Historische Analogien dienen verschiedenen Zwecken. Sie sollen Argumente stärken, vor der Wiederholung von Fehlern warnen, Mechanismen aufzeigen oder einen unzureichend bekannten Sachverhalt erhellen helfen. Bisweilen befriedigen sie aber auch eine Schaulust, erzeugen Phantasien oder verstärken Empörung. Die Rede von den „Zuständen wir im alten Rom“ hatte immer etwas von allem, so auch in der aktuellen Variante. Anfang April war in der Welt am Sonntag zu lesen: „So hemmungslos war Bunga-Bunga im alten Rom. Der Sex-Skandal um Italiens Premier Berlusconi und die Prostituierte Ruby hat historische Präzedenzfälle: Roms Kaiser lebten ihre Begierden ohne Tabus.“ Die Übertreibung ist sicher gewollt, denn ‘Tabus‘ im Sinne von ‘Geht gar nicht‘ kannten selbstverständlich auch die römischen Kaiser; so ist von keinem etwa Nekrophilie überliefert oder Anthropophagie in Verbindung mit sexueller Erregung.
Berthold Seewald, der Verfasser des Artikels, benutzt zum Einstieg das Stilmittel der anonymisierenden Verfremdung: „ Der mächtigste Mann Roms liebt die Frauen. Auf seine Art, bisweilen rücksichtslos: Seine letzte, dritte Ehefrau spannt er einem Mitarbeiter aus, als sie im sechsten Monat schwanger ist. Seiner Noch-Gattin lässt er die Scheidung zustellen, als sie gerade die gemeinsame Tochter zur Welt bringt. Auch als langjähriger Regierungschef macht er keinen Unterschied darin, ob die Damen in seinem Bett verheiratet sind oder Singles, ob erfahren oder blutjung. Auf seinen Partys veranstaltet er vor dem Sex Schönheitswettbewerbe mit den Geliebten. Seine Frau soll ihn bis ins Alter mit Mädchen und Knaben versorgt haben.“ Die Rede ist von Augustus, dem Begründer der römischen Monarchie. So wie zitiert kann man in der Tat die ganz überwiegend von Sueton zusammengestellten einschlägigen Eigenheiten des ersten Prinzeps zusammenfassen. In „Rom nichts Neues“ also? Unterschied sich das Sexualleben des Augustus tatsächlich „nur marginal von dem seines republikanischen Nachfolgers der Gegenwart“? Es geht nicht darum, daß sich anschließend „marginal“ als sehr weit gefaßt entpuppt: Der Ministerpräsident brachte es bislang nur auf zwei Ehefrauen, die letzte war weniger kollaborationswillig als die Livia des Augustus und kündigte die Ehe von sich aus auf; „Knaben stehen offenbar auch nicht auf dem erotischen Speisezettel Berlusconis, der seinen ungebremsten Appetit mit hoher Arbeitsbelastung zu erklären pflegt, um allerdings hinzuzufügen, dies sei doch immerhin besser, als schwul zu sein.“ Viel wichtiger: An diesem Beispiel zeigt sich, daß solche Analogien, die im vorliegenden Fall auch eine Kontinuitätsbehauptung enthalten (wie der häufige Hinweis auf die jährlich wechselnden römischen Konsuln zu Zeiten, als die Ministerpräsidenten in Italien sehr oft wechselten), nicht funktionieren, weil die Kontexte ganz andere sind. Der Fall Berlusconi spielt sich einer Gesellschaft ab, in der katholische Sexualmoral und Männlichkeitsideal, Jugendkult und Familienwerte lebensweltlich koexistieren und nur Soziologen Widersprüche ausmachen. Und in einem politischen System, in dem eine völlig zerstrittene Opposition unfähig ist, die Regierung wegen deren erwiesener Erfolglosigkeit zu stellen, und einseitige TV-Sender ebenso parteiischen Mailänder Richtern gegenüberstehen. Im ‘alten Rom‘ hingegen gab es keine christliche Moral, und selbst der sittenstrenge Cato maior heiratete im Alter noch ein junges Mädchen. Was aber über die Kaiser berichtet wird, ist ganz und gar als Produkt der politischen Konstellation zu sehen: Die Machthaber demonstrierten ihre Macht, bisweilen auch in exzessiver Form, und die Ohnmächtigen skandalisierten das Verhalten der Machthaber, um diese zu denunzieren, als Tyrannen, die sich selbst nicht in der Gewalt haben und stets in der Versuchung stehen, alles zu tun, was sie wollen, nur weil sie es können. Das soll nun nicht heißen, die von Sueton oder in der Historia Augusta gesammelten Merkwürdig- und Scheußlichkeiten seien allesamt erfunden. Aber man kann sie nicht sinnvoll behandeln unter der Frage, was davon stimmt, sondern nur, um herauszubekommen, warum so etwas aufgeschrieben wurde und wem es diente.
Der Artikel stellt solche Fragen naheliegenderweise nicht, sondern sammelt einzelne Tatsachen, etwa: „Der private Sexualtrieb der Mächtigen hatte immer auch eine sehr öffentliche, weil politische Komponente. So legitimierte männliche Potenz die Herrschaft altorientalischer Könige, die in durchaus realistischen Fruchtbarkeitsriten den Wohlstand ihrer Städte und Völker zu mehren trachteten. Bis zum Untergang der europäischen Adelsgesellschaft im 20. Jahrhundert gehörte die Zeugung großer Mengen von Nachwuchs zu den herausragenden Pflichten der Fürsten, um die Herrschaft der Dynastie sicherzustellen.“ Das mag sein oder nicht, für die römischen Kaiser trifft es jedenfalls nicht zu; nur einmal, in ganz jungen Jahren, hat der spätere Augustus wahrscheinlich ein zotiges Epigramm verfaßt, um vor seinen Soldaten im Wettbewerb mit dem in dieser Hinsicht ausgewiesenen Antonius als ‘ganzer Mann‘ dazustehen (Martial 11,20,3-8):
‚Quod futuit Glaphyran Antonius, hanc mihi poenam
Fulvia constituit, se quoque uti futuam.
Fulviam ego ut futuam? quid si me Manius oret
pedicem, faciam? non puto, si sapiam.
„aut futue, aut pugnemus“ ait. quid, quod mihi vita
carior est ipsa mentula? signa canant!‘
Es bleibt die chronique scandaleuse, wobei der Einfachheit halber nicht auf die Quellen zurückgegriffen wird, sondern auf Alexander Demandts nach wie vor erfolgreiche Zusammenstellung „Das Privatleben der römischen Kaiser“. Caligula soll es mit seinen drei Schwestern getrieben haben. Claudius‘ Ehefrau Messalina bot sich mit blondiertem Haar und vergoldeten Brüsten in Bordellen feil; einen Wettstreit mit der bekanntesten Prostituierten Roms soll sie gewonnen haben, indem sie es in 24 Stunden auf 25 concubitus gebracht habe. Nero soll eine jungfräuliche Vestalin verführt, sadistische Spiele in Tierverkleidung geschätzt und seine Mutter Agrippina beschlafen haben, bevor er sie umbrachte. Domitian rühmte sich, so heißt es, der Erfindung der klinopale, einer Sportart, die der Kaiser mit mehreren Konkubinen betrieb und die am besten mit „Bettringen“ oder „Sofaturnen“ übersetzt werden kann. Trajan ließ für sich und seine Knaben Austern bis an die Euphratfront schicken. Hadrian trieb es mit Partnern beiderlei Geschlechts. Commodus (161-192) soll dreihundert Konkubinen und seine Schwestern beschlafen haben. Caracalla habe es mit seiner Mutter getrieben. Elagabal, von dem hier schon einmal die Rede war, ließ sich einen Athleten aus Asien kommen, der für die Größe seiner Genitalien bekannt war. Den Schlußpunkt stellt die Geheimgeschichte (Anekdota) Prokops dar: Theodora, die Ehefrau Kaiser Iustinians, habe sie dreißig Männer pro Nacht mit drei Körperöffnungen bedient.
Immerhin, der Weg zum Verständnis solcher ‘Höhepunkte‘ ist dann doch ansatzweise richtig gesehen: Daß ein Autor wie der gelehrte Senator Prokop (den allerdings kein Kenner als „soliden und zuverlässigen Gewährsmann“ bezeichnen würde) und seine Vorgänger solches schrieben, weise in eine bestimmte Richtung: „Hinter der Darstellung des Hochprivaten verbergen sich die Untiefen des politischen Geschäfts. Gerade weil die von Augustus entmachteten Aristokraten Roms zu Zuschauern oder Befehlsempfängern der Kaiser degradiert worden waren, blieb ihnen nur noch die Umdeutung der Geschichte.“