Vor fünfzig Jahren, im September 1961, erblickte der Deutsche Taschenbuchverlag das Licht der Welt. Die folierten Bände, anfangs durchweg Zweitausgaben von Büchern der elf Gesellschafterverlage, gehörten zum Inventar der alten Bundesrepublik wie der VW Käfer und die Bockwurst. „Es dürfte schwer sein,“ so Hannes Hintermeier (FAZ v. 201.9.2011), „einen Haushalt zu finden, in dem kein Band aus dem Deutschen Taschenbuchverlag steht. Prägende Leseerlebnisse erstehen zu neuem Leben, wenn man nur die Buchrücken sieht, weiten sich zur Gewissheit, wenn man das Buch aus dem Regal zieht. Ach das! Jahrzehnte Leserbindung durch Schullektüre, im Kinderbuch, mit Atlanten und Nachschlagewerken, Klassikerausgaben. Im Buchbereich hat der in München ansässige Deutsche Taschenbuchverlag (dtv) einen Bekanntheitsgrad wie Nivea in der Körperpflege. Er ist Synonym für eine ganze Gattung.“ Was die Reclam-Hefte nicht sein konnten, wurde hier verwirklicht: individuell gestaltete Cover mit Merkwert und modernem Touch. Der Schweizer Graphiker Celestino Piatti († 2007) wurde mit seinen ca. sechstausend Umschlägen zur Berühmtheit.
Das Programm setzte im „Bildungshungerland“ (Hintermeier) Maßstäbe. Freunde der Antike und alle, die es werden sollten, hatten das Glück, dass der Artemis & Winkler-Verlag zu den Elf gehörte. Dessen zehn Pfund schweres Lexikon der Alten Welt fand als dtv-Lexikon der Antike – aufgeteilt auf dreizehn Bände in fünf Abteilungen – weiteste Verbreitung, trotz des nicht ganz geringen Preises von 7,80 DM pro Band. Der Kleine Pauly, ein Nachdruck des zwischen 1964 und 1975 erschienenen Werkes im Originalformat, fünf Dünndruckbände mit eleganten grauen Umschlägen in Kassette für 128 DM (ein Pfennig pro Stichwort), eröffnete mir 1979 den ersten kompakten Eindruck von der Antike als Gegenstand wissenschaftlicher Erschließung. In der Reihe dtv-Klassik, später auch in der dtv-Bibliothek, erschienen Hauptwerke der antiken Literatur: Homer in der Übersetzung von Voß, Aischylos, Sophokles und Euripides, aber auch ein (gekürzter) Pausanias. Ferner mehrere Bände Aristoteles, klassische Dialoge Platons, Thukydides in der Übersetzung von Landmann, Meisterreden Ciceros, Suetons Leben der Caesaren, das Traumbuch des Artemidor und Augustinus‘ Vom Gottesstaat. Und natürlich die unentbehrlichen sechs Bände Plutarch-Viten in der Übersetzung von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann.
Otto Weinreichs zweisprachiger Catull war der erste dtv-Band zur Antike, den ich seinerzeit kaufte. Doch auf diesem kleinen Feld zeigte sich der Verlag, der doch im Großen schier Unglaubliches leistete (Kindlers Literaturlexikon, Sophien-Ausgabe Goethes, Nietzsche-Gesamtausgabe von Colli und Montinari, Grimms Wörterbuch, das Künstlerlexikon von Thieme und Becker), unentschieden. Die Bände in der Reihe dtv zweisprachig blieben gering an Zahl; es gab zwar sogar eine Originalausgabe (Lukian, Charon oder die Betrachtung der Welt, von Albert von Schirnding, 1977. 3,80 DM) und originelle Anthologien wie die Exempla Iuris Romani oder Erste lateinische Lesestücke, ein „vergnügliches und lehrreiches Lektüre-Büchlein für alle Kinder und Erwachsene, die mit ihrem Latein am Anfang – oder am Ende sind“. Doch ansonsten kamen nur ein paar ‘Auskoppelungen‘ aus Artemis-/Tusculum-Werken (Ovid, Petron, Plinius, Tacitus) heraus; die Reihe erreichte wohl nie die notwendige ‘kritische Masse‘ für einen Durchbruch. In die neue Zeit geschafft hat es allerdings die für Touristen attraktive Anthologie Roma Caput Mundi von Franz Peter Waiblinger (Originalausgabe 2000).
Mommsens Römische Geschichte erschien 1976 in einer Kassette der dtv-bibliothek, acht Bände, mit einer langen Einführung von Karl Christ. Zu der autobiographischen Selbstkonstruktion, die ich mittlerweile selbst für wahr halte, gehört die Erinnerung, die Lektüre dieses Werkes habe den Gymnasiasten veranlaßt, sich im Studium der antiken Geschichte zu widmen. Exakter ist im Gedächtnis haftengeblieben, wie an einem Samstag i.J. 1980 endlich der Nachdruck von Droysens Geschichte des Hellenismus in der Buchhandlung angekommen war und ich die rotbraune Kassette für 42 Mark erwarb und stolz nach Hause trug. Weniger Glück war mir mit Jacob Burckhardt beschieden: Die Griechische Kulturgeschichte in vier Bänden war jahrelang vergriffen. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie schwierig es in der Ära vor ZVAB und Booklooker war, ein bestimmtes gesuchtes Buch zu bekommen. Ich hatte jedenfalls keinen Erfolg. Dann endlich, es muß 1983 gewesen sein, brachte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft einen Nachdruck heraus, den dtv-Buchblock, aber in einem scheußlichen blauen Pappumschlag ohne Folierung.
Außerhalb der Bibliothek erschienen Karl Kerényis Die Mythologie der Griechen, Friedells unvollendete Kulturgeschichte Griechenlands, Siegfried Melchingers Das Theater der Tragödie über die drei attischen Tragiker sowie – vor dem Boom der Frauen- und Geschlechtergeschichte – Dacre Balsdon, Die Frau in der römischen Antike.
1990/91 fand eine zweite Artemis-Offensive statt: die 33-bändige Bibliothek der Antike, herausgegeben von Manfred Fuhrmann. Die Werke erschienen in neueren Übersetzungen oder überhaupt erstmals im Taschenbuch, die eher essayistisch gehaltenen Einleitungen waren zum Teil neu verfaßt. So kam die wunderbare Herodot-Übersetzung von Walter Marg zu einer Einleitung von Detlev Fehling, der zuvor die These entwickelt hatte, Herodot habe bei seinen Quellenangaben bewußt getäuscht und gaukele eine Gewißheit vor, die der Grundlage entbehre. Die Publikation auf einen Schlag, in einheitlicher Gestaltung und mit einem prominenten Herausgeber – seine leitende Hand ist kaum erkennbar – deuteten schon an, daß sich die Landschaft verändert hatte. Auch Klassiker gingen nur noch als event. Wie sich die Bände verkauften, weiß ich nicht; Neuauflagen gab es jedenfalls m.W. nicht.
Andere beteiligte Verlage speisten sporadischer Bücher ein. Michael Grants Klassiker der antiken Geschichtsschreibung (C.H. Beck) war ein Longseller, da es aus der Feder deutschsprachiger Gelehrter damals nichts Vergleichbares gab. Klett-Cotta steuerte Fustel de Coulanges, Der antike Staat bei, ferner Otto Seels passioniertes Quintilian-Buch und Robert Ogilvies schmale Studie zur römischen Religion in der Zeit des Augustus. Christian Meiers Caesar und Athen erlebten im dtv mehrere Auflagen.
Auch auf dem Feld der Literaturgeschichte wurden Maßstäbe gesetzt. Die großen, im Hardcover fast unerschwinglichen Werke von Albin Lesky und Michael von Albrecht fanden im blauen bzw. grauen Taschenbuch den Weg auf den Schreibtisch zahlreicher Studenten; ohne Familiennachzug blieb das schmale, feine Buch von Siegmar Döpp über Werke Ovids.
Im Bereich der Alten Geschichte zeigte man sich Neuerern gegenüber aufgeschlossen. In der Reihe dtv wissenschaft erschienen methodisch innovative Hauptwerke von Moses Finley (Die Welt des Odysseus, Die antike Wirtschaft, Das politische Leben in der antiken Welt) und Paul Veyne (Brot und Spiele), hier brachte Winfried Nippel eine vielbenutzte Anthologie programmatischer Texte heraus (Über das Studium der Alten Geschichte).
Die größte Tat aber war zweifellos die dtv-Geschichte der Antike. Die von Kai Brodersen sorgfältig bearbeiteten Bände der englischen Fontana History of the Ancient World setzten Mitte der 1980er-Jahre einen in Deutschland bis dahin ungeläufigen Typ von Lehr- und Lernbuch durch: Die Autoren entwickelten ihre Sicht auf die Großepochen der antiken Geschichte unter einem steten Rückgriff auf Quellen in Übersetzung und bezogen auch archäologisches Material ein. Teils neubearbeitete Neuauflagen gab es bis Mitte der 1990er-Jahre, dann verlor dtv das Interesse. Fünf der insgesamt sieben Bände hatte sich immerhin 20.000-25.000 mal verkauft. Heute gibt es je drei Bände in billigen Nachdrucken bei Albatros, auf dickem, billigen Papier und ohne die Balance aus nüchterner und prächtiger Gestaltung, welche die originalen Bände prägte.
Zu klagen, daß es all dies nicht mehr gibt, wäre töricht. Verlage passen sich an das Kauf- und Leseverhalten der Kunden an. Eine Taschenbuchreihe würde heute niemand mehr „Bibliothek“ nennen. Die das Gros der antiken Texte liefernden Verlage gibt es in der früheren Form nicht mehr, und seit große Sachbuchverlage wie C.H. Beck die Sonderausgaben und Paperbacknachdrucke ihrer Werke selbst auf den Markt bringen, ist ein wichtiger Teil des einstigen Geschäftsmodells weggebrochen.
Und ganz verschwunden ist die Antike nicht aus dem Programm. Den Kleinen Pauly gibt es noch, ferner die ersten drei Bände von Gibbons Decline and Fall in einer schönen Kassette, ein originelles Buch über Caesar und Hans-Joachim Gehrkes Kleine Geschichte der Antike.
Was ansonsten bleibt, ist die Erinnerung an erhellende und beschenkende Lektüren. Und wahrscheinlich könnte man fast alles, was dtv in diesem Bereich je herausgebracht hat, heute leicht in Suchportalen für antiquarische Bücher finden.