Im Radio ein Bericht über den Kölner Kunstfälscherprozeß. Ein Beobachter sagt, nach den Folgen für die Kunstszene befragt, die Experten würden an Bedeutung verlieren zugunsten naturwissenschaftlicher und technischer Methoden. Nicht mehr das aus der Kenntnis zahlreicher Bilder gespeiste, nach stilistischen Merkmalen und Ähnlichkeiten suchende Urteil, sondern das unbestechliche, nicht durch Flüchtigkeit oder Interessen bedrohte Resultat von Materialanalysen werde demnächst immer öfter über die Echtheit eines Kunstobjektes entscheiden.
So ist es auch mit der Kapitolinischen Wölfin gegangen. Die etwa 85 Zentimeter hohe Bronzefigur steht seit Jahrhunderten geradezu emblematisch für das Alte Rom. In jedem Lateinbuch ist sie zu finden, mit den beiden sich zu ihren Milchdrüsen streckenden Knaben.
Nun hatte es im 19. Jahrhundert durchaus noch Zweifel an der Datierung in die Zeit des frühen, etruskischen Rom gegeben. Anders als die Falsifikate in der Kunstszene unserer Tage war die Wölfin ein Unikat, ohne zweifelsfreie Vergleichsstücke, die eine stilistische Echtheitskritik zwingend benötigt. Hinzu kommt: Die Kapitolinische Wölfin sieht ganz anders aus als die von Münzen und antiken Beschreibungen bekannte lupa Romana (die ihrerseits mit der nur literarisch bezeugten Weihung der Ogulnier i.J. 296 v.Chr. identisch gewesen dürfte): Während nach diesen Zeugnissen sich das mütterliche Tier stets besorgt nach den beiden Kleinen unter ihr umwendet, blickt die Wölfin des Konservatorenpalastes drohend in die Ferne. Ihre Haltung legt es nicht eben nahe, unter ihr die Säuglinge zu ergänzen, wie sie dann am Ende des 15. Jahrhunderts angeblich von Antonio del Pollaiualo, dem Lehrer Michelangelos, mit dem Tier verbunden wurden. Der Archäologe Heinz Kähler formuliert die Dissonanz so: „Es kann doch ein Werk, das an einem so hervorragenden Punkt wie dem Kapitol aufgestellt war, wenn es etwa die Bilder auf Münzen und Reliefs beeinflußt hätte, in einem so entscheidenden Zuge nicht von allen anderen Darstellungen abgewichen sein. Die Frage nach der einstigen Aufstellung der Figur und ihrem Verhältnis zu der von Cicero erwähnten Wölfin muß daher einstweilen offen bleiben.“
Damit erschien das Problem gleichsam eingekapselt. Denn am hohen Alter der Kapitolinischen Wölfin könne kein Zweifel bestehen. Und sofort rasteten die für die ältere Stilforschung typischen Formulierungen ein, raffiniert durch Vorstellungen von Entwicklung, Beeinflussung und römischer Wesensart: „Nicht nur der aufmerksame Blick, auch eine neue Bewegtheit und Spannung, die sich im Körper des wie gebannt verharrenden Tieres bemerkbar machen, bezeugen eine organischer empfindende Gestaltungsweise als die Schöpfungen vom Ende des 6. Jahrhunderts. Die Statue gehört sicher schon in die Zeit der jungen römischen Republik. Sie entstand in den Jahrzehnten, in denen in Griechenland das archaische Lebensgefühl, das so stark von Ionien und vom vorderen Orient beeinflußt worden war, in dem Kampf um die Selbstbehauptung gegenüber den Persern sich zu etwas Neuem verwandelt, das man vor allem auch in den Bildwerken dieser Zeit erfährt. Ihre Erscheinung bestimmt nicht mehr allein die starke und strahlende Daseinswirklichkeit der Gestalt. Schicksalhafter Ernst, verhaltene Spannung, in sich ruhende Bewegtheit bestimmen nun die künstlerische Schöpfung. Ionien tritt damals auch für Italien mehr in den Hintergrund, während sich Siziliens Griechenstädte zu hoher künstlerischer Blüte mit weitreichender Wirkung entfalten. Auch die römische Wölfin läßt Beziehungen zur Kunst Siziliens erkennen (…).“
Das angebliche hohe Alter ist dem ganzen Gebäude jedoch zum Verhängnis geworden. Die Lupa mußte restauriert werden. Das Metall wurde untersucht, man sah in den hohlen Körper hinein, untersuchte das Herstellungsverfahren. 2006 dann das erschütternde Ergebnis: Die Bronze stammt aus dem Mittelalter. Glaubt man dem Korrespondenten der FAZ (17.8.2007), dann „gab es in Italien keinen Aufschrei über die Mythenschändung“, da die Beweise schlicht erdrückend waren. Vielleicht hatte man in Rom schon damals Wichtigeres zu tun, als den Verlust einer nationalen Ikone zu beklagen oder zu bestreiten.
Eine Publikation der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Frankfurt/M. bietet seit kurzem einem deutschsprachigen Publikum vertiefte Einblicke in den Stand der Diskussion. Im Vorwort wird bestätigt, daß die Stilkritik „als (hauptsächliche) Methode der Objektanalyse in der Sicht der Klassischen Archäologie langsam relativiert wird“; sie gerate, wie der zitierte Archäologe Andrea Carandini beklagt, in den Ruf, „ineffektiv, suggestiv und altmodisch“ zu sein. Nun hat ja die historisch und hermeneutisch verfahrende archäologische Forschung, wie skizziert, das Problem schon gesehen: daß die erhaltene Wölfin nicht zu den antiken Zeugnissen paßt. Sie hat sich nur überwiegend geweigert, den richtigen Schluß zu ziehen: daß die antike Wölfin irgendwann untergegangen ist und jedenfalls nicht mit der Kapitolinischen identisch sein kann. Das sollte auch einmal gründlich untersucht werden: Wie wurde eigentlich diese Wölfin zu einem unbestreitbar etruskischen Monument des frühen Rom? Welche Rolle spielten dabei der italienische Nationalismus und später die angestrebte Wiedergeburt des Römischen Reiches im Faschismus?
Diese Fragen spart der kleine Sammelband noch aus. Dafür skizziert E. Formigli die kritische Arbeit an ‘antiken‘ Großbronzen der letzten Jahre und zählt (zu lapidar) die archäometrischen Argumente für eine Datierung der Lupa ins Mittelalter auf. Maria Radnoti-Alföldi trägt Indizien für die These zusammen, die originale lupa-Zwillinge-Gruppe sei zunächst 455 n.Chr. von den Vandalen geraubt und nach Karthago verbracht worden, nach der Rückeroberung Nordafrikas in Belisars Triumph nach Konstantinopel gekommen, wo sie, zusammen mit vielen anderen antiken Monumenten, im Hippodrom gestanden habe – bis sie 1204 der Eroberung durch die (westlichen!) Kreuzfahrer zum Opfer fiel. Komplementär dazu stellt Johannes Fried Überlegungen an, wann die Kapitolinische Wölfin entstanden sein könnte. Am ehesten sei an das 12. Jahrhundert zu denken, an eine Grafenfamilie in Tusculum, die invention of tradition betrieb:
„Die mittelalterliche, beutegierige, angsteinflößende Lupa, die so abweichend von der ‘wahren‘, vielfach im Bild festgehaltenen Lupa Romana in Erscheinung trat, könnte als stolzes Zeichen des uralten Adels und der Macht dieser tuskulaner Grafen entstanden sein, einer Familie, die sich – soweit wir wissen – als erste im mittelalterlichen Rom explizit an antike Adelsgeschlechter ansippte und sich auf diese Weise unmittelbar mit Aeneas, Julus, den Wolfskindern, mit Caesar und Augustus verband. (…) Die Spur der Wölfin führt nun zu jenen Quellen, aus denen die Wiedererrichtung des Kapitals und die Wiedergeburt des Senats Leben zogen: Zu eben dem Abstammungsglauben der führenden Geschlechter Roms und ihrer Überzeugung, sich von antiken Heroen und Kaisern herzuleiten.“
Um mehr als eine vorsichtige Vermutung könne es sich bei dieser These, so betont Fried indes mit Nachdruck, angesichts des beklagenswerten Quellenmangels nicht handeln. Das ist das Schöne an der Wissenschaft: Mit jeder neu gewonnenen Sicherheit entstehen zugleich mehrere neue Fragen, die wahrscheinlich nicht naturwissenschaftlich-technisch unschärfelos zu beantworten sind.
– Heinz Kähler, Rom und seine Welt. Bilder zur Geschichte und Kultur. Erläuterungen. München 1960, 47.
– Maria R.-Alföldi, Edilberto Formigli, Johannes Fried, Die Römische Wölfin. Ein antikes Monument stürzt von seinem Sockel. The Lupa Romana. An Antique Monument Falls from her Pedestal. Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 49.1. Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2011. 161 S., Abb. (alle drei Artikel in deutscher und in englischer Sprache)
– Die Abb. o.: H. Luckenbach, Kunst und Geschichte. Große Ausgabe, 1. Teil: Altertum. München/Berlin 9. Aufl. 1913, 108.