Dem bunten Gewebe von antiken und modernen, lobhudelnden, kritischen und satirisch-ironischen, authentischen und fiktionalen Texten von und um Caligula, Claudius und Nero sowie Seneca und Petronius hat der Schriftsteller Thorsten Becker einen neuen Einschlag hinzugefügt: eine „Trostschrift für den Muttermörder Nero“. Dem Bericht in der WELT zufolge schreibt Beckers Seneca mit heiterer Gelassenheit seine „Trostworte“ in Erwartung des Befehls zur Selbsttötung. „Scharfzüngigkeit und Ironie, die Suche nach Kausalität der Ereignisse in Verbindung mit mehr oder weniger verbrämter Kritik an Nero prägen die Schrift.“ Nun ist ein Intellektueller, der im Angesicht des letzten Unverfügbaren seine Freiheit gegenüber dem Wüten eines Tyrannen erweist, gewiß eine noble Erscheinung, geeignet zur Identifikation. Doch Becker bewahrt sich die Reserve der Ambivalenz, war Seneca doch als Berater des jungen Kaisers Nero eine der Stützen des Regimes und läßt sich zumindest sein Mitwissen bei der Ermordung von Neros Mutter Agrippina nicht ausschließen.
Kaiserwechsel waren für Berater und ‘Minister‘ immer eine kritische Angelegenheit. Seneca hatte schon unter Claudius eine Rolle gespielt, war freilich auch über sieben Jahre verbannt gewesen. Wohl 43, während dieser Verbannung, nutzte er die Chance, mit einer Trostschrift dem Herrscher zu huldigen: Polybius, einer der drei griechischen Freigelassenen des Kaisers, die eine vollständig abgeleitete, im Alltag aber jederzeit sichtbare Einflußposition innehatten und allein durch diese Dissonanz – niedrigster sozialer Status, hohe tatsächliche Macht – die Aristokratie aufs schwerste brüskierten, dieser Polybius also hatte seinen geliebten Bruder verloren, und Seneca richtete eine Trostschrift an ihn, die alle typischen Muster solcher Literatur auffuhr – und noch etwas mehr: Der Kaiser selbst erhielt eine Trostrede an seinen Vertrauten in den Mund gelegt, ein fiktiver Text im Text, authentifiziert und personalisiert durch die zahlreichen historischen Beispiele, die der gelehrte Hobby-Historiker Claudius auch sonst gelegentlich in eine Rede einzustreuen pflegte:
„Dieser Fürst also, gemeinsamer Trost aller Menschen, hat, wenn mich nicht Alles täuscht, dein Gemüt bereits wieder aufgerichtet und bei der so großen Wunde noch wirksamere Heilmittel angewandt; er hat dich bereits auf alle Art ermutigt, er hat bereits alle Beispiele, die dir wieder zu Gleichmut verhelfen können, aus seinem so überaus treuen Gedächtnis angeführt, bereits die Lehren aller Weisen mit der ihm eignen Rednergabe vorgetragen. Niemand also möchte dies Geschäft des Zuspruchs besser verrichtet haben; ein anderes Gewicht werden, wenn er spricht, die Worte haben, gleich als wären sie vom Orakel ausgegangen; die ganze Gewalt deines Schmerzes wird sein göttliches Ansehen brechen. Denke also, er spräche so zu dir: »Nicht dich allein hat sich das Schicksal ausersehen, um ihn mit so schwerer Unbill heimzusuchen; kein Haus auf der ganzen Erde ist oder war ohne irgend einen Trauerfall. Ich will die gewöhnlichen Beispiele übergehen, die, obgleich unbedeutender, dennoch wunderbar sind, und dich zu den öffentlichen Jahrbüchern und Chroniken hinführen.«“ Und so weiter. Und so fort. Caligula, Claudius‘ Vorgänger, erweist sich in diesem Zusammenhang als Tyrann, da er im Schmerz um seine Schwester die Haltung nicht wahrte, Trostworte und Totenfeier mied, sich erratisch verhielt. Um so heller strahlen der Kaiser und seinen Vertrauter.
Die Trostschrift an Polybius genießt keinen guten Ruf, zu unehrlich, zu berechnend durch den nominellen Adressaten hindurch auf den Kaiser gezielt erschien sie. „Man erstickt“, so der Übersetzer Otto Apelt, „fast in den Dämpfen des Weihrauchs, mit dem er ihm huldigt.“ Moderne Interpreten fragen weniger nach innerer Haltung, sondern nach der Kommunikation, besonders nach den eingeschränkten Möglichkeiten der Aristokratie, den Kaiser überhaupt zu erreichen und ihn in eine bestimmte Richtung zu lenken. Seneca konnte ja auch nicht wissen, daß der Kaiserwechsel zu Nero gut zehn Jahre später unter so halsbrecherischen Umständen stattfinden würde. Die einzigartige Satire auf die Vergöttlichung des toten Claudius, die „Verkürbissung“ (Apocolocyntosis), ist nur aus dieser Situation heraus zu erklären (wenngleich natürlich nicht aus ihr abzuleiten) – dafür spricht auch Art, wie Nero in der Schrift als Urheber eines neuen Goldenen Zeitalters gepriesen wird. Es war eben fast unmöglich, Einfluß, Würde und Integrität zugleich zu wahren.
Claudius seinerseits, um das Gewebe weiterzuspinnen, hat mit den Zuständen am iulisch-claudischen Hof in seinen „Memoiren“ abgerechnet: Ich Claudius, Kaiser und Gott aus der Feder von Robert (von Ranke-)Graves gehört immer noch zu den besten, weil subtilsten und stilsichersten Romanen mit einem antiken Sujet. Graves nahm darin zugleich eine antike Tradition auf, derer sich jetzt auch Becker zumindest dem Prinzip nach bedient: Texte (damals meist Briefe oder Briefsammlungen) einer bekannten Person unterzuschieben, um eigene Botschaften zu transportieren oder durch die Nachgestaltung von Personen und Situationen der klassischen Vergangenheit die eigene literarische Kunstfertigkeit zu beweisen.
Die Situation, in der die fiktive Trostschrift an Nero entsteht – an den Muttermörder Nero, was schon für sich einen Bruch mit dem antiken Genre bedeutet, da in diesem der Adressat nicht beleidigt wird – scheint sich am Schicksal des Gaius Petronius in der Interpretation des Quo vadis-Films zu orientieren: Der einstige enge Vertraute und Berater in Fragen des Geschmacks bricht mit dem Kaiser, dessen Verbrechen ins Gigantische angewachsen sind, inszeniert seinen Freitod im Kreis der Freunde, mit heiterer Gelassenheit nach dem Vorbild des Sokrates, und versetzt dem Monster mit der letzten Schrift – im Film ein kurzer Spott über die schlechten Poeme des größten Dichters, bei Becker buchlange Prosa – den Tritt, der weder dementiert noch gerächt werden kann. Da Petronius, soweit erkennbar, weniger in die Politik des Kaisers verstrickt war, wirkte sein Selbstmord immer glaubwürdiger als der Senecas, den unser Gewährsmann Tacitus in ein Zwielicht rückte.
Daß diese neue, gemixte Trostschrift „ein so unterhaltsames Stück Literatur geworden ist, liegt nicht nur an der historisch bunten Verpackung, an der Mord-und-Totschlag-Story und der pikanten Würze aus Freizügigkeit und Amoralität. Es ist der Ton des Philosophen, den Becker unglaublich gut getroffen hat. Und der bei aller Dekadenz (der Antike) doch nicht den Glauben an das Gute im Menschen zerstört.“ So der Leser für die WELT. Ob ich das Buch lesen werde? Weiß noch nicht. Senecas originale Trostschriften harren noch der Lektüre, der parvenuhafte Trimalcho in Petronius‘ Satyricon ist mit Peter Ustinovs Zügen zu versehen, und beim Wiederlesen von I Claudius spricht, besser: wispert der Kaiser mit der Stimme des wunderbaren Derek Jacobi aus der englischen Verfilmung.
Thorsten Becker: Agrippina. Senecas Trostschrift für den Muttermörder Nero. Arche, Zürich/Hamburg. 237 S., € 18,60.
Den Menschen (der Zukunft) zum...
Den Menschen (der Zukunft) zum Opfer
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Nun ja, ob man nach Massimo Finis „Nero“ https://www.welt.de/kultur/article137308/Opfer_der_Legenden_Wie_der_roemische_Kaiser_Nero_zum_Suendenbock_der_Geschichte_wurde.html (siehe auch: https://blog.herold-binsack.eu/?p=1052) von einer „Abrechnung mit Nero“ noch sprechen sollte, möchte ich damit mal in den Raum werfen. In diesem Zusammenhang würde es sich vielleicht lohnen, mal zu prüfen, inwieweit Nero wirklich und tatsächlich als „Urheber“ eines „goldenen Zeitalters“ erscheint. Dies definitiv auch im Kontext der Frage, inwieweit anders ein Abendland geworden wäre, für den Fall, dass Alexander der Große weiter nach Westen und eben nicht nach Osten marschiert wäre.
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Wäre dann womöglich die ganze Epoche des sog. Mittelalters erst gar nicht entstanden? Wie immer wieder von Altertumsforschern keck in den Raum geworfen wird. So wie dieser Tage auch wieder mal im Anschluss an eine alte Alexanderverfilmung (mit Richard Burton als Alexander) – auf ARTE, glaube ich.
Nun ja, was ich vielleicht glauben möchte, wäre, dass ein römisches Reich sich so nicht hätte entwickeln können. Dennoch darf nach dem rationalen Kern einer solchen Option gefragt werden. Alexander war ein orientalischer Held. Nur diese Sache mit dem „Gordischen Knoten“, dem Mythos also, muss da herhalten für eine diesbezügliche gleich doppelte Legende: die von der Schaffung eines Abendlandes durch Alexander, wie auch die diesbezüglich eines abendländischen Alexanders überhaupt.
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Doch Alexander war durch und durch anti-abendländisch. Er war eben ein Fürst seiner Zeit. Ein Barbarenfürst also. Dass er von Zeus abstammte, das glaubte er ganz sicherlich, ohne da als wahnsinnig hätte gelten zu müssen. Ein durch und durch homerischer Held also. Bar jedes modernen Bewusstseins. Alles was er tat, tat er für sich. Daher vertilgte ihn auch die wirkliche Geschichte. Alexandria wurde erst nach seinem Tod, infolge der Ptolemäerherrschaft in Ägypten, zum Dreh- und Angelpunkt einer sog. neuen Welt, einer, die im Nachhinein dann als abendländisch imaginiert wird. So besehen wäre Ägypten und nicht Makedonien die Wiege des Abendlandes.
Anders bei Nero. Dieser suchte wohl die alten Bühnen auf, doch dort spielte kein antikes Theater mehr. Das macht ihn zur wahrhaft „tragischen Gestalt“ (vgl. hierzu Zizek Definition des Tragischen in der „Parallaxe“). Nur er – eben n u r er – repräsentierte noch jenes antike (Vor-)Bewusstsein (https://blog.herold-binsack.eu/?p=1697). Sein „goldenes Zeitalter“ kann daher auch verstanden werden als der Moment des versuchten Rückgriffs eben auf diese Zeit, als Neuanlauf in einer Geschichte, die für einen kurzen Moment – vielleicht mit Nero zusammen – inne zu halten schien. So als wollte sie überlegen, ob diese Richtung ihr überhaupt passt.
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Der Grund dafür könnte in der möglichen Erkenntnis dieser Zeit liegen, einer Erkenntnis, der man sich damals vermutlich nur auf mythischen Bahnen zu nähern gewusst haben dürfte, nämlich dass die „Zivilisation“ vorerst da nur als Leihgabe (jener möglichen Zukunft) am Horizont auftaucht.
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Wollen wir einen Kaiser, dessen Würde in seiner göttlichen Abstammung liegt, oder wollen wir eine Würde, eine solchermaßen abstrakte Würde dann, die von nun an über jeden Kaiser hinweg zu vererben wäre (vergl. hierzu auch Ernst Jüngers Definition dessen, was den Unterschied macht zwischen Orient und Okzident, im: „Der gordische Knoten“, https://blog.herold-binsack.eu/?p=1883)? Das war wohl die insgeheim gestellte Frage.
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Nun da wir wissen, welche Version sich durchgesetzt hat, ist es ein leichtes, sich diesbezüglich erhaben zu fühlen. Doch bedenken wir, vor welchem Epochenbruch wir da womöglich gerade stehen. Und welche Fragen wir uns da stellen.
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Auch damals dürfte das Volk schon unter dieser Zukunft gelitten haben, ohne das Leiden aus der Vergangenheit verkraftet zu haben, geschweige denn dieses verarbeitet. Eine Philosophie der Sozialgeschichte war noch nicht geboren. Und im Angesicht der damit geahnten nur Verdoppelung des Leids, erscheint eine jede Vergangenheit als „goldenes Zeitalter“.
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Die tragische Gestalt eines Nero wird da eigentlich nur durch die traurige Farce eben jener Verkennung der eigentlichen, und solchermaßen schon historisch verbürgten, Wahrheit überboten. Dass das Volk den Nero feiert, anstatt ihn und seine ganze Gesellschaft zur Hölle fahren lassen zu wollen, diese Gesellschaft also dem Feuer zu übergeben, wie es womöglich nur die Christen getan haben, macht daraus ein Melodrama. Die römischen Massen waren ihres Nero würdig, wie wohl auch umgekehrt.
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Vor diesem Hintergrund erscheinen dann wohl nur die Christen als die authentischen Künder einer neuen Zeit. Wenn auch diese noch in antiken Farben. In der Farbe eines höllischen und solchermaßen noch dunklen Feuers und eben nicht in denen eines reinen Lichts.
Sollten sie wirklich Rom angezündet haben, dann hätten sie so genau die Feuer gelegt, die dann auch in den folgenden Jahrhunderten noch die Geschichte verdunkelten.
Und was dann das folgende „finstere Mittelalter“ sprichwörtlich „unvermeidlich“ hätte gemacht.
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Gut einundeinhalb Jahrtausend später, nachdem die Brände der Inquisition erloschen waren, die Asche der Scheiterhaufen die Horizonte der Menschen also nicht mehr verdunkelten, konnte nun das Licht einer neuen Zeit mit jedem gewöhnlichen Morgenrot zusammen aufleuchten. Die Zivilisation war endlich geboren. Doch auch diese noch frische Geburt bedarf offenbar weiterhin der Härtung in den Feuern der Zeit. Kein kühles Morgenrot seitdem ohne die darauffolgende Hitze der Nacht. (Unvergessen auch der unvergleichliche Sydney Portier „In the Heat of the Night“, durch dessen Persönlichkeit gerade auch das nicht enden wollende Epos einer so langen dunklen Geschichte, durch die Verkürzung in der Form einer modernen Kriminalgeschichte, nicht nur das Wesen dieser eigentlichen Geschichte erhellt, sondern eben auch die Endlichkeit dieser, solchermaßen dann grotesken „Kriminalgeschichte“, https://blog.herold-binsack.eu/?p=1861.)
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Noch brennt sie die Welt, so als wären Neros menschliche Fackeln einfach nicht zu löschen.
Und das ist es, was für mich die wahre Gestalt eines Nero ausmacht. Er zündet die Fackeln auf antiken Bühnen, doch im Angesicht einer neuen Zeit, ohne dessen (und damit sich) bewusst sein zu können, ob des so vorgestellten doppelten Dramas. Auf barbarischen Bühnen zelebriert er im Angesicht der historisch noch zu überwindenden Barbarei die barbarischen Feuer eines Menschenopfer, den Menschen (der Zukunft) zum Opfer.