Geistes angetrieben und gleichsam durch eine Art göttlichen Hauch beseelt.“
Archias wurde er mit dem Bürgerrecht verschiedener Griechenstädte in Unteritalien geehrt, bevor er 102 erstmals Rom betrat. Dort kam er sehr bald mit den angesehensten Familien in Kontakt. Die Gunst des Gaius Marius sicherte er sich durch ein Lobgedicht auf dessen Sieg über die germanischen Kimbern. Unter der Protektion der Licinii Luculli baute er Beziehungen zu weiteren namhaften Aristokraten Roms auf und wurde auf einer Reise nach Süditalien auch mit dem Bürgerrecht der im Tarentinischen Meerbusen gelegenen Stadt Herakleia ausgezeichnet. Im Verlauf des Bundesgenossenkrieges 90/87 v.Chr. wurde die civitas Romana in verschiedenen Etappen auf die südlich des Po wohnenden Italiker ausgedehnt. Archias profitierte im Jahr 89 von der lex Plautia Papiria, auf deren Grundlage er sich, wie es aussieht, vom Prätor Quintus Caecilius Metellus Pius als Aulus Licinius in die Bürgerliste eintragen ließ. Seinen früheren Freunden blieb er weiterhin sehr eng verbunden und so begleitete er seinen Namenspatron Lucius Licinius Lucullus auf zwei Kriegszügen in den Osten des Mittelmeerraums; später verfaßte er diesem zu Ehren ein Epos Mithridaticum.
Wohl Anfang 62 v.Chr., als schon bald Sechzigjähriger, wurde Archias von einem sonst unbekannten Grattius verklagt: Auf der Grundlage der lex Papia de peregrinis wurde ihm vorgeworfen, sich das römische Bürgerrecht lediglich anzumaßen. Zuvor war die Bürgerliste von Herakleia in den Flammen des Bundesgenossenkrieges aufgegangen. Der Verdacht, Archias‘ Eintrag in die römische Meldeliste des Jahres 89 sei gefälscht, werde durch sein Fehlen in den späteren Bürgerlisten weiter erhärtet. Archias habe sich ferner noch lange nach dem behaupteten Bürgerrechtswechsel als Nichtrömer verhalten.
Bereits in der Anfangspartie der Rede teilt Cicero seinen zweifachen Plan mit: einmal zu zeigen, daß Archias rechtmäßig römischer Bürger sei, und zudem davon zu überzeugen, daß er andernfalls die Einbürgerung verdient hätte. Vordergründig mag man, so Coşkun in der Einleitung, diese Gliederung auf den anfangs chronologisch und sodann nach juristischen Gesichtspunkten geordneten ersten Teil (§§ 4-11) sowie den die Bedeutung von Literatur und Lobdichtung thematisierenden zweiten Teil (§§ 12-30) beziehen. Tatsächlich durchzieht die moralisch-extrajuristische Argumentation aber die gesamte Verteidigung, wie andererseits auch die Rechtmäßigkeit der von Cicero vertretenen Position immer wieder in Erinnerung gerufen wird.
Es gibt verschiedene Arten, den Fall zu deuten und die Rede zu lesen. Humanistisch Begeisterte meinten, Cicero mache die rechtliche Frage kurz ab, weil sie sonnenklar gewesen sei; er haben dann die Gelegenheit genutzt, Bildung und Dichtkunst zu preisen und so ein „Zeugnis für den Kampf des Geistes um seine Anerkennung“ zu geben. Umgekehrt wurde argumentiert, Cicero habe so von der juristischen Schwäche seiner Position anlenken wollen. In der Tat kann er kein belastbares Dokument über den Akt der Einschreibung vorweisen: Daß Archias Bürger von Heraklia war (was eine rechtliche Voraussetzung für die umstandslose Eintragung in die römische Bürgerliste darstellte), wurde nur von Zeugen bestätigt, für sein Fehlen bei zwei Census-Terminen wird Abwesenheit von Rom angeführt. Allerdings galten im römischen Gerichtswesen Aussagen von angesehenen Zeugen und rhetorische Argumente des Verteidigers (sog. technische Beweise) mehr als Dokumente. Einen dritten Zugang bietet der politische Hintergrund. In der Tat ist kein rechtes Motiv für die späte Anklage zu erkennen. Vermutlich stand hinter dem Prozeß ein Anhänger des Pompeius, der damals gerade siegreich aus dem Mithridatischen Krieg zurückgekehrt war, sich aber nun von führenden Aristokraten im Senat geschnitten sah, allen voran den Licinii Luculli und Caecilii Metelli. „Der Angriff auf Archias sollte wohl den prominenten Freund und Lobdichter des L. Lucullus treffen, um so das öffentliche Ansehen seines Gönners herabzusetzen. Dieser Konflikt bleibt jedoch in der Verteidigungsrede schon deswegen ausgeblendet, weil Cicero mit beiden Parteien freundschaftlichen Umgang pflegte und sogar auch aktiv politisch zusammen zu arbeiten.“ Das führt zur vierten Lesart der Rede: der ciceronischen. Denn eigentlich geht es – was keinen Kenner verwundern wird – um den Sprecher. Aus Ciceros Sicht bot der Fall eine willkommene Chance, seinen eigenen, Ciceros Kampf um Anerkennung zu fechten beziehungsweise zu flankieren. Nur wenige Monate früher hatte er als Konsul, so wurde er nicht müde zu betonen, die res publica gegen die Umtriebe Catilinas gerettet (Dez. 63). Selbst der wohlwollende Plutarch notierte im Rückblick (Cic. 24): „Dadurch, daß er sich immerfort selbst lobte und rühmte, erregte er den Widerwillen vieler. Kein Senat, keine Volksversammlung, kein Gericht konnte zusammentreten, bei dem man sich nicht das Gerede über Catilina und Lentulus anhören mußte. Am Ende füllte er auch seine Bücher und Schriften mit diesen Lobpreisungen der eigenen Person, und seinen sonst so schönen, anziehenden und geistvollen Vortrag machte er für die Hörer widerwärtig und abstoßend, weil ihm immer wie ein Fluch diese Geschmacklosigkeit anhaftete.“ Cicero dachte wohl schon zur Zeit der Rede, Mitte/Ende 62, daran, seine Reden aus dem Jahr seines Konsulats überarbeitet herauszugeben und seine Taten in anderen Formaten feiern zu lassen. Klaus Bringmann ordnet in seiner Cicero-Biographie die Archias-Rede in diesem Sinne treffend ein: „Worum es ihm eigentlich ging, war der Dichter als Herold großer Taten und als Garant ewigen Ruhms. Dabei dachte Cicero natürlich an sich, und tatsächlich hatte der Dichter bereits eine Stegreifprobe seiner Kunst in einem mündlichen Vortrag über eine Episode des Konsulats gegeben, so dass Cicero auf mehr hoffte. Dazu bekannte sich Cicero ganz offen vor dem Gerichtshof: «Damit ihr dazu [zu einer für Archias günstigen Entscheidung] desto mehr bereit seid, ihr Richter, will ich mich jetzt selber vor euch offenbaren, dass auch ich auf Ruhm erpicht bin – allzu eifrig vielleicht, doch aus ehrenhaftem Antrieb. Denn was ich während meines Konsulats mit eurem Beistand zur Rettung der Stadt und des Reiches, zum Schutz der Bürger und des ganzen Gemeinwesens vollbracht habe, hat Archias dichterisch darzustellen begonnen; ich hörte mir seine Verse an, und weil ich die Sache für wichtig und erfreulich hielt, forderte ich ihn auf, das Werk zu vollenden.»“ Bitter für Cicero: Archias tat am Ende nicht, was der eifrige Verteidiger für sich erhofft hatte. (Noch nicht ansehen konnte ich eine weitere Edition der Rede, in der es offenbar um die „Medienstrategie“ Ciceros geht.)
Wie ging der Prozeß aus? Das ist nicht überliefert, doch läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit erschließen, daß Archias frei gesprochen wurde. Cicero hätte sich doch wohl gescheut, diese eher untypische Apologie in der vorliegenden Gestalt zu publizieren, wenn sie ihr (vordergründiges) Ziel nicht erreicht hätte.
Altay Coşkun, Cicero und das römische Bürgerrecht. Die Verteidigung des Dichters Archias. Einleitung, Text, Übersetzung und historisch-philologische Kommentierungen. Göttingen: Edition Ruprecht 2010. 178 S., geb., € 16,90.
Cicero, Pro A. Licinio Archia poeta oratio – Rede für den Dichter A. Licinius Archias. Lateinisch/deutsch, übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1979 u.ö. 56 S., kart., € 2,00.
Klaus Bringmann, Cicero. Darmstadt: Primus-Verlag 2010. 304 S., geb., € 29,90.