Zu Beginn von Platons Staat gibt es eine Unterhaltung zwischen Sokrates, der als Gast ins Haus des wohlhabenden alten Kephalos gekommen ist, und dem Hausherren. Sokrates ist neugierig, ob der offenbar ein Stück ältere Kephalos das Gefühl habe, sich nunmehr im beschwerlichen Teil des Lebens zu befinden. Kephalos antwortet ganz im Geiste des sokratischen Weges zur Erkenntnis, indem er Gespräche und gängige Ansichten anführt: „Oftmals kommen unser mehrere zusammen, die in gleichem Alter stehen, das alte Sprichwort in Ehren haltend. Bei diesen Zusammenkünften nun jammern die meisten von uns, indem sie sich nach den Freuden der Jugend sehnen und der Liebesgenüsse gedenken und der Trinkgelage und Schmause und was es sonst noch ähnliches gibt, und sind verdrießlich, weil sie etwas Großes verloren und damals ein glückliches Leben geführt haben, jetzt aber eigentlich gar keines. Einige beklagen auch die Mißhandlungen des Alters durch die Angehörigen (in der Tat, wer seinen Oikos übergeben hatte und ‘auf dem Altenteil‘ auf die Zuwendung durch Sohn und Schwiegertochter angewiesen war, hatte oft ein schlimmes Los, bis hin zu Schlägen und knapper Kost) und stimmen deshalb über das Alter ein Lied an, was es ihnen alles für Unglück bringe. (…) Nun aber habe ich auch schon andere getroffen, bei denen es nicht so war; namentlich war ich einmal dabei, wie jemand an den Dichter Sophokles die Frage richtete: »Wie sieht’s bei dir aus, Sophokles, mit der Liebe? Vermagst du noch mit einer Frau zu schlafen?« Der antwortete: »Nimm deine Zunge in acht, Mensch; bin ich doch herzlich froh, daß ich davon erlöst bin, wie ein Sklave, der von einem tobsüchtigen und wilden Herrn erlöst worden ist!« Schon damals deuchte mir das wohlgesprochen und auch jetzt nicht minder: denn immerhin hat man im Alter in diesen Beziehungen vollkommenen Frieden und Freiheit. Wenn nämlich die Anspannung durch die Begierden aufgehört hat und sie nachgelassen haben, so wird allerdings das Wort des Sophokles wahr: von sehr zahlreichen tollen (im Sinne von maßlosen, verrückten) Gebietern kommt man los.“
Mag die Dialogszene auf den ersten Blick auch angestaubt und moralinsauer wirken, so gibt sie doch einen tiefen Einblick in das Geheimnis antiker Glückslehren: Mit Verlusten sollte sich der denkende Mensch nicht einfach abfinden; vielmehr gilt es, durch eine Einsicht, die zur Überzeugung wird, im vermeintlichen Verlust – hier der sexuellen Begierde und Potenz des Mannes – einen tatsächlichen Gewinn zu erkennen und die Erwartungen dieser Erkenntnis zu unterwerfen. Glück bemißt sich demnach am jeweils in einer bestimmten Konstellation oder Lebensphase Erreichbaren, nicht daran, was einmal vorhanden war, was der Nachbar hat, man selbst aber nicht, oder was man sich als glückbringend, weil ideal vorstellt. In der Tat, zu den vorerst nur zögernd ausgesprochenen Gründen, warum neuerdings so viele Ehen und Beziehungen scheitern, gehören gewiß überzogene Ansprüche, wie sie literarische Ideale und mediale Gaukler einpflanzen. Verstand und geschichtliche Erfahrung haben da keine Chance. Doch das ist ein anderes Thema und ein weites Feld – zurück zum alten Kephalos.
Vor nicht langer Zeit war The Chronicle of Higher Education eine Buchbesprechung zu lesen, die der angestaubten Dialogszene unerwartete Aktualität einhauchte. Unter der Überschrift „Der Geist ist willig, das Fleisch auch“ ist von Viagra die Rede, der Zauberpille gegen „erektile Dysfunktionen“. Sie ist zu höheren Ehren gelangt, wie der Autor des Artikels mit einem galligen Seitenhieb auf den (kultur-)wissenschaftlichen Seifenblasenbetrieb bemerkt: „And in an era when publishers of academic philosophy pump out an anthology of footnoted essays on any cultural spasm that excites the public for more than eight seconds, it was only a matter of time before scholars would bone-up on modern pharmaceutical culture and give us The Philosophy of Viagra: Bioethical Responses to the Viagrification of the Modern World“ – erschienen im niederländischen Wissenschaftsverlag Rodopi in einer Reihe mit dem Titel Philosophy of Sex and Love. Als Herausgeber figuriert Thorsten Botz-Bornstein, seines Zeichens Philosophiedozent an der an der Gulf University for Science and Technology in Kuweit (!). Seiner Ansicht nach ist Viagra sei das Symbol der Modernität geworden, eine Art Konzentrat einer erreichten Utopia, in der sich alles schnell verwirklicht, wenn wir nur schaffen, existenzielle Komplikationen von unseren Leben fernzuhalten; es sei zugleich die „Droge des Kapitalismus“.
Die Politikwissenschaftlerin Sophie Bourgault fragt, wie Platon wohl auf die ‘magische Kugel‘ reagiert hätte. Hier offenbart sich nun eine bekannte Schwäche einer assoziativ-aktualisierenden Lektüre antiker Texte; ich sehe jedenfalls nicht, warum eine Stelle am Anfang des Charmides, wo Sokrates auf dem Sportplatz auf den jungen Charmides trifft, in den damals offenbar alle verliebt waren – der Satz lautet: „und als nun alle in der Palaistra uns ganz im Kreise umringten, da sah ich ihm unter das Gewand und entbrannte (ephlêgomên), und war nicht mehr bei mir“ – verstanden werden müsse als „er bemühte sich, gegen den ernsten Fall einer Erektion anzukämpfen“. Und die Annahme, Platon hätte sicher etwas gegen Lifestyle-Drogen gehabt, sie aber nicht verboten sehen wollen, offenbart eine Schattenseite des unbefangen-spielerischen Dialogs mit den Klassikern. Andere Beiträger deklinieren die Frage für andere Philosophen durch: Kein Stoiker hätte Viagra benutzt (weil Seneca wie Kephalos Sex im Alter als Problem sah?), während bei Aristoteles wohl die Neugierde gesiegt hätte – ob er dann wohl auf Wolke 9 gelandet wäre?
Seriöser erscheint der Rückgriff auf die Antike, wenn es um Grundfragen geht: Erleichtert Viagra ein Begehren oder ruft es dieses sogar hervor, wo es zuvor nicht leicht befriedigt werden konnte? Was ist überhaupt „natürlich“? Auch Sokrates scheint im hohen Alter noch einmal Vater geworden zu sein (Phaidon 60a), über die soziale Erwartung hinaus, in der von den Athenern die Reproduktion in der Ehe und entsprechendes Verhalten nur für eine bestimmte Lebensspanne erwartet wurden; war dies abgeleistet, galten größere Freiheiten.
Wie gesagt, ein weites Feld. Gegen eine Viagra-gepimpte Kulturwissenschaft und die Assoziationskaskaden, die sie hervorrufen kann, hält der englische Rezensent jedenfalls eine Therapie bereit: „If this book stays in your mind for more than four hours, consult your partner.“
Mir kommen die hier...
Mir kommen die hier vorgestellten Gedanken sehr epikureisch vor. Hat nicht Epikur die Anpassung der eigenen Bestrebungen an die ‚leicht erreichbaren Angebote‘ als Weg zum glücklichen Leben gepriesen?
‚Dank sei de glückseligen Natur dafür, dass sie das Notwendige so leicht erreichbar und das Schwer-Erreichbar so wenig notwendig gemacht hat.‘
Diese Erfahrung läßt sich auch auf die Politik- und Wirtschafts-Bestrebungen verallgemeinern. Sie entspricht auch meinem evolutionsprozess- und chaosphysikalischen Erkenntnissen.
Rüdiger Kalupner