Antike und Abendland

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Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Lateinabitur gestern, heute – und morgen?

| 17 Lesermeinungen

Die Sommerferien haben fast überall begonnen, die Abiturprüfungen sind längst absolviert. Wieder haben einige Vorkommnisse es in die kleinen Meldungen der...

Die Sommerferien haben fast überall begonnen, die Abiturprüfungen sind längst absolviert. Wieder haben einige Vorkommnisse es in die kleinen Meldungen der Zeitungen geschafft: Aufgaben wurden verloren oder erwiesen sich als fehlerhaft, Noten mußten pauschal angehoben werden, um breite Kenntnisdefizite zu verdecken. Meist beziehen sich solche Nachrichten auf Deutsch oder Mathematik; Latein kommt nur sehr selten vor. Dabei legen die hier im Abitur erbrachten Leistungen eine Frage nahe, die sich bei anderen Fächern in dieser Schroffheit nicht stellt – obwohl auch die dort am Ende von zwölf oder dreizehn Jahren aufgewiesenen Kompetenzen oft nicht geeignet sind zu ermutigen: Welches Niveau an Textverständnis muß erreicht werden, damit nicht die Sinnhaftigkeit des ganzen Unterrichts infragesteht. Anders gewendet: Unterhalb welcher Kenntnisse und Fertigkeiten lohnt sich der Lateinunterricht gar nicht mehr?

Es bietet sich an, das Problem zu historisieren. Rainer Bölling hat dies 2009 in einem Aufsatz getan, der als Vor- und Begleitstudie zu seiner Geschichte des Abiturs gelten kann. Er zitiert den bekannten Münchener Latinisten und Lateintrunkenen Wilfried Stroh, der nach Lektüre von Karl Marx‘ lateinischem Abituraufsatz von 1835 feststellte, kaum einer der heutigen Studenten, die ihr Staatsexamen ablegen, um als Lateinlehrer ans Gymnasium zu gehen, hätte die Chance, auf der Schulbank zusammen mit Karl Marx auch nur das Abitur zu bestehen. Stroh ist ehrlich genug anzuerkennen, welch extremes Übergewicht Latein (und Griechisch) im damaligen Gymnasialcurriculum hatten. Englisch und die Naturwissenschaften spielten kaum eine Rolle. Doch den verschobenen Fächerkanon einmal beiseitegelassen: Was Marx leisten mußte, ist heute kaum mehr vorstellbar: „In einer Augustwoche des Jahres 1835 musste der Siebzehnjährige sieben schriftliche Arbeiten unter Aufsicht abliefern. Jeweils fünf Vormittagsstunden standen für einen deutschen und einen lateinischen Aufsatz sowie eine mathematische Arbeit zur Verfügung. Das Thema des ersten Aufsatzes lautete ‘Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes‘; im zweiten behandelte der Abiturient die Frage, ‚an principatus Augusti merito inter feliciores reipublicae Romanae aetates numeretur‘ (815 Wörter). Je zwei bis drei Stunden dauerte die Übersetzung kürzerer deutscher Texte ins Lateinische und Französische und eines griechischen Textes (37 Verse Sophokles) ins Deutsche. Auf Grund einer Sonderregelung für die Rheinprovinz musste Marx auch noch einen fünfstündigen Religionsaufsatz schreiben. Die mündliche Prüfung fand einen Monat später an drei aufeinanderfolgenden Tagen in einer Gruppe von 14 Schülern statt. Marx wurde in Lateinisch und Griechisch (über je einen Dichter und einen Prosaschriftsteller), in Französisch, Mathematik, Physik, Geschichte und Religion geprüft. Aus verschiedenen Gründen konnten die eigentlich vorgeschriebenen Prüfungen in Deutsch, philosophischer Propädeutik und Naturbeschreibung nicht stattfinden.“ Für knapp drei Generationen, von 1837 bis 1924, nahmen die Lateinstunden zwischen einem knappen Drittel und einem Viertel der Gesamtstundenzahl am Gymnasium ein.

Gegen den lateinischen Aufsatz, den Bölling breit behandelt, erhoben sich schon früh gewichtige Einwände von Pädagogen. Wilhelm II. drang 1890 darauf, ihn abzuschaffen, mit ideologischen Argumenten (‘junge Deutsche erziehen, keine jungen Römer!‘), aber auch eigenen Erfahrungen: In seiner Schulzeit seien die meisten lateinischen Aufsätze nicht mit regulären Mitteln zustande gekommen. Ersetzt wurde der lateinische Aufsatz sogleich durch die Übersetzung eines deutschen Textes ins Lateinische, das sog. scriptum. Die Texte sollten sich an im Unterricht Gelesenes anlehnen und waren in der Praxis vereinfachte Rückübersetzungen lateinischer Texte. Die formale Durchdringung und Beherrschung der lateinischen Sprache ließ sich auf diesem Weg einüben, und mit Recht sind die dt.-lat. Übersetzungen noch heute Teil des Lateinstudiums. Das Problem war nur, daß dafür viel Zeit aufgewendet wurde, die der interpretierenden Auseinandersetzung mit der sprachlichen Gestalt und den Inhalten der originalen lateinischen Werke abging. Die Vorlagen waren meist auf die Übersetzung hin gefertigt, boten ‘lateinisches Deutsch‘ und waren daher auch nicht geeignet, das Sprachgefühl in der Muttersprache zu schärfen, anders als etwa die Übersetzung einer Horaz-Ode ins Deutsche – zumal wenn parallel im Deutschunterricht muttersprachliche Lyrik behandelt wurde. Mit dem allmählichen Rückgang der Wochenstundenzahl würden auch die scripta kürzer, und es stellte sich mutatis mutandis bereits die gleiche Frage wie heute: Bis zu welchem Minimalumfang und welcher Minimalqualität der Ergebnisse sind Unterricht und Prüfungsumfang noch sinnvoll?

Der Schnitt erfolgte 1926. Nunmehr wurde den Abiturienten ein inhaltlich geschlossener lateinischer Originaltext zur Übersetzung vorgelegt, wobei „eine dem Stilcharakter des Schriftstellers möglichst nahekommende Wiedergabe in guter deutscher Sprache“ erwartet wurde. Die Breite der Lektüre im Unterricht konnte sich jetzt zumindest prinzipiell auch in der Abiturprüfung abbilden, insofern auch poetische Texte von Ovid oder Vergil zur Aufgabe gestellt wurden. Der Umfang des Textes wurde erst 1963 festgelegt (etwa 250 Wörter); seit 1981 galten im Leistungskurs der reformierten Oberstufe 200 Wörter (+/- 10 %) als Norm; hinzu kam eine Interpretationsaufgabe.

Warum seitdem die Noten so viel besser sind als zuvor (2,1 gegenüber 2,9 bis 3,8 in der Zeit von 1927 bis 1980, ermittelt für das von Bölling untersuchte Fallbeispiel des Friedrichs-Gymnasiums in Detmold), wäre sicher eine eigene Untersuchung wert. Vielfach wirkte und wirkt die Interpretationsaufgabe kompensierend: Um sie bearbeiten zu können, erhalten die Prüflinge nach Abgabe ihrer eigenen Übersetzung eine korrekte „Arbeitsübersetzung“. Das mag als fair gelten, weil sonst eine verfehlte eigene Übersetzung den Weg zu einer einsichtsvollen Interpretation verstellt. Andererseits gehören im Fremdsprachenunterricht sprachliches Textverständnis und Interpretation – die ja doch von sprachlichen Beobachtungen ausgehen muß und nicht lediglich Wissen über Realien oder bloßes Meinen aufsatteln sollte – eng zusammen. Passagen aus Caesar, Sallust, Catull oder Ovid nach einer vorgelegten Übersetzung zu interpretieren ist strenggenommen eine Leistung, die zum Deutschunterricht gehört, Kategorie: Kernkompetenz Textverständnis. Mit einem solchen Aufgabendesign haben kürzlich Neuntklässer die Aufgaben des aktuellen Biologieabiturs ordentlich bis gut bewältigt – weil den Aufgabenstellungen alles zu entnehmen war, was ausgeführt werden sollte, und also fachspezifisches Wissen und fachspezifische Kompetenzen gar nicht erforderlich waren.

Jeder an Schulen Latein Unterrichtende weiß, was Bölling lapidar festhält: Daß „die Lateinkenntnisse der Abiturienten heute weit geringer sind als noch vor einem halben Jahrhundert, steht auch nach dieser Untersuchung außer Frage“.

 

Zu einem noch deutlicheren Urteil kommt Diethard Aschoff in einem höchst lesenswerten Aufsatz im Forum Classicum, der Vierteljahreszeitschrift des Deutschen Altphilologenverbandes. Er vergleicht lateinische Abituraufgaben von 1905, 1957 und 2009, wobei nur die beiden letzteren – aus den oben skizzierten Gründen – wirklich vergleichbar erscheinen. 1957 mußte der Abiturient mit dem Text zurechtkommen, der ihm vorge­setzt wurde, ohne lateinisch-deutsches Wörterbuch, 2009 konnte er unter drei Texten den wählen, der ihm am leichtesten vorkam, dazu aus drei ihm bekannten Autoren, für die eigens auf Grund eines umfangreichen Vorbereitungsbuches geübt wurde, und in der Prüfung konnte selbstverständlich ein Wörterbuch benutzt werden. Die beispielhaft vorgestellte Abiturklasse 1957 hatte den in der Prüfung präsentierten Seneca nie gelesen. 2009 wurde ein gegenüber 1957 um weit mehr als ein Drittel (182 gegenüber 288 Wörter) kürzerer Lateintext zur Übersetzung gestellt, daneben aber eine vierteilige Interpretation. Das Lateinabitur 1957 wurde von allen Schülern mit Latein übersetzt, 2009 wurde die verglichene Aufgabe nur vom Leistungskurs Latein bearbeitet. Auch zur Interpretationsaufgabe (s.o.) hat der Autor Erhellendes zu sagen: „Im übrigen wird in dem genannten Vorbe­reitungsbuch S. VII – XIX alles für die Klausur Wesentliche für die drei Abiturautoren Cicero, Seneca und Vergil so aufbereitet, dass mit der Wiederholung der hier aufbereiteten, am besten auswendig zu lernenden Inhalte die Interpreta­tionsaufgaben leicht gelöst werden können. Eine gute Note ist kaum zu verfehlen. (…) Übersetzung und Interpretation werden heute für die Notenfindung im Verhältnis 2/3 zu 1/3 gewertet. Dies hat eine fast absurde Konsequenz: Rein theoretisch brauchte man 2009 fast kein Latein mehr, um das Abitur zu bestehen. Gesetzt den Fall, man brächte im Übersetzungsteil kein Wort zu Papier, musste also hier nach der früheren Benotung zweimal mit ‘Ungenügend‘ (6) bewer­tet werden. Holte man aber dafür mit Hilfe des Arbeitstextes jedoch das Optimum aus den Inter­pretationsaufgaben heraus, würde hier also mit ‘sehr gut‘ (1) abschneiden, käme man auf 13 (aus 2×6 für Übersetzung, 1×1 für Interpretation) dividiert durch 3, was ein ‘Ausreichend minus‘ ergäbe.“

Die Folgerung mit Blick auf die eingangs gestellte Frage ergibt sich beinahe zwangsläufig: „Der tatsächliche Nutzeffekt der in Hessen und anderswo in Deutschland erworbenen Lateinkenntnisse ist in der heutigen reduzierten Form so gering, dass sich die Frage nach dem Sinn eines solchen Spracherwerbs stellt. Mit Kenntnis­sen, wie sie ein Leistungskurs im Fach Latein in Hessen (und wohl auch in den meisten anderen Ländern der Bundesrepublik) voraussetzt, ist weder Staat zu machen noch viel Nutzen verbun­den. Die geringen philosophisch-historischen Kenntnisse, die bei der Interpretation gefordert werden, sind, wenn man überhaupt auf diese Wert legt, besser in deutscher Sprache darzulegen, (…).

Die nächste Stufe der Entwicklung, wenn es überhaupt noch eine gibt, sind ohne Zweifel latei­nisch-deutsche Texte, die nur noch interpretiert werden. Sollte sich dies fortsetzen, dürfte es nach weiteren 50 Jahren kein lateinisches Abitur mehr geben, vom griechischen ganz zu schweigen.“

Doch auch Aschoff macht nach der Prognose weiterer Dekadenz Verbesserungsvorschläge, über deren Zweckmäßigkeit und Wirklichkeitshaltigkeit Fachleute streiten mögen. Hier und da, zumal an den Altsprachlichen Gymnasien, sind die Ergebnisse auch gewiß besser, wie die jährlichen Fremdsprachenwettbewerbe und die Arbeit mit manchen Studierenden zeigt. Auch gibt es zwischen den Ländern Unterschiede, dem Bildungsföderalismus geschuldet, ohne den alles noch viel schlimmer wäre. Allerdings entspricht es auch meinem Eindruck, daß in Deutschland noch nie so viele Schülerinnen und Schüler mit in der Breite so enttäuschenden Ergebnissen Latein gelernt haben. Vielleicht sollte es hingenommen werden, daß die Zahlen etwas kleiner werden, aber die Voraussetzungen besser. Dazu gehört sicher eine vermehrte Stundenzahl im Sinne einer Profilbildung. In der Tat, darin ist Aschoff zuzustimmen, müssen die Bedingungen so gestaltet sein, daß eine Schülerin, ein Schüler die angestrebte Übersetzungsfähigkeit im Abitur erreichen kann, ohne Interpretationsklimbim zum Kaschieren mangelnden Textverständnisses. „Bei einer weiteren Reduzierung der Stunden kann nicht einmal der nach unten hin erreichte, ja wohl schon unterschrittene Mindeststandard gehalten werden. Jenseits dieses Maßes hat das Lateinlernen keinen Sinn mehr.“


17 Lesermeinungen

  1. kcw1 sagt:

    Vielleicht ist es tatsächlich...
    Vielleicht ist es tatsächlich an der Zeit sich über die Sinnhaftigkeit des Erlernens toter Sprachen in Anbetracht eines hoffnungslos überfrachteten Lehrplans Gedanken zu machen. Wem nutzt es lateinische Sprachrudimente zu erlernen, welche nur zum Vergessen taugen? Als Lingua franca hat Latein schon lange ausgedient. Mir hat das Große Latinum nie, auch nicht im Medizinstudium geholfen. Das ich mit Latein als zweiter Fremdsprache französisch unzureichend beherrsche schmerzt mich allerdings sehr. Die kleine Zahl derer, welche sich zum „klassischen Philologen“ berufen fühlt wird, wie Sie richtig bemerken, mit dem Schullatein sowieso nicht ernstlich weiterkommen. Obwohl vielleicht nicht Ihrer Intention entsprechend ist der Blog als Grabrede auf den Lateinunterricht an Schulen durchaus überzeugend.

  2. W.Streffing sagt:

    W.Str.
    Der These Uwe Walters,...

    W.Str.
    Der These Uwe Walters, dass die Ansprüche im Lateinuntericht inzwischen in einem Ausmaße gesenkt worden sind, dass am Sinn des Lateinunterrichts ernstlich gezweifelt werden muss, ist nicht zu widersprechen.
    Herr Prof. Walter irrt jedoch in zwei Punkten: 1) Das Verhältnis von Übersetzung und Interpretationsaufgabe ist nicht im Verhältnis 2:3 oder 1:2 zu bewerten, sondern in der gymnasialen Oberstufe im Verhältnis 2:1.
    2) Grundlage der Interpretationsaufgabe ist nicht eine „korrekte Arbeitsübersetzung“ – deren Erhalten würden die meisten Schüler in eine Art Schockstarre verswetzen, angesichts ihrer fehlerhaften Abweichungen von der richtigen Übersetzung -, sondern die Übersetzung, die dem Schüler gelungen, oder eher: misslungen ist. Darum sollten nur solche Aufgaben gestellt werden, die nicht durchweg ein korrektes Textverständnis voraussetzen.

  3. HansMeier555 sagt:

    Das dümmste Argument ist...
    Das dümmste Argument ist immer, dass man „tote Sprachen ja im Beruf nicht braucht“.
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    Als ob man ausser simple english überhaupt irgendeine fremde Sprache bräuchte. Französisch, Spanisch, Russisch, nix davon braucht irgendjemand wirklich.
    Geschäftliche VErhandlungen werden weltweit auf simple english geführt und das Personal im Strandhotel versteht auch deutsch.
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    Konsequenterweise wird in den USA auch schon gefordert, den Fremdsprachenunterricht ganz abzuschaffen.
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    Überflüssig zu sagen, dass man später auch keine höhere Mathematik, klassische Musik oder Sport braucht, ebensowenig muss noch irgendjemand zeichnen oder malen können.
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    Wollte man den Stoff auf das reduzieren, was der normale Schüler später im ARbeitsleben wirklich braucht, so wäre der Lehrplan kurz:
    1. Simple english
    2. Microsoft Office (Word, Excel, etc.)
    3. Fotoshop (Bildbearbeitungssoftware)
    4. Kfz-Führerschein
    5. Hauswirtschaft
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    Das war’s. Mehr braucht man normal nicht und wenn doch, könnte man es noch später auf einer Berufsschule, Fachschule oder Fachhochschule lernen, je nach Branche.
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    Alles was darüber hinaus gelernt wird, ist purer gesellschaftlicher Bildungsluxus, auf den die bildungsfernen Mittelschichten lieber heute als morgen verzichten würden.
    Wenn der liebe Gott sie strafen will und ihren Wunsch erfüllt, dann führt er morgen wieder die 8-klassige Volksschule ein, die sich am obigen Programm orientieren wird.

  4. franket sagt:

    Der Einwand von Kaiser Wilhelm...
    Der Einwand von Kaiser Wilhelm II. (‚junge Deutsche erziehen, keine jungen Römer!‘) ist gar nicht so ideologisch, wie der Beitrag meint; man muss ihn nur etwas umformulieren, und schon wird ein Schuh daraus:
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    „moderne Menschen erziehen, keine alten Römer“.
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    In der Tat muss es darum gehen, was Latein für den modernen Menschen zu bieten hat. Und hier wiederum steht an erster Stelle Geist und Inhalt, nicht so sehr die Sprache. Der wohlverstandene Lateinunterricht hat immer schon die Rolle eines Humanismus-Unterrichtes gespielt. Es spricht in der Tat nichts dagegen und alles dafür, ein Fach Humanismus für alle Schüler einzurichten, in dem antike Texte in Übersetzung gelesen werden und Interpretation geübt wird. Mit allen Implikationen für Kultur, Literatur, Geschichte, Recht, Politik, Religion, Philosophie … – mit einem Wort: Humanismus eben. Das ganze hätte auch einen gewaltigen integrativen Effekt für die Gesellschaft.
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    Und ich werde nicht müde zu betonen: Wer erst einmal an den Ideen Blut geleckt hat, wird auch die Sprache lernen wollen. Das hört man auch sonst immer wieder: Wie jemand von einem Autor, einem Dichter, so begeistert war, dass er gerade deshalb die Originalsprache gelernt hat.
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    Lateinlehrer müssen auch nicht um ihre Posten bangen: Als Humanismuslehrer sind ihre Arbeitsplätze auf Jahre hinaus gesichert.
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    Es könnte dann nur eine „dumme“ Sache passieren: Dass die interessierten Schüler zuerst … Griechisch (!) lernen wollen … und später vielleicht dann auch noch Latein, wenn überhaupt. Nun ja, eine Katastrophe würde ich das nicht nennen 🙂

  5. lberges sagt:

    Das Argument „Tote Sprachen...
    Das Argument „Tote Sprachen braucht man im Beruf nicht“ ist ja unvollständig. Man braucht sie auch nicht im Studium, in der Freizeit und nicht nach dem Beruf. Man braucht sie überhaupt nicht.
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    Die Zeiten von Latein sind vorbei. Wie der Artikel ausführt, werden die Rückzugsgefechte ja schon seit 100 Jahren geführt. Hoffentlich ist bald Schluß.
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    Was vielen Leuten völlig abgeht: Mathematik – nicht die höhere, sondern die simple Mathematik (Dreisatz, Prozente, bisschen Geometrie und Algebra). Erstaunlich wie viele Menschen da versagen, egal ob 10 oder 13 Jahre Mathematikunterricht.
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    Außer Englisch, Office (Powerpoint!) und Führerschein sind da ja auch noch die deutsche Sprache, Geschichte und Geographie, Biologie und Chemie. Schwimmen lernen ist auch nützlich.
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    Wenn Latein, Religion, Französisch, Kunsterziehung und Musik vom Lehrplan verschwinden, ist vielleicht Platz für neue Themen. Die Liste: Deutsch – Mathematik – Englisch – Geschichte/Geographie – Bio/Chemie/Physik kann man durchaus um die Grundlagen der Informatik, Gesundheit, Politik/Recht und Geld ergänzen.

  6. HansMeier555 sagt:

    Um die deutsche Bildungsmisere...
    Um die deutsche Bildungsmisere zu verstehen, muss man die Mentalität der bildungsfernen Mittel- und Oberschichten kennen, die hierzulande politisch den Ton angeben.
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    Für sie ist Bildung immer nur eine Qual gewesen, weder Mathe noch Griechisch konnte sie je begeistern. Aber sie haben früh akzeptiert, dass man gute Noten eben haben muß und sich entsprechend gequält. (So wie sie später in die Oper quälen werden, weil sich das halt so gehört).
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    So absurd ihnen die Vorstellung ist, jahrelang an einer Dissertation zu sitzen, so neidisch schielen sie auf den Doktortitel.
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    Was die Akademiker im Umgang mit Politikern so hilflos macht, ist ihr Mangel an Zynismus. Sie wollen das offensichtliche nicht sehen, nämlich dass die Politiker innerlich (genau wie das Elektorat) zutiefst bildungsfern und bildungsfeindlich eingestellt sind. Die brauchen keine Theater in der Stadt, die haben DVDs zu Hause. Bildungseinrichtungen schätzen sie ausschließlich als Prestigefetisch: Darum dieses affige Getue um „Brillianz“, „Elite“, „Alumni“, „Gala-Buffet“, „Exzellenz“, etc.: Bildungs-Glamour. (Von Burschenschaften schweigen wir lieber).
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    Die armen naiven Akademiker fallen immer aufs neue drauf rein, wenn ein Politiker ihnen sagt, er wolle Bildung und Forschung fördern, etc. — Die wollen das nicht. Die wollen nur den Prestigefetisch, können das aber nicht zugeben.
    Sie wollen eine kleine hübsche, „Elite-Uni“, in schöner Lage mit repräsentativer Architektur, mit ein paar akademischen Stars als Professoren („weltberühmt“, „Nobelpreisträger“, „kam im Fernsehen…“), wo sie selber dann auch alle Vorträge halten, Ehrendoktorhüte entgegennehmen und ihre Freunde aus der Wirtschaft zum Spendenabdrücken vorbeischicken können.
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    Daher kommt die große Verlogenheit der Bildungsdebatte und der Bildungspolitik. Das ist wie der öffentliche Kirchgang im Sonntagsstaat bei einer Familie, in der längst niemand mehr an Gott glaubt.
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    Darum würde ich für einen heilsamen Schnitt plädieren:
    1. Wir geben offen zu, dass die allermeisten Bildungsinhalte KEINE wirtschaftliche Relevanz haben, dass sie zur Produktivitätssteigerung NICHTS beitragen, den Standort Deutschland NICHT attraktiver machen und darum auch keinesfalls als „Investitition“ in künftigen ökonomischen Erfolg angesehen werden dürfen.
    2. Wir geben offen zu, dass die Bildung nicht „Investition“ ist, sondern Konsum, eine Steigerung der Lebensqualität für diejenige Minderheit, die mit Bildung was anfangen kann, eine Form des öffentlichen Reichtums, den wir uns eben leisten, weil wir dafür reich genug sind und uns dafür entschieden haben. Weil wir uns als eine Gesellschaft, als eine Kultur definieren, in der jeder, der trotz allem Latein oder Griechisch lernen will, dies auf Staatskosten tun kann. Weil das (Gruß an franket) halt zu unserer „Identität“ dazu gehört. Weil wir, obwohl das einfacher wäre, nicht einfach mit den Fingern essen, sondern lieber mit Messer und Gabel, obwohl man das erst mühsam lernen muß.
    3. Wir weisen die bodenständige bildungsferne Mittelschicht darauf hin, dass sich die Kosten für diese Art des Konsums in Grenzen halten, ja um Größenordnungen geringer sind als der allwöchentliche Polizeieinsatz zum Schutze irgendeines dieser idiotischen Fußballspiele, die dem Elektorat so viel bedeuten und ebenfalls keinen Produktivitätsfortschritt nach sich ziehen.
    4. Wir führen an jedem Gymnasium einen Schmalspur-Zug ein, der den Wünschen und Bedürfnissen der bildungsfernen Mittelschichten am besten entspricht. (Simple english, MS-Office, Kfz-Führerschein). Natürlich kriegt man auch dort ein „Abitur“ (das muß so heißen, das ist ganz ganz wichtig) und es gibt nur zwei Noten (bestanden und nicht bestanden), wobei „bestanden“ jeweils mit 1,5 bewertet wird. Dann hat der bildungsferne Mittelschichtler was er braucht und kann alles, wofür man ihn braucht.
    5. Schüler, die trotz allem noch mehr können wollen, erhalten dazu auf Wunsch die Möglichkeit. Sie können sich selbst den Schwierigkeitsgrad ihrer Griechischübersetzung wählen und, wenn sie wollen, auch Prüfungen ablegen, etc. Solche Zusatzqualifikationen werden ihnen helfen, an einer geisteswissenschaflichten FAkultät einen Studienplatz zu erhalten.

  7. HansMeier555 sagt:

    @Iberges
    Auch lebendige...

    @Iberges
    Auch lebendige Sprachen braucht man überhaupt nicht, das ist ja der Witz.
    Auch die Zeiten von Französisch sind längst vorbei. Kein Mensch braucht französisch, weder in der Freizeit noch nach dem Beruf.

  8. kcw1 sagt:

    Weder der reine Utilitarismus...
    Weder der reine Utilitarismus (contra Latein) noch die humanistische Geistesbildung (pro Latein) können mich überzeugen. Nicht Pidgin-Englisch und Softwarenutzung können primäres Lernziel der Schule sein, ebensowenig philisophische Glasperlenspiele. Es ist längst bekannt, daß z.B. das Spielen eines Musikinstrumentes die Intelligenz steigert und nicht nur elitärer Selbstzweck ist. Das Erlernen einer Sprache dient sicher auch diesem Zweck. Wenn es sich um eine lebende Sprache handelt nutzt es aber zusätzlich der Kommunikation, oder wie man heute sagt: der sozialen Kompetenz.

  9. franket sagt:

    @kcw1:
    Sie scheinen...

    @kcw1:
    Sie scheinen humanistische Geistesbildung mit einem „philosophischen Glasperlenspiel“ zu verwechseln. Das bedaure ich und Sie meinten es vielleicht auch nicht so. Es geht beim Humanismus doch vielmehr um grundlegende, menschliche Bildung und aufgeklärte Orientierung in der Weltwirklichkeit. Wer humanistisch gebildet ist, steht z.B. über den Irrtümern der Zeit und fällt nicht auf die neuesten politischen Moden herein, jedenfalls tendentiell. Dazu braucht man kein Latein, deshalb plädierte ich oben für ein Fach Humanismus für alle Schüler; Latein lernen muss man dazu nicht. Oder glauben Sie, dass der christliche bzw. nun auch islamische Religionsunterricht ausreichend dazu in der Lage ist, Menschen heranzubilden, die eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft gut tragen können? Irgend etwas fehlt da doch …

  10. HansMeier555 sagt:

    @kcw1
    .
    Aha, Musik steigert...

    @kcw1
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    Aha, Musik steigert die Intelligenz. Sagen Studien? Und was wenn nicht?
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    Da gab es mal eine Studie, die herausgefunden haben wollte, dass Leute mehr Geld verdienen, denen als Säugling Mozart vorgespielt wurde.
    Daraufhin hat so ein US-Bundesstaat jedem neugeborenen Kind eine Mozart-CD geschenkt: Um das BIP zu steigern! Irgendwann stellte sich raus, dass die Studie falsch war, daraufhin wurde den Babys der Mozart wieder gestrichen.
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    Was soll man machen, so denken sie eben, die vom Produktivitätswahn besessenen bildungsfernen Mittel- und Oberschichten.
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    Die Vorstellung, dass die Musik durchaus Selbstzweck ist und sein soll, nur halt kein „elitärer“, sondern ein musischer, ästhetischer, kultureller, ist schon gar nicht mehr da.
    Alles muß einen Zweck haben, nur die BIP-Steigerung nicht.

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