Gestern am Abend beim Kochen WDR 5 gehört: Scala, das Kulturmagazin. Darin ein Bericht über die Ausstellung Gefährliches Pflaster. Kriminalität im Römischen Reich im Römermuseum zu Xanten. Eine Professorin, die in Trier im Sonderforschungsbereich „Fremdheit und Armut“ geforscht hat, darf ein paar Sätze sagen, z.B.: „Es ist unendlich unsicher in Rom, immer gewesen im Römischen Reich. Weil es nämlich so Banden gibt, die überfallen die Leute, kidnappen die und haben dann wieder ihre Mittelsleute, die die dann auf den Sklavenmarkt bringen.“ Ein Kollege aus Liverpool darf eine Anekdote über Kaiser Caracalla erzählen (die diesem und der römischen Administration ein sehr gutes Zeugnis ausstellt), der Kurator der Ausstellung kommt öfter zu Wort, zählt die inschriftlich greifbaren Schicksale auf: „Wir haben eine Frau, die nach 22 Jahren Ehe von ihrem Mann erschlagen wird. Wir haben ein zehnjähriges Mädchen, das von Räubern wegen ihres Schmuckes erschlagen worden ist. Wir kennen einen erfahrenen Veteranen, der auf einer Reise getötet worden ist. Wir haben sogar einen Zenturio, der in den Alpen bei einer Dienstreise getötet worden ist.“ Im routinemäßigen Haupttext des Hörfunkjournalisten fällt wieder einmal auf, wie zählebig scheinbar einleuchtende Narrative sich halten, auch wenn sie von den Gelehrten längst verabschiedet sind und eigentlich auch nicht mehr in den Lehrbüchern stehen. Vielleicht sind es die linken Gesellschaftsweisheiten, die dem Überleben solcher Klischees förderlich sind. Die wichtigste Behauptung: In Rom war Kriminalität allgegenwärtig, weil die soziale Kluft zwischen den Reichen – dem „alten Adel“ (den es in der Kaiserzeit nur noch in Spurenelemeten gab), den Großgrundbesitzern und Großhändlern – und den kleinen Leuten so groß, mithin die gesellschaftlichen Verhältnisse so ungerecht waren. Unterfüttert wird dieses schlichte Bild von der Vorstellung, im ‘alten‘ Rom hätten die Bauern den gesunden Kern der Bürgerschaft dargestellt (unterschlagen wird dabei die stattliche Zahl von Delikten, die sich in den Fragmenten des Zwölftafelgesetzes aus dem 5. Jahrhundert v.Chr., also einer sehr frühen Zeit, finden). Durch die langen Kriege in fernen Ländern jedoch hätten diese Bauern dann ihre Felder nicht mehr bestellen können; die Güter seien in die Hand von Großgrundbeseitzern gefallen, der Bauernstand verarmt und zusammengeschmolzen. Dieses schlichte Bild kann als widerlegt gelten, u.a. deshalb, weil die Feldzüge ganz überwiegend von erwachsenen Söhnen der Bauern geführt wurden; den Verlust an Arbeitskraft vermochte der Anteil an der Beute meist mehr als zu kompensieren. Daneben gab es immer ein ländliches Proletariat; das hatte allerdings von Tiberius Gracchus kaum je eine Stimme. Gewiß gab es im 2. Jahrhundert v.Chr. auch Verschiebungen, aber das komplexe Geflecht aus rechtlichen, demographischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozessen ist noch längst nicht entwirrt. Klar erscheint nur dies: Das alte, einfache Modell funktioniert nicht mehr.
Auch der Satz, wonach es in den römischen Städten „keine Polizei“ gegeben habe, verkürzt die komplizierte Wirklichkeit. Denn zumindest in der Kaiserzeit gab es durchaus permanente Ordnungsapparate, nur waren ihre Aufgaben anders definiert, als das aus der Moderne geläufig ist. Die aus Freigelassenen rekrutierten vigiles waren in Rom für die Brandbekämpfung zuständig, konnten aber, wenn nötig, auch für andere Aufgaben eingesetzt werden. Hinzu kamen die kasernierten Prätorianer. Diese dienten zwar in erster Linie als Leibgarde des Kaisers, wurden aber auch zur Bekämpfung von Unruhen eingesetzt. Die cohortes urbanae schließlich waren dem Stadtpräfekten unterstellt. Zu den regelmäßigen Aufgaben dieser paramilitärischen Kräfte gehörte die Überwachung der öffentlichen Spiele. Strittig ist indes, ob und, wenn ja, in welchem Ausmaß sie auch zur Verbrechensbekämpfung tätig wurden.
Die Sicherung der Ordnung in den anderen Städten des Reiches blieb Aufgabe der jeweiligen lokalen Amtsträger, die wiederum auf die Unterstützung aus der Bevölkerung angewiesen waren. Soziale Kontrolle blieb unentbehrlich; Eigeninitiative und Selbsthilfe hatten im römischen Reich einen weiten Spielraum, allerdings nicht ungeregelt, sondern durch die öffentlichen Gewalten sanktioniert und in Zusammenarbeit mit ihnen. Regelrechte Selbstjustiz spielte hier, verglichen mit anderen agrarischen Gesellschaften, eine geringe Rolle; dafür wurde gegen bestimmte Formen alltäglicher Kleinkriminalität ohne viel Aufwand und mit aller Härte vorgegangen.
Außerhalb der Städte wurde Militär v. a. eingesetzt, um Banditen zu bekämpfen, die eine Gefahr für die Versorgung des Heeres darstellten, Zulauf von Deserteuren und Sklaven fanden und gelegentlich auch Widerstand aus der ansässigen Bevölkerung gegen die römischen Herrschaft zu üben vorgaben.
Konstant blieb der Klassencharakter der Justiz. Opfer von Kriminalität und Objekt von Strafe zu sein minderte die Ehre; so stand nur höherstehenden Personen das Exil frei, wo andere des Todes waren, und selbst eine Beleidigung wurde mit zunehmendem Rang des Opfers beziehungsweise geringerem Status des Täters strenger geahndet. Umgekehrt führte ein drohender Ehrverlust in der Öffentlichkeit wegen der unterentwickelten Affektkontrolle – da brachte erst die Christianisierung eine Wende – rasch zur Gewaltdelikten. Grenzüberschreitungen waren keineswegs typisch für die Unterschicht, im Gegenteil. Als Subkultur mit kriminellen oder transgressorischen Neigungen konnten junge Erwachsene der besseren Schichten gelten. Denn für sie war die Zeit zwischen der Pubertät und der Eheschließung eine Lebensphase maximaler Freiheit, in der es kaum Möglichkeiten gab, die Zeit sinn- und verantwortungsvoll auszufüllen. Vom Schabernack über Vergewaltigung bis zur schweren Körperverletzung, oft unter Alkoholeinfluß und immer in einer Clique: Für einen Großteil der Gewalttaten in antiken Städten waren Jugendliche und junge Erwachsene verantwortlich. Überlange Adoleszenzphasen sind keine Erfindung der Moderne, und obwohl nur eine Minderheit der jungen Männer frei war von der Pflicht zur Arbeit, verschärfte doch die Demographie das Problem. Jens-Uwe Krause schätzt in seiner lesenswerten Kriminalgeschichte der Antike (C. H. Beck, München 2004), daß die Fünfzehn- bis Dreißigjährigen im römischen Reich rund ein Viertel der Bevölkerung bildeten. Das wäre doch eine neue Gelegenheit für Peter Sloterdijk, sich wieder einmal mit dem alten Rom, einem thymotisch-postpubertären Rom zu befassen.
Die Ausstellung in Xanten läuft bis zum 12.2.2012
Die Ausstellung Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft ist noch bis zum 31.7.2011 im Rheinischen Landesmuseum Trier zu sehen.
Wo die Söldlinge keine mehr...
Wo die Söldlinge keine mehr sind…
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Im alten Rom war der Hauptwiderspruch nicht der zwischen Bourgeoisie und Proletariat, und auch nicht der zwischen Adel und (zumeist bäuerlichen) Volk, sondern der zwischen den Sklavenhaltern und Sklaven. Dennoch waren diese Sklaven nicht fähig, aus sich heraus eine neue Gesellschaft zu kreieren. Gerade die marxistische „Gesellschaftsweisheit“ weiß zu erfassen, dass die revolutionäre Klasse nicht per se die am meisten unterdrückte ist. Dass z.B. die Sklaven im alten Rom, trotz eines Heroen wie Spartakus, zu keiner neuen Gesellschaft fähig waren, kann niemand besser ergründen, als der, der das Verhältnis von Revolution und Konterrevolution aus der Beziehung von (revolutionären) Produktivkräften und überholten Eigentumsformen ableitet.
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So konnte es übrigens auch kommen, dass die folgende Gesellschaft, die feudale, sich eben nicht, quasi linear, aus den eben genannten (inneren) Widersprüchen, also den Widersprüchen im Verhältnis zur ökonomischen Basis (im Innern) heraus entwickelte, sondern gewissermaßen aus einem Teil dieses inneren Widerspruchs in dessen „Außenverhältnis“. (Das vielgerühmte „römische Recht“ spielte dabei keine unwichtige Rolle. Es war seiner Zeit weit voraus und wirkte in der römischen Antike, wie später auch in der feudalen, als revolutionäres Werkzeug – als „revolutionäre Theorie“). Dennoch kam es erst viel später, nämlich als politisch-juristischer Rammbock einer ganz anderen revolutionären Bewegung, zu seinem vollen Recht. Ich verweise hier auf den Kampf des englischen Adels um die „Magna Charta“ und der damit beginnenden bürgerlichen Revolution in der Hochphase des englischen Mittelalters, der ersten bürgerlichen Revolution ganz generell (https://blog.herold-binsack.eu/?p=653).
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Dass im Feudalismus dann der Widerspruch zwischen Adel und Volk zum Hauptwiderspruch wurde, ergab sich aus der Entwicklung unter den römischen Militärverwaltungen (und zwar unter dem Druck einer gewissen finanziellen wie produktionsmäßigen Selbstverwaltung), und zwar dies im Besonderen auch in deren Verhältnis zu den jeweiligen Kriegsgegnern auf germanischen Gebieten. Hier trafen sich, als eigentlich unmöglicher „Widerspruch“, der römische Feldherr und der germanische Kriegerfürst. Kriegerfürsten, die zunächst nichts anderes waren, als auf Zeit bestimmte Führer – Heerführer im Kampf gegen die Römer. Hier: Noch-Repräsentanten einer vorpatriarchalischen Nichtgesellschaft. Epigonen aus einer Zeit, die fast schon nicht mehr wirklich war – freie Heerführer freier Geführter. Dort: Schon nicht mehr Repräsentanten der ersten patriarchalischen Gesellschaft. Herren über Sklaven wie Soldaten.
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Und während das „römische Recht“ – oder besser gesagt: die römische Rechtspraxis – dort die Reste der germanischen Gentilverfassung entsorgte (Engels: „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, Bornemann: Das Patriarchat, https://blog.herold-binsack.eu/?p=1447), zersetzte ihrerseits eben dieselbige Gentilverfassung, also jene eigentlich nur noch Zombieversion hiervon, die römische Sklavenhaltergesellschaft.
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Eine Begegnung gewissermaßen der „dritten Art“. Möglich wurde das durch zweierlei. Erstens bewegten sich diese beiden Gesellschaften auf völlig verschiedenen Zeitschienen, berührten sich somit nicht wirklich. Für die Germanen müssen die Römer so etwas gewesen sein wie ein nicht enden wollender Albtraum, der dennoch Realität sein musste. Ihr magisches Denken machte es ihnen eigentlich unmöglich dies als Realität zu begreifen. Doch ihre Kriegstoten zwangen sie dazu. Und für die Römer waren die Barbaren ein fast nicht beschreibbares Phänomen. Unter aller Beschreibbarkeit. Tacitus wird es nicht leicht gehabt haben. – In semantischer Hinsicht.
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Doch überbrückt werden konnte und musste diese Begegnung. Es waren die unfreiwilligen Dienste der römischen Soldaten, die das zu leisten vermochten. Gezwungen durch die Notwendigkeit der Selbstversorgung – ein in sich schon Beleg für ein inneres Auflöst-sein der römischen Sklavenhaltergesellschaft – führte der römische Soldat die feudale Produktionsweise gewissermaßen „im Tornister“ mit. Eine Produktionsweise, die dann, auf den Trümmern einer germanischen Gentilgesellschaft, dennoch aufgeladen mit deren Vorstellung von Freiheit, so produktiv werden sollte, dass sie dank der Überschüsse hierdurch, die neue feudale Herrenschicht zu alimentieren verstand. Eine Herrenschicht, die sich nur deswegen als unvermeidbar erwies, weil sie sich im Krieg gegen die Römer unverzichtbar machte.
Eines gemeuchelten Hermann/Arminius zum Trotze!
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So gebar der Wille zur Freiheit der Einen und das erzwungene Produktivgeschick der Anderen eine Gesellschaft, die selber die Freiheit (noch) nicht kannte, dennoch ahnte, dass Sklaven das Gegenteil hiervon sein müssen. Auch war daher diese neue Gesellschaft bei weitem noch nicht eine wirklich produktive. Doch schuf diese wiederum eine Vorstellung davon, was revolutionäre Produktivkräfte überhaupt sind.
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Ich denke, dass ich damit eine durchaus diskussionswürdige Analyse vorlege. Und so fühle ich mich als Vertreter der Gattung – links/marxistisch – dort zu Unrecht abgewatscht, wo pauschal über „linke Gesellschaftsweisheiten“ orakelt wird.
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Ihre Kritik an Sloterdijk hingegen, teile ich vermutlich, wenn ich auch nicht nachvollziehen kann, dass sie diese im Kontext eben Ihrer Denunziation von „linken Gesellschaftsweisheiten“ vorbringen. Denn aus linker Sicht stellt sich ein Sloterdijk in etwa so dar: https://community.zeit.de/node/174106/0/only_recommended, siehe auch: https://blog.herold-binsack.eu/?p=518.
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Ich fasse zusammen: Linke Gesellschaftsweisheit ist vor allem auch, dass ein Proletariat, das sich nicht selber seiner Sklavensituation vergegenwärtigt und desweiteren sich nicht über eine Sklavenmentalität zu erheben vermag, per definitionem kein revolutionäres Subjekt sein kann. Und wann wäre diese Sicht nicht aktueller denn heute?!
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Wo sich ein solches Proletariat erhaben dünkt über andere Sklaven, oder wo Sklaven nur Herren sein wollen, kann es passieren, dass ein Reich voll der Sklaven über 500 Jahre über andere Sklaven regiert. Von innen heraus, quasi unangefochten!
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Erst die Einfälle von „Barbaren“, also Nichtsklaven, bringt solches dann zu Fall. Marxistische Dialektik weiß längst, und da möchte ich jetzt mit Zizek (https://blog.herold-binsack.eu/?p=1359) reden, dass Freiheit mehr ist als „Einsicht in die Notwendigkeit“, wenn auch Marx das so noch formuliert haben wollte. In noch nicht klarer Abgrenzung zu Hegel vermutlich. So wie der Begriff des Überschusses, bzw. der „Lücke“/Zizek noch nicht geschaffen ist, ist noch erkennbar, dass der Wille zur Freiheit jeder Einsicht voraus gehen muss. Ansonsten bleiben Freiheit und Notwendigkeit unüberbrückbare Gegensätze. Es mag nur ein kleiner Schritt sein zu einer solchen Einsicht, dennoch, wenn der Wille dazu fehlt, wird er nie vonstatten gehen.
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Nein, es gelang den Römern sicherlich, jenen Willen nicht nur mit Gewalt zu brechen, denn verstanden die römischen Herren, mehr als alle zuvor, den unterdrückten Massen diesen abzukaufen: Brot und Spiele wie finanzielle Beteiligung an den Kriegsgewinnen.
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Nur, und das sei allen heute auf ähnliches Spekulierte ins Stammbuch geschrieben, wenn die Kriegskasse leer ist, meutern solche „Söldlinge“. Und das könnte dann der Anfang zu einer Revolution sein. Vor allem, wenn die Söldlinge keine mehr sind.
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Diesen Willen und eine solche Einsicht zu vermitteln, dafür stehen revolutionäre Philosophen wie revolutionäre Politiker. Wenn auch, wie sich nicht selten zeigt, auch Politiker und Philosophen in-sich für einen unüberbrückbaren Gegensatz zu stehen scheinen.
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Doch wo Hegel (sehr wahrscheinlich) recht hat, da wird vielleicht aus zweimal „unmöglich“ einmal „möglich“.
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Denn auch das ist Dialektik. Das Unüberbrückbare findet doch seinen Weg. Wenn auch fast immer anders als gewünscht.
Korrektur:
Sorry, Es muss...
Korrektur:
Sorry, Es muss natürlich heißen (fünft-letzter Absatz): Wo der Begriff des Überschusses, bzw. der „Lücke“/Zizek noch nicht geschaffen ist, ist noch nicht erkennbar, dass der Wille zur Freiheit jeder Einsicht voraus gehen muss.
Verehrter Herr Herold,
da...
Verehrter Herr Herold,
da liest man mit Gewinn, wenn auch nicht mit absolutem Neuigkeitswert diesen sprachlich wie inhaltlich gelungenen Beitrag, da muß man darunter krudes marxistisches Steinzeitdenken, schon von den Vorsokratikern überwunden, mit gröbsten Verletzungen jeden sprachlichen Stilgefühls ertragen.
Bitte suchen Sie sich ein anderes Forum zur narzisstischen Darstellung von Pseudointellektualität.
Mit besten Wünschen
Ihr Greg Paul
Sehr geehrter Herr Paulus,
ich...
Sehr geehrter Herr Paulus,
ich bin nun gespannt auf die Quelle bzgl. der „ Vorsokratiker“. Ich bin überzeugt, das wäre dann mal was echt Neues.
Mit freundlichen Grüßen
Herold Binsack