Nicht nur die große Masse der in der Antike geschriebenen Texte hat nicht überdauert, auch einst mächtigen Göttern und vielbesuchten Kultstätten ging es so. So wissen nur noch Spezialisten um Summanus, den römischen Gott des nächtlichen Blitzes, während Juppiter eine geläufige Gestalt blieb. Das Apollon-Orakel von Delphi kennt man, fast vergessen wurde hingegen das ebenfalls mit Apollon verbundene Orakel im mittelgriechischen Abai. Dieses war einst berühmt; Herodot nennt es in einem Atemzug mit Delphi und Dodona unter den Orakeln, die Kroisos auf ihre Treffsicherheit prüfen ließ (1,46). 480 gehörte der Ort zu den Opfern des persischen Vormarsches nach Süden (8,32f.): „Die Feinde aber überzogen ganz Phokis, geführt von den Thessalern, verbrannten und verwüsteten alle Ortschaften, wohin sie kamen, und warfen das Feuer in Städte und Tempel. Am Kephisos hinunter nahmen sie ihren Weg und verheerten dort alles Land und verbrannten folgende Städte: Drymos, Charadra, Erochos, Tethronion, Amphikaia, Neon, Pedieia, Triteia, Elateia, Hyampolis, Parapotamioi und Abai, wo ein reicher Tempel des Apollon stand, ausgestattet mit vielen Schatzhäusern und Weihgaben. Es befand sich dort eine Orakelstätte, die noch jetzt besteht. Dieses Heiligtum raubten sie aus und steckten es in Brand. Auch fingen sie auf den Bergen einige fliehende Phoker und brachten einige Frauen um, indem Massen von Soldaten sie vergewaltigten.“ Delphi, dessen Priester vom Widerstand gegen Xerxes abgeraten hatte, hingegen blieb unversehrt. 479 kämpften Hopliten aus der besetzten Phokis im persischen Heer. Das schadete wohl auch dem Ruf des Orakels.
Bei Grabungen von Archäologen aus mehreren Ländern unter der Leistung von Wolf-Dietrich Niemeier, Direktor der Athener Außenstelle des Deutschen Archäologischen Instituts, in der Phokis sind nun bemerkenswerte Funde zutage gekommen. Berthold Seewald berichtete darüber kürzlich in der WELT, detailliertere Angaben sind in den Archaeological Reports zu finden, trefflichen Übersichten, die von der Society for the Promotion of Hellenic Studies und dem Council of the British School at Athens jährlich vorgelegt werden.. Lange schon wurden die Ruinen bei dem Dorf Kalapodi in Mittelgriechenland mit Abai in Verbindung gebracht. Doch die Grabungen an diesem heiligen Ort profitieren nun von der Gnade der späten Aufmerksamkeit: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts haben französische Archäologen Delphi, deutsche Ausgräber Olympia erschlossen, nach den damals modernsten archäologischen Methoden. Doch Grabungstechnik und Dokumentation standen noch am Anfang; man sicherte nicht Schicht für Schicht auch kleinste Scherben oder Pflanzensamen.
Das Heiligtum von Abai beherbergte zwei Tempel. Es stellte sich heraus, daß der südliche Tempel nach 480 offenbar nicht mehr überbaut wurde. Die von den Persern zerstörten Kultbauten sollten, wie Pausanias schreibt, „für alle Zukunft als Denkmäler des Hasses“ auf die Angreifer belassen werden. Durch das Fehlen weiterer Baustufen lassen sich nun ältere Zustände besser erkennen. Doch nicht nur die Perser vermochten Tempel niederzulegen: der nördliche Tempel fiel 426 v.Chr. einem Erdbeben zum Opfer. Unter dem 480 zerstörten Tempel fanden sich Reste von Vorgängerbauten, deren älteste sich bis in die mykenische Bronzezeit (vor 1200 v.Chr.), ja bis hinauf ins frühe 2. Jahrtausend verfolgen lassen. Die Ausgräber sehen Anzeichen, daß wenigstens hier über die sog. Dark Ages (1150-800 v.Chr.) eine größere Kontinuität aufrechterhalten werden konnte als anderswo. So kam in dem spätgeometrischen, aus Lehmziegeln auf einem Steinfundament errichteten Tempel (um 800 v.Chr.) eine Wandmalerei mit einer Schlachtenszene ans Licht. Die Technik, die für die freskengeschmückten Paläste der Mykener belegt ist, hatte offenbar die Zeiten überdauert.
Für die nicht mit natürlichen Ressourcen gesegneten Phoker waren Tempel und Orakel von Abai von herausragender wirtschaftlicher Bedeutung: Besucher und Fragesteller entrichteten Gebühren, brachten Weihgaben (Votive) und mußten sich versorgen. Wie lukrativ das war, belegen die Grabungen in Kalapodi. Sie förderten zahlreiche Votive aus Metall, Bronzeschmuck und Keramik zutage. Die überregionale Bedeutung des Orakels im 8. und 7. Jahrhundert dokumentiere eine Bronzeschale mit der Reliefdarstellung sich an den Händen haltender Männer (s.u.). Das Importstück stammt aus Nordsyrien und wird in späthethitische Zeit datiert. Nahrungsreste, Bratspieße und Asche um den Tempel herum bezeugen rituelle Mahlzeiten – die Opfertiere mußten im Land selbst gekauft werden.
Inschriftenfunde erlauben es, die Funde sicher als Reste des Orakelheiligtums von Abai anzusprechen. Im Tempel fand sich eine Inschrift „dem Apoll geweiht“, ein verschleppter und in der nahegelegenen Kirche der Schlafenden Jungfrau verbauter Stein trägt die Aufschrift „Leute von Abai haben Kaiser Konstantin geehrt“. Damit ist die früher vertretene Lokalisierung von Abai im weiter südlich gelegenen Exarchos-Tal vom Tisch.
In den Resten des geometrischen Tempels wurden geweihte Waffen gefunden ein veritabler Schatz gefunden: zwölf eiserne Schwerter, drei Lanzenspitze, ein Schildbuckel aus Bronze, ein Bogen und eine Gewandnadel. Das paßt in die allgemein übliche Praxis. Nach einem Sieg über Reiter der thessalischen Erzfeinde erweiterten die Abaier den nördlichen Tempel von Kalapodi und statteten ihn prachtvoll mit der Kriegsbeute aus. Herodot spricht von 2000 Schilden und von großen Bildsäulen, die aus dem Zehnten der Beute finanziert wurden.
Das Orakel existierte nach den Perserkriegen, wie Herodot bezeugt (s.o.), durchaus weiter und erhielt viel später von den Römern sogar die autonomia. An die großen Zeiten anzuknüpfen gelang aber nicht mehr. Womit wir wieder bei Herodot wären (1,5): Er wolle „weiterschreiten in der Erzählung und dabei der Menschen Stätten besuchen, große und kleine, beide. Denn diejenigen, die vor Zeiten groß waren, von denen sind die meisten klein geworden; und die groß sind zu meiner Zeit, waren früher klein. Und da ich nun weiß, daß der Menschen Glück nie stille steht, werde ich beider gedenken in gleicher Weise.“
Eine filmische Dokumentation in mehreren Teilen findet sich auf einer Webseite der Gerda Henkel Stiftung, die die Grabung mitfinanziert.