Die Mommsen-Gesellschaft (Vereinigung der deutschsprachigen Forscher aus dem Gebiet des griechisch-römischen Altertums) hat sich kürzlich auf einer Tagung in Frankfurt/M. dem Thema Altertumswissenschaft und Öffentlichkeit gewidmet. Eine Sektion beschäftigte sich mit der Presse. Hier der etwas gekürzte und für den Blog eingerichtete Text meines Kurzvortrags.
Vor gut drei Jahren, Anfang Februar 2008, erschien in der Neuen Zürcher Zeitung ein Artikel von Christian Meier, betitelt: Wir sind Kinder des Okzidents. Anmerkungen zur neuerlichen Debatte über Homer und zur kulturgeschichtlichen Eigenheit Europas. Meier bezieht sich dort auf einen anderen Zeitungsartikel, den Raoul Schrott kurz zuvor in der FAZ publiziert hatte und der die Essenz des Buches Homers Heimat vorab bekanntmachte. In seiner Replik hielt Meier einleitend fest, er habe in der Frankfurter Allgemeinen noch nie einen auch nur annähernd so langen Artikel gelesen. In jedem Fall ein Event also, wie Meier staunend einräumt. Gemessen an diesem Befund – man muß ja noch die folgenden Artikel und Leserbriefe sowie die Rezensionen des Schrott’schen Buches hinzunehmen – haben Altertumswissenschaftler keinen Grund, sich zu beklagen.
Eine solch intensive und vergleichsweise komplexe Debatte findet nun nicht jedes Jahr statt. Ich möchte daher im Folgenden einige Beobachtungen mitteilen, vornehmlich aus der Sicht eines Lesers, weniger aus der Sicht eines gelegentlichen Autors, weil der Einblick dieses Autors in Vorgänge ‘hinter den Kulissen‘ sehr begrenzt ist.
1. Bestandsaufnahme
Die Präsenz antiker Themen ist quantitativ vom Gesamtumfang der Zeitungen abhängig. Hier hat es nach einer starken Expansion einen scharfen Rückgang gegeben; es ist allgemein bekannt, daß die überregionalen Qualitätszeitungen durchweg seit einigen Jahren massiv sparen müssen. Redaktionen wurden verkleinert, die Feuilletons haben heute ungefähr einen Seitenumfang wie in den 1980er Jahren. Dies in Rechnung stellend kann man nicht von einer Reduktion antiker Themen i.w.S. gegenüber ‘früher‘ sprechen, wobei ich mit ‘früher‘ weniger einen konkreten Zeitraum meine, sondern eine sozusagen ‘gefühlte‘ Epoche, die ‘gute alte Zeit‘, die durch die Präposition ‘vor‘ gekennzeichnet ist: vor der Wiedervereinigung, vor dem Internet, vor der Globalisierung. Quantitative Aussagen müssen also immer in Beziehung gesetzt werden. Die Zeitungen der 1950er- und 1960er-Jahre jedenfalls waren noch wesentlich dünner; allerdings stand damals auf einer Seite auch viel mehr Text, während heute großformatige Bilder viel Raum einnehmen. Ob es in zwanzig Jahren noch gedruckte Tageszeitungen nach Art der heutigen geben wird, ist schwer einzuschätzen.
Antike Themen sind nach wie vor in den klassischen Textsorten des Feuilletons präsent: Buchrezension, Theater- und Filmkritik, Nachruf, Geburtstagsartikel, Ausstellungskritik, Tagungs- und Vortragsbericht; hinzu kommen ‘freie‘ Artikel zu aktuellen Themen, seien dies Sachinhalte oder institutionelle Fragen. Aber auch Beiträge zu Großereignissen wie der Eröffnung des neuen Akropolismuseums gehören in diese Kategorie. Auf Aktuelles beziehen sich ferner Artikel und Kommentare zu bildungs- und hochschulpolitischen Fragen sowie Problemen der auswärtigen Kulturpolitik, hier etwa zur Rückgabe von Antiken. Dieser Befund einer einigermaßen breiten Aufmerksamkeit gilt freilich nach meiner Wahrnehmung nur noch für die Feuilletons der FAZ und – in geringerem Ausmaß – der Süddeutschen Zeitung. In der Welt finden antike Themen fast nur noch in der Samstagsbeilage Die literarische Welt statt, in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit sind allenfalls sehr selten Artikel mit Antikebezug zu finden, v.a. kaum noch Buchrezensionen. In der Neuen Zürcher Zeitung gibt es gelegentlich im Feuilleton und in der Samstagsbeilage Literatur und Kunst einschlägige Artikel. Eine Besonderheit stellt die mittwochs in der FAZ erscheinende Doppelseite Geisteswissenschaften dar, wo wissenschafts- und ideengeschichtliche Gegenstände einen gewissen Vorzug genießen; Gestalten, die mit der Antike zu tun haben und auf diesen Seiten immer wieder vorkommen, sind Nietzsche, Heidegger, Foucault und Gadamer, aber auch eine interessante Randfigur wie Jacob Bernays. Gelegentlich finden sich aber auch kleine archäologische Fachartikel, etwa zu neuen Deutungen der antiken Bildkunst.
Die online-Ausgabe der Berliner Welt nutzt die Chance des neuen Mediums v.a. durch eine reiche Bebilderung. Einen Versuch stellt der Blog Antike und Abendland dar, eine der zahlreichen regelmäßigen Internet-Kolumnen, die seit 2008 von der FAZ angeboten werden. Hier können ohne Umfangsbeschränkung und Fristen – allerdings aus Urheberrechtsgründen auch nur weitgehend ohne direkt einghebundene Bilder – aktuelle Bücher und Beiträge vorgestellt werden, hier ist auch Raum, an fast Vergessene(s) zu erinnern oder Unspektakuläres zu würdigen, das gleichwohl aus unseren Fächern nicht wegzudenken ist, vom Stowasser über die Loeb Classical Library bis zur Gnomon-Datenbank. Anders als im Blatt spielt hier die Mitteilung, spielt der Verweis eine viel größere Rolle, ergänzt um Einschätzungen durch Andere, ist es dem Blogger – anders als dem Autor eines gedruckten Artikels – doch gestattet, vieles interessant und im Wortsinn bemerkenswert zu finden, ohne zu allem eine fachlich fundierte eigene Ansicht haben zu können und zu müssen.
2. Bedingungen
Angesichts der Vielfalt der Themen in unseren Disziplinen und des begrenzten Platzes können die Blätter nur über ausgewählte Gegenstände berichten. Hier fällt nun auf, daß die Breite, Aktualität und Qualität der Berichterstattung, aber eben auch die Auswahl der Gegenstände mitunter von einzelnen Redakteuren bzw. Mitarbeitern abhängen, mithin hochgradig kontingent sind (im Sinne eines ‘so‘ oder ‘nicht‘ oder ‘anders‘). Sehr deutlich ist das in der Berliner Welt zu beobachten, in der Berthold Seewald unermüdlich und fast im Alleingang antike Themen nach vorn bringt, wenn eine Aktualität in Anschlag gebracht werden kann: 2000 Jahre Varusschlacht, ein angeblicher Caesarkopf in der Rhone, die neue Leiterin des Deutschen Archäologischen Instituts, neue Bücher über Augustus oder die Plünderung Roms i.J. 410. Aktualität bedeutet in diesem Fall auch oft eine Aktualisierung, etwa im Modus des Vergleichs; so heißt es im Zusammenhang mit dem zuletzt genannten Thema (Goten plündern Rom): „Es ist nicht zuviel gesagt, den Vergleich mit dem 11. September 2001 zu ziehen – und am Ende können wir nur jenen zustimmen, die den Gotensturm welthistorisch gar für wirkungsmächtiger halten als den islamistischen Anschlag. (…) Wenn 9/11 von Amerika aus also ein globales Datum gesetzt wurde, dann ging ihm Rom 8/24 darin sicherlich voraus.“ Wissenschaftler haben mit solchen Aussagen oder auch mit kontrafaktischen Szenarien ihre liebe Not, müssen aber akzeptieren, daß die Rezeption ihrer Themen und Ergebnisse anderen Logiken folgt als die Forschung. Sie werden andererseits auch klug daran tun, nicht eine zynische Schizophrenie zu vertreten, die im Interesse einer Legitimierung ihrer Fächer der Öffentlichkeit etwas anzubieten bereit ist, was im wissenschaftlichen Forschungsbetrieb andauernd bekämpft wird. Ich nenne hier neben Vergleichen zwischen Antike und Moderne in erster Linie Kontinuitäts- und Kohärenzfiktionen sowie Wertzuschreibungen an die Antike im Geiste des Neuhumanismus. Eine Schizophrenie, die zur Folge hat, daß Traditionspflege nur noch mit Augurenlächeln betrieben wird, während das eigene Tun in eine ganz andere Richtung zielt, die ein prominenter Althistoriker einmal so auf den Punkt gebracht hat: „Der Sinn der gegenwärtigen Beschäftigung mit der Antike liegt nicht in einer Bewahrung, sondern in der immer wieder neuen Herstellung antiker Geschichte. Diese Herstellung von antiker Geschichte erfüllt (…) die Funktion (…) einer Neutralisierung der Wirkungen, die die antike Vergangenheit auf die Gegenwart ausübt.“ Daß eine solche Polarisierung in der Praxis von Kultur und Bildungssystem nicht funktioniert, zeigt jede brauchbare Inszenierung eines antiken Theaterstücks: Sie muß das Potential des Stückes selbstverständlich jedes Mal neu für sich aufschließen; das wäre aber gar nicht möglich, wenn das antike Theater nicht seit langem zum Kanon der höheren Kultur gehörte und man bei den Besuchern nicht eine gewisse Basisorientierung voraussetzen könnte. Und auch der eben zitierte Kollege hat in seinem Oberseminar wahrscheinlich Studierende sitzen, die nicht deshalb auf dem Gymnasium Latein und gar Griechisch gelernt haben, weil ihre Lehrer/innen im Sinn hatten, die Wirkungen der Antike auf die Gegenwart zu neutralisieren.
Um zu der zuvor skizzierten Beobachtung zurückzukommen: Es sind, wie gesagt, oft Zufälle und persönliche intellektuelle Neigungen einzelner Journalisten, von denen antike Themen allgemein oder bestimmte Gegenstände im Blatt gehalten bzw. akzentuiert werden. So ist es für uns Altertumswissenschaftler sicher ein Glück, daß mit Johan Schloemann ein promovierter Gräzist im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung sitzt, daß Andreas Kilb bei der FAZ der Spätantike und dem frühen Byzanz großes Interesse entgegenbringt und daß Heike Schmoll von ihrer Bildungsbiographie her den Alten Sprachen besonders zugetan ist und diese in ihren Artikeln zur Bildungspolitik im gleichen Blatt immer wieder ins Bewußtsein ruft. Das alles ist, wie gesagt, ganz und gar kontingent, kann sich auch von heute auf morgen ändern.
Aus solchen individuellen Akzentuierungen können dann auch Schwerpunkte und ‘story-lines‘ entstehen. So hat etwa der seinerzeit in der FAZ für Klassische Archäologie zuständige Michael Siebler immer wieder in Artikeln und einem eigenen Buch über den Fortgang der Troia-Grabung berichtet, mit spürbarer Sympathie gegenüber Manfred Korfmann und dessen Bild einer bedeutenden bronzezeitlichen Siedlung auf dem Hissarlik. Aus der Feder von Dieter Bartetzko waren im gleichen Blatt zuletzt mehrfach Artikel über die schlimmen Schäden an der Substanz Pompejis zu lesen. Hier sind klassische Merkmale eines journalistischen Zugangs erkennbar. Die Artikel über Pompeji wollen skandalisieren, wie fahrlässig mit einem Weltkulturerbe aus der Antike umgegangen wird, und auf diese Weise Öffentlichkeit erzeugen, ohne die kein politischer Druck entstehen kann, die gravierenden Versäumnisse abzustellen. (So kommt auch der in der Diskussion zum Vortrag geäußerte Eindruck zustande, der einschlägige Artikel erscheinen jedes Jahr in nur leicht variierter Gestalt) In der causa Korfmann kamen viele Faktoren zusammen; einer davon war sicher auch, daß hier mit Homer und Troia zwei antike Phänomene in Rede standen, die Gebildete und Gelehrte in Deutschland seit über zweihundert Jahren immer wieder elektrisiert haben, die nun aber mit modernster Technik und disziplinübergreifend ‘ganz neu‘ angegangen wurden, noch dazu von einem Wissenschaftler, der sich wenn nicht als Außenseiter, so doch als charismatischer Solitär zu stilisieren verstand.
Dieses Beispiel zeigt auch, wie sich die Sache aus der Perspektive eines Wissenschaftlers darstellt und wie eine mehr als nur einmalige Prominenz zu erzielen ist. Ich sehe dabei ab von spektakulären Funden, die sozusagen von außen Fragen aufwerfen; dabei kann es um die Bestimmung gehen (wie bei dem genannten angeblichen Caesarkopf im Fluß), oder es kann die Echtheit strittig sein – das gilt etwa für den Artemidor-Papyrus, der sogleich in den Feuilletons Aufmerksamkeit gefunden hat, obwohl die kontroverse fachliche Diskussion hier auf eine besonders kleine Gruppe von Papyrologen und Paläographen beschränkt bleiben muß. Schlicht als unkontroverse Sensation hat es der Pferdekopf einer vergoldeten Reiterstatue des Augustus, der 2009 in Waldgirmes gefunden wurde, sogar auf die Erste Seite der FAZ geschafft.
Was nun die ganz ‘normalen‘, längerfristigen Forschungsprojekte angeht: Gute Chancen hat, vereinfacht gesagt, wer eine These präsentieren kann, die mit scheinbar kanonischen Vorstellungen oder wissenschaftlichen Konsensen bricht, und dann das neue Bild auch sinnfällig machen kann. Gegenstände aus der Klassischen Archäologie haben daher einen klaren Vorteil gegenüber texthermeutisch gewonnenen Ergebnissen. So sind aus der Feder von Michael Siebler in der FAZ immer wieder Artikel zur Ausstellung Bunte Götter erschienen, die dem Leiter des einschlägigen Forschungsprojektes, Vinzenz Brinkmann, relativ ungefiltert Gelegenheit gaben, seine Sicht der Polychromie antiker Plastik in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen. Zuletzt ist freilich Sieblers ‘Nachfolger‘ von der Fixierung auf das Aussehen der ‘fabrikneuen‘ Figuren abgerückt und hat den Blick wieder stärker auf die rezeptionsästhetische Dimension geworfen.
Unabhängig von der Frage, wie der Kontakt zwischen Forschern und Journalisten im Einzelfall zustandekommt – beide können sich in einer win-win-Situation sehen: Der Forscher erhält privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit, der Journalist wird mit exklusiven Informationen und Bildern versorgt. Das ist keineswegs zu beanstanden, solange nicht der Blick auf konkurrierende Interpretationen verstellt und der Leser dauerhaft einseitig informiert wird.
Neben Redakteuren und journalistischen Mitarbeitern mit einschlägigen Interessen erhalten auch immer wieder Altertumswissenschaftler direkt Gelegenheit, sich zu äußern. Naheliegenderweise setzen die Redaktionen dabei eher auf einen kleinen Kreis von Federn, die relativ regelmäßig angefragt werden. So hat der Marburger Althistoriker Karl Christ in vierzehn Jahren etwa 100 Rezensionen und Artikel in der FAZ geschrieben, und in den Geisteswissenschaften desselben Blattes erhält der Bonner Klassische Archäologe Nikolaus Himmelmann seit 1992 Gelegenheit, seine Interpretationen antiker Porträts und Plastiken vorzutragen. Man setzt auf Verläßlichkeit für die Redaktion und Wiedererkennbarkeit für die Leser. Doch die Anbahnung solcher langjähriger Zusammenarbeit ist ebenfalls meistens kontingent.
3. Aussichten
Gibt es neue Trends? Vielleicht. Susann Wagenknecht hat kürzlich analysiert, wie sich 2001/02 der Streit zwischen Manfred Korfmann und Joachim Latacz auf der einen, Frank Kolb und Teilen der Althistorie auf der anderen Seite im Feuilleton der FAZ entwickelte. Von bewußtem Agenda-Setting konnte noch keine Rede sein; „die Debatte kommt in der FAZ anfangs nur zögernd in Gang.“ Erst später, dann aber reichlich gab man, in verschiedenen Formaten, Vertretern beider Positionen und einigen abseitsstehenden Experten Raum. „Die Troia-Debatte gibt dem Feuilleton die Möglichkeit, sich selbst zum Ereignis zu stilisieren. Sie wird dem Leser als Kontroverse präsentiert, die – sozusagen live – in der Zeitung stattfindet. Die strittigen Positionen werden in feuilletonistischer Manier zugespitzt. Das vermittelnd-berichtende Moment der Wissenschaftspopularisierung tritt dabei in den Hintergrund.“
Ende 2007 gelang es dem FAZ-Feuilleton mit Raoul Schrotts langem Artikel dann, von Anfang an ein Thema zu setzen und das Ensemble von wissenschaftlicher These (Homer in Kilikien) und poetischer Orchestrierung (Schrotts Ilias-Übersetzung) durch eine politisch lesbare historische These aufzuladen: Eine Woche nach Schrotts Artikel erschien auf Seite eins ein Kommentar von Dieter Bartetzko unter dem Titel „Wir sind Kinder des Orients“.
Nach meiner Einschätzung bedarf es – neben einer halbwegs kontinuierlichen Berichterstattung – solcher aktiver, thesenhafter Themensetzungen, um zeigen zu können, welche Funken sich aus der Antike schlagen lassen. Ob es dazu kommen wird, muß ich offenlassen. 2500 Jahre Marathon blieben – Berthold Seewald rühmend ausgenommen – unberühmt. Ob sich Augustus 2014 noch einmal kontrovers ins Gedächtnis rufen läßt? Oder harren wir aus bis 2020 und sehen, was mit Salamis anzufangen ist? M.E. dürfen wir Altertumswissenschaft nicht auf Anfragen warten. Wer der Ansicht ist, daß unsere Forschung nicht selbstreferentiell ist, sondern sich aus einem gesamtgesellschaftlichen Orientierungsbedürfnis und einem humanistischen Kredit speist, darf nicht darauf verzichten, auch ‘Sinn‘ anzubieten. Dies im Medium Zeitung zu tun, zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche und zur Pointierung. Das aber sollte zu leisten sein.
Kein Zweifel, wir haben uns...
Kein Zweifel, wir haben uns die Antike als „unsere“ Vergangenheit völlig zu eigen gemacht. Unsere Kultur baut auf den bewunderten Vorbildern der Antike auf, unsere Architektur, Kunst und Literatur bilden sich an ihr. Die ganze Re-Naissance war eine einzige Wiedergeburt der Antike. Wo wäre Goethes Weimar ohne den Geist der Antike, der alles umwob? Aus historischer Perspektive mag es Fiktion sein, doch ohne diese Fiktion könnten wir nicht mehr leben.
Lieber Herr Walter,
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im Sinne...
Lieber Herr Walter,
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im Sinne Immanuel Kants darf ich mich fragen, ob und für wen es eigentlich ein Selbstzweck sein soll, dass die Antike so oft wie möglich „dick und fett in die Zeitung kommt“. Ein PR-Berater des Althistoriker-Fachverbandes mag da seine Räson haben, aber warum sollte ich mir diese zu eigenmachen?
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Ich würde schon darauf bestehen, dass die öffentliche Beschäftigung mit der Antike irgendwas zur Aufklärung, und damit auch zum besseren Verständnis der eigenen Gegenwart beitragen sollte.
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Mit debilen Parolen nach der Art von „Wir sind Kinder von…“, lässen sich Wildsäue übers Forum treiben, doch keine sinnvolle Debatte evozieren. Das Ergebnis wird sein, dass sich die wenigen interessierten Laien auch noch angewidert abwenden.
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Überhaupt sollten Sie den Gebrauch des Wortes „WIR“ vermeiden. Wenn der Schulunterricht aus guten Gründen davon abgerückt ist, den Kindern die Protagonisten als „unsere Vorfahren“ vorzustellen, dann müssen publikumsgeile Akademiker das jetzt nicht wieder einführen.
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Die „Orientierungsbedürfnisse“, die mit dem Gebrauch des Wortes „WIR“ verbunden sind, sollte man vielleicht lieber ganz unbefriedigt lassen. Dann lieber gar keine Althistoriker in der Zeitung als solche, die uns erklären, von wem „WIR“ abstammen und wer „WIR“ folglich sind oder sein sollten.
Spätestens wenn Inhalte des...
Spätestens wenn Inhalte des EPIKUR-Projekts (= E.volutions-P.rojekt-I.nformierte, K.ultur-U.topie-R.ealisierungs–Projekt) öffentlich bekannt werden, und das Ende der Systemkrise des weltindustriellen Fortschritts absehbar ist, werden die Finanzmarkt- und Feuilleton-Redaktionen um die Wette schreiben, um die finanzmarkt-spekulativen wie die antiken Wurzeln der nun sich evolutionsprozess-logisch realisierenden Weltordnung-des-KREATIVEN-statt-der-KÄMPFER aufzudecken.
Dann wird sich der obige Blog-Beitrag ‚Antike in Qualitätszeitungen – eine ungebrochene Zuneigung?‘ als Vorahnung des anstehenden Wunders erweisen, das nach Hannah Arendt der ‚Sinn der Politik‘ ist.
Dann wird auch das Orientierungs- und ‚Sinn‘-Angebot der Antikenforschung und -lehre allgemein erkannt werden – und von einem breiten Leser-Publikum mit HEUREKA! begrüßt werden.
Erfüllung satt also für die Aufforderung „Wer der Ansicht ist, daß unsere Forschung nicht selbstreferentiell ist, sondern sich aus einem gesamtgesellschaftlichen Orientierungsbedürfnis und einem humanistischen Kredit speist, darf nicht darauf verzichten, auch ‘Sinn‘ anzubieten. Dies im Medium Zeitung zu tun, zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche und zur Pointierung. Das aber sollte zu leisten sein.“
Mir scheint: Soviel Ahnung, soviel Bloch’scher Vorschein und Aussicht auf ein Wunder ist uns, die wir alle ‚Kinder des Okzidenz‘ sind, noch niemals begegnet. Nun realisiert das ‚mal schön.
Komme mir blöd vor, so eine...
Komme mir blöd vor, so eine Banalität auszusprechen, aber ein wenig Bereitschaft, die eigene politisch-soziale Realität kritisch zu sehen, wäre dem Vorhaben nicht hinderlich. So wie Quidde oder Mommsen das konnten.
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Wenn Sie mich fragen, dann kommt die Irrelevanz der Disziplin daher, dass die meisten Althistoriker und Altphilologen der letzen 50 Jahre politisch der CDU nahestanden bzw. dass ihre politische Haltung sich in einem milden Affirmationsbedürfnis erschöpfte. Aber warum sollte jemand, der die spannenderen Aspekte der eigenen Gegenwart nicht sehen will, sich dann mit antiker Politik genauer auseinandersetzen? Woher soll er den Scharfsinn nehmen, über die etablierten Klischees hinauszugelangen, die Hohlräume hinter den ewig repetierten Phrasengebäuden zu erahnen, in denen sich womöglich noch Erkenntnisschätze verbergen?
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Es ist nur logisch, wenn die dazu Unfähigen dann den Ausweg darin suchen, hinter dem Action-Kino oder idiotischen Sarrazindebatten herzuhecheln, wenn nicht gerade ein seniler Spiegel-Herausgeber einem den Gefallen tut, den Trojanischen Krieg neu anzuzetteln.
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Wir wäre es denn mal damit: Wir beweisen die Nicht-Identität der heutigen Griechen mit den antiken Griechen anhand von GEN-Proben und begründen genau damit die Forderung nach Umschuldung. Damit kämen Sie in die Medien sag ich Ihnen.
[Ironischer Witz! <bevor das...]
[Ironischer Witz!
@ Hans Meier: Natürlich sind...
@ Hans Meier: Natürlich sind es andere Volksstämme, die heute das Land bewohnen, wo vor 2500 Jahren die klassischen Griechen lebten — ebenso wenig wie wir von den nomadischen Steppenvölkern abstammen, die damals unser Gebiet bewohnten und längst weiter zogen. Wir haben uns nur die altgriechische Kultur zu eigen gemacht, nicht etwa die heutige.
Anmerkungen zum Antike-Bild in...
Anmerkungen zum Antike-Bild in den Medien:
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a) Archäologie-Lastigkeit
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Zunächst fällt auf, dass sich die Beschäftigung in der Antike immer wieder an archäologischen Sachverhalten festmacht, und leider auch bei diesen verharrt. Ausgrabungen in Troja, die Himmelsscheibe, Schächte in Pyramiden: Ein Hauptmotiv ist die Schatzsuche, das Finden von Gegenständen. Von Sachen. Von Dingen. Die Texte jedoch stehen im Hintergrund und bleiben unbelebt.
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Dabei sind die antiken Texte das wahre Erbe. Die Bauten und Skulpturen sind sekundär, eine schöne Ergänzung. Wenn ich aber weiß, was Platon und Aristoteles gesagt haben, kann man mir viel erzählen, dass die neu entdeckte Buntheit der Götter klassische Ideale zerstört hätte – ich weiß es besser, denn Sprache ist das bessere Bild. Aber ein Bild, das immer blasser wird, während man die Gegenstände immer bunter macht.
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b) Maskierte moderne ideologische Kämpfe
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Ohne jeden Zweifel maskieren sich moderne ideologische Kämpfe hinter der Darstellung der Antike heute. Die Antike wird missbraucht statt benutzt. Wer für den Beitritt einer nicht hinreichend reformierten Türkei zur EU ist, macht aus Troja eine „anatolische“ Handelsmetropole. Oder er sucht Troja mit Schrott gleich in Kilikien, um unsere westliche Kultur „von Osten her“ zu denken. Antike Theaterstücke werden meist „modernisiert“ statt aktualisiert: Chor und Chorführer als Hitlerjungen mit Führergestalt sind mir aus Frankfurt noch „gut“ in Erinnerung. Selbst an Brinkmanns bunten Göttern kann man dies immer wieder studieren, auch wenn Brinkmann selbst das vielleicht nicht so sagen würde: Anhand der Ersetzung des klassischen Weiß durch die „wilde“ (?) Buntheit propagieren manche den Sturz des klassischen Ideals. Die Feinde der Aufklärung sind sehr erfinderisch.
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Ein Kennzeichen dieser ideologischen Debatten ist, dass sie ihre ideologische Motivation zu verbergen suchen. Dass die Türkei sich als europäisch legitimieren will verbinden die wenigsten mit Korfmanns Troja-Grabungen. Mit dem Buch von Kolb und dem Ende des blind machenden Wohlstandes dürfte sich das vielleicht langsam ändern. Dass Schrott ein übler Kulturrelativist ist, dem niemals hätte Raum gegeben werden dürfen, hätte ich auch nicht gedacht, hätte ich es nicht live erlebt. Im angelsächsischen Raum geht man offener mit solchen Fragen um: Anlässlich des Films „300“ wurde dort die Frage gestellt, ob man hier nicht die falschen Helden ehrt: Die Sieger von Marathon und Salamis wären eher wert, unsere Vorbilder zu sein, meinte man dort richtigerweise.
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Ganz unglücklich wird es bei der deutschen antiken Geschichte: Arminius darf niemals nicht etwas mit uns Deutschen zu tun haben – Gottseibeiuns! (aber Troja mit den Türken?!) – und wenn das bezahlte und wie üblich unauffällige Sicherheitspersonal einer Keltenausstellung zufällig private Affinitäten zur NPD hat, überschreitet die öffentliche Empörung jede vernünftige und menschenrechtliche Grenze. Maß wäre eine Tugend der Alten, von der man mit Gewissheit sagen kann, dass sie heute fehlt: Ein direktes Versagen des Feuilletons.
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Wer keine eigene, normal selbstbewusste Identität zulassen will, kann auch keine gute Wissenschaft betreiben und sie auch nicht zutreffend öffentlich darstellen. Am Misslichsten wird dies leider beim Umgang mit der antiken Aufklärung mit Zentrum in Athen deutlich. Nur um niemandem auf den Schlips zu treten wird hier das Beste und Edelste niedergedrückt auf Augenhöhe mit geschlossenen Gesellschaftsmodellen, mit Tyrannei und Despotie. Fast hat man sich daran gewöhnt, dass man nur ein gebrochener Deutscher sein darf, aber bei der gebrochenen Aufklärung hört der Spaß dann langsam auf.
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Dabei wäre es so einfach: Die Antike und ihre Aufklärung „gehört“ ja nicht dem Westen, er hat sie nur als erster wiederentdeckt. Jeder andere Kulturkreis kann sie ebenfalls für sich entdecken, und die meisten Kulturkreise tun dies auch nach und nach. Wieso sollte man Nachzügler in der Entdeckung von Antike und Aufklärung in ihrer Zögerlichkeit auch noch bestärken? Da Antike und Aufklärung die Menschlichkeit repräsentieren, wäre dieses Verhalten unmenschlich.
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c) Aufgabe öffentlicher Antike-Darstellung.
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In der antiken Aufklärung hat sich Grundlegendes und Überzeitliches initial und zugleich in exemplarischer Form manifestiert. Dieses ist bleibend wertvoll, weil es dem Menschen entscheidend dabei hilft, besser Mensch zu sein. Deshalb muss es immer wieder neu vergegenwärtigt werden. Dazu gehört auch, die Menschen zum Lesen antiker Texte zu bringen. Zum einen über die Forderung, dass die Schule hier einen Kanon abarbeitet. Zum anderen über die direkte Ansprache des Medien-Rezipienten. Der Eingang antiken Denkens in Geschichte und Gegenwart wäre aufzuzeigen. Der Missbrauch der Antike ist zu entlarven. Usw. usf. Den Journalisten von heute fehlt aber jede Kompetenz dazu.
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d) Umgang mit spätantiken Religionen
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Wenn es um die Bibel geht, überbieten sich alle darin, die geschilderten Begebenheiten als theopolitische Texte jenseits aller Historie zu entlarven. Das ist ja auch nicht falsch. Aber wenn es um eine ganz bestimmte Religion geht, ist der ganze aufklärerische Impuls wie weggeblasen, und blumige Geschichten werden als Historie präsentiert. Dabei begegnet einem bei aufmerksamer Lektüre z.B. Platon auf Schritt und Tritt. Liegt es daran, dass die Journalisten nicht wirklich aufgeklärt sind, sondern nur an die Aufklärung „glauben“, so wie religiöse Menschen an eine Religion glauben? Oder liegt es daran, dass sie Angst haben? Oder liegt es daran, dass sie glauben, durch Lüge „Menschlichkeit“ gegenüber empfindlichen Menschen zu beweisen? Oder gibt es in manchen Redaktionen politische Anweisungen, die zu befolgen sind?
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Ich meine, es ist vor allem das Erstere: Aufgeklärt tun und aufgeklärt sein ist nicht dasselbe. Unsere Journalisten sind ein jämmerlich gläubiger Haufen. Und sie wissen es noch nicht einmal. Tiefer im Glauben kann man nicht verstrickt sein. Ausnahmen bestätigen die Regel. Was im Journalismus gefördert werden müsste, wäre das Eigenartige, das Gesonderte in der Meinung. Querdenker bringen den Geist auf Trab.
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e) Atlantis
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Das Schöne am Thema Atlantis ist, dass man wunderbar sehen kann, wie viele Menschen, auch eigentlich intelligente Menschen, sich in unmöglichste Argumentationen versteigen. Ich meine nicht die sattsam bekannten Pseudowissenschaftler. Die natürlich auch. Ich meine auch Journalisten und Wissenschaftler, die mit völlig kruden und verkürzten Argumenten von einer Erfindung sprechen. Hier zeigt sich dann, wer wirklich Ahnung hat, wer wirklich in der Lage ist, abzuschätzen, was möglich und was nicht möglich ist. Wer begriffen hat, wie man Texte deuten darf und wie nicht, wie aus dem Kontext der antiken Menschen heraus zu denken ist, und wie dieser Kontext eigentlich aussah, und was im Rahmen dieses Kontextes möglich ist. An Atlantis scheitern alle. Die einen wollen es vorschnell gefunden haben, die anderen verwerfen es vorschnell als Erfindung. Und was Platon unter mythos und logos verstand, weiß sowieso kaum einer, hier kommt man in den Kohlenkeller unserer Kultur, wohin sich kaum einer je begibt, obwohl hier das Feuer unterm Kessel brennt. Ein Probierstein des Gehirns könnte man mit Goethe sagen.
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Atlantis taucht mit schöner Regelmäßigkeit in den Medien auf. Es wäre nicht unsinnig, die Qualität des Umgangs mit dem Thema Atlantis als einen generell brauchbaren Maßstab zur Bewertung der Qualität des Umgangs mit dem Thema Antike in den Medien überhaupt zu definieren.
@franket
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Aufklärung und...
@franket
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Aufklärung und Identität schließen sich gegenseitig aus.
@HansMeier555:
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Sie...
@HansMeier555:
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Sie schrieben:
> Aufklärung und Identität schließen sich gegenseitig aus.
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Da Sie angeblich keine Identität haben (denn aufgeklärt wollen Sie ja sein?), sondern vorgeben, ein gesichtsloses Etwas zu sein, noch nicht einmal ein Mensch, denn auch das wäre schon Identität, also ein Etwas, das prinzipiell nicht definierbar ist, wer sind Sie dann überhaupt und mit welchem Recht posten Sie hier Beiträge, und wie wollen Sie beanspruchen, aufgeklärt zu sein, da ja auch dies bereits ein identitäres Merkmal wäre?
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Sie befinden sich in der tiefsten, selbstverschuldeten Unmündigkeit.
@franknet
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Manchmal steht die...
@franknet
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Manchmal steht die Schrift einfach so an der Wand, ohne Urheber und Absender.
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Aber im Ernst: Sie können nicht beides wollen, nach Wahrheit streben oder eine kollektive (nationale) Identität stiften. Da ist ein Zielkonflikt. Im übrigen sage ich ja gar nicht, dass Aufklärung immer nur was Gutes ist. Hin und wieder muß der Mensch auch mal ins Fußballstadion und das unbeschreibliche Gefühl geniessen, Teil einer 20.000köpfigen Menge zu sein, die einen Elfmeter fordert.
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Das verstehe ich sehr gut, und ich verstehe auch, dass es armselige Spielverderberei wäre, der Menge jetzt zu erklären, was sie sowieso weiß, nämlich dass sich ihr Mittelstürmer hinfallen ließ und darum zu Recht keinen Elfmeter bekommt. Die Menge hat das Recht, sich wider besseres Wissen viehisch brüllen zu hören, denn ohne dem hätte das Gemeinwesen keinen Bestand. Das verstehe ich sehr gut, nur um eines möchte ich Sie bitten: Nennen Sie das alles nicht „Aufklärung“. Geben Sie lieber offen zu, dass Ihnen der „nationale Zusammenhalt“ im Zweifelsfall eben wichtiger ist als die Aufklärung oder ein Zuviel an Wahrheit.