Geht es den Geisteswissenschaften an den Kragen? An der Universität Bonn müssen die einschlägigen Fächer in fünf Jahren 39 Stellen einsparen (FAZ v. 30.11.2011, N 5). Disziplinen wie die Slavistik werden wohl komplett abgewickelt; anderswo gibt es einen ähnlichen Trend. Bedrohlicher noch als die Ökonomisierung der Universität – geisteswissenschaftliche Grundlagenforschung bringt meist wenig an Drittmitteln ein – ist für sie die völlig verwandelte Studienkultur im Zuge des sog. Bologna-Prozesses. Ein sechssemestriges Studium reicht vielleicht für den Diplom-Kulturwirt, der alles und deshalb nichts kann, und mit einem BA in ‘Public History‘ mag wer Lust hat in Guido Knopps Bebilderungsmaschine ein Praktikum machen. Aber altsumerische Keilschrift oder die Texte und Monumente des pharaonischen Ägypten sind für das neuerdings obwaltende Häppchen- und Bulimiestudium einfach zu schwere Kost. Auch Griechisch und Latein stecken schon mitten im Strudel.
Weil die Geisteswissenschaften zudem vielfach verstaubt und sehr deutsch erschienen, haben viele ihrer Vertreter in den Kulturwissenschaften ein rettendes Ufer sehen wollen, versprachen diese doch mehr Internationalität, Interdisziplinarität und Teilhabe am öffentlichen Diskurs über Sinnsysteme und (Post-)Moderne. Gesellschaften werden nunmehr als Interpretationsgemeinschaften wahrgenommen, die sich symbolische Ordnungen schaffen und integrative Handlungen vollziehen, um Kommunikation und Zustimmung zu ermöglichen. Außerdem ist ‘Kultur‘ Bestandteil der Gut-Wörter inter-, trans- und multikulturell.
Das „Lexikon der Geisteswissenschaften“ versucht nun, die zugehörigen Fächer wieder sichtbarer zu machen und ihren Standort zu bestimmen. (Aber gehört ‘Tourismuswissenschaft‘ dazu?) Beteiligt sind gut 130 Autorinnen und Autoren; das Werk versammelt 244 Artikel. Die Herausgeber, ein Innsbrucker Historiker und ein Kölner Germanist, machen mit Recht die Umbrüche in der europäischen Hochschullandschaft als Bedrohung für die Geisteswissenschaften aus, halten diese aber für „gesünder wahrscheinlich als die Universitäten, in denen sie ihre geistige Heimat haben“. Propagiert wird eine „kulturwissenschaftliche Erneuerung der Geisteswissenschaften“. Versöhnen statt Spalten also, ohne die disziplinäre Dignität aufzugeben – eine wohl realistische Einschätzung der aktuellen Machtverhältnisse im akademischen wie im intellektuellen Diskurs.
Der erste, bei weitem längste Teil versammelt in enzyklopädischen Essays Sachbegriffe, unter dem fünften Buchstaben etwa: Empirie/Erfahrung, Enzyklopädie, Episteme, Epochen/Periodisierung, Erkenntnis/Erkenntnistheorien, Erkenntnisinteresse, Erzähltheorie, Erzählung, Essay, Ethnozentrismus. Das könnte so auch in einem analogen Lexikon der Kulturwissenschaften stehen; allerdings ist im vorliegenden Werk die philosophische und historische Fundierung generell stärker ausgeprägt; die Tradition hat hier gegenüber der eher eklektisch-präsentischen und begrifflich-theoretischen Konstruktion ein größeres Eigengewicht.
Um so mehr verwundert, daß es keinen Artikel „Kanon“ gibt, obwohl die stets umstrittene, gleichwohl traditionsbildende und disziplinär formierende Kanonbildung sowohl nach innen (epistemologisch) wie auch nach außen, in die Gesellschaft hinein, zu den wesentlichen Operationen geisteswissenschaftlicher Arbeit und Kommunikation gehört. Man muß zu einem konkurrierenden Werk, dem Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (2. Aufl. 2001) greifen, um über den (literarischen) Kanon Erhellendes zu erfahren: Mit dem Begriff werde üblicherweise „ein Korpus literarischer Texte bezeichnet, die eine Trägergruppe, z.B. eine ganze Kultur oder eine subkulturelle Gruppierung, für wertvoll hält, autorisiert und an dessen Überlieferung sie interessiert ist (materialer Kanon), daneben aber auch ein Korpus von Interpretationen, in dem festgelegt wird, welche Bedeutungen und Wertvorstellungen mit den kanonisierten Texten verbunden werden (Deutungskanon). Ein Kanon entsteht also nicht dadurch, daß sich Texte aufgrund zeitloser literarischer Qualitäten durchsetzen; er ist vielmehr das historisch und kulturell variable Ergebnis komplizierter Selektions- und Deutungsprozesse, in denen inner- und außerliterarische (z.B. soziale, politische) Faktoren eine Rolle spielen. Kanones erfüllen verschiedene Funktionen für ihre Trägergruppe: Sie stiften Identität, indem sie für die Gruppe konstitutive Normen und Werte repräsentieren; sie legitimieren die Gruppe und grenzen sie gegen andere ab; sie geben Handlungsorientierungen, indem sie ästhetische und moralische Normen wie auch Verhaltensregeln kodieren; sie sichern Kommunikation über gemeinsame Gegenstände. Je homogener eine Gesellschaft ist, desto wahrscheinlicher ist es, daß es einen Kanon oder wenige Kanones gibt. Typisch für moderne, zunehmend differenzierte Gesellschaften ist dagegen die Kanonpluralität: Kanones, die die Selbstdarstellungs- und Legitimationsbedürfnisse unterschiedlicher Trägergruppen erfüllen, stehen neben- und gegeneinander.“ Auch im (leider sehr mechanisch erstellten) Register fehlt der Begriff.
Die Antike ist in der ersten Abteilung durch das Stichwort „Antikenrezeption“ vertreten. Karlheinz Töchterle, Professor für Klassische Philologie und seit April 2011 österreichischer Wissenschaftsminister, wagt auf gut vier Seiten einen Gewaltritt von der (spät-)antiken Antikenrezeption bis zur Gegenwart, in der sie ihm, „aufs Ganze gesehen, permanent im Abnehmen zu sein“ scheint. Komplementär zu diesem Artikel stehen ‘Humanismus‘ und ‘Klassik/Klassizismus‘.
Der zweite, etwa 250 Seiten umfassende Teil skizziert einzelne Disziplinen und Fachgruppen. Hier gibt es seltsame Ungleichgewichte: Byzantinistik und Neogräzistik haben je ein eigenes Lemma, die für die Entfaltung der Geisteswissenschaften im 19. Jh. maßgebliche Klassische Philologie hingegen ist unter dem Stichwort ‘Philologie‘ mitbehandelt, während die großen neueren Philologie noch einmal in eigenen Artikeln repräsentiert sind. Justus Cobet führt die ‘Alte Geschichte‘ konsequent historisierend als Produkt ihrer eigenen Entwicklung vor; erst dadurch ist die Herausforderung erkennbar, vor der alle Altertumswissenschaften heute stehen: Im Rahmen der Geschichts- und der neueren Kulturwissenschaften „pluralisierten sich die Zugriffsweisen auch der Alten Geschichte immer mehr, während gleichzeitig mit dem Wegbrechen der humanistischen Bildungstradition sich auch der spezifisch bürgerlichen Kontext der Altertumsstudien auflöste. Als eine unverwechselbare Qualität bleibt ihnen aber die zeitliche Tiefe ihrer Tradition.“ Ein Lemma ‘Ägyptologie‘ fehlt – eine subtile Ohrfeige der Herausgeber für eine Disziplin, die seit Jan Assmann im Chor der Kulturwissenschaften eine Leitstimme singt? Doch zum Glück gibt es Marion Meyers ‘Klassische Archäologie‘, ein Muster an Klarheit und Orientierung.
Im dritten Teil sind kürzere, gut orientierende Personenartikel versammelt, von Adorno und Althusser bis Wittgenstein und Wölfflin. Jeder Artikel enthält Literaturangaben und Verweise auf andere Lemmata. Die Altertumsforschung im engeren Sinn ist hier lediglich mit Mommsen vertreten, wenn man nicht die Universalhistoriker Burckhardt und Droysen für diese in Beschlag nehmen will. Ganz fehlen die Gründergestalten der Philologie, etwa F.A. Wolf, Chr.G. Heyne oder K. Lachmann. Selbstredend gibt es aber ein Lemma ‘Nietzsche‘.
Helmut Reinalter, Peter J. Brenner (Hgg.), Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen. XXIV, 1409 S., geb., € 149,-, Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2011
Die Rezeption der Antike...
Die Rezeption der Antike erfolgt bekanntlich in Wellen, und wo Wellen sind, da sind auch Wellentäler. Die nächste Welle kommt bestimmt, da kann man sich darauf verlassen. Spätestens, wenn Zuwanderer das antike Erbe neu für sich entdecken, und ganz erstaunt feststellen: „Ach deshalb …“ – oder wenn sie bemerken, wieviel Platon im Islam steckt. Nun ja. Das soll nur eine Möglichkeit aufzeigen. Vielleicht aber wird auch eine Gegenreaktion auf den überlinken Zeitgeist die nächste Welle hochschwappen lassen. Vielleicht auch beides zugleich. Wer weiß das schon.
.
Nur eines ist gewiss: Die nächste Welle kommt bestimmt. Und die Aufgabe der gegenwärtigen Antikenwissenschaften ist es, dafür ein solides Fundament aufrecht zu erhalten. Damit die Welle nur hoch- aber nicht überschwappt. Frank Kolb und sein Troia-Buch sind hier vorbildlich. Neues bringt er ja eher nicht. Aber er räumt auf, macht Ordnung, wirft den Müll hinaus, bereit für die besenreine Übergabe an die Nachfolger.
Offenbarung oder...
Offenbarung oder Selbsterkenntnis
.
@Franke: Erstaunt wären die von Ihnen erwähnten „Zuwanderer“ vielleicht nur, wenn sie plötzlich erkannten, wie viel Islam bereits in Platon steckte, resp. im Spätplatonismus eines Plotin. Ich bin erstaunt darüber, dass jemand, der sich über den „überlinken Zeitgeist“ echauffiert, so wenig von dem Lehrer aller Konservativen zu lernen versteht. So hat zum Beispiel Oswald Spengler in seinem „Untergang des Abendlandes“ die „magische Seele“ bei Plotin verortet gesehen („Probleme der arabischen Kultur“). Ein Phänomen, welches er dann in der christlichen „Gnosis“ wiederfindet. (Mit ein Grund für, vielleicht, warum der islamische Schriftsteller Kermani – https://blog.herold-binsack.eu/?p=249 – diese Gnosis so gut zu verstehen vermag.)
.
Als Marxist habe ich wenig Verständnis mit Philosophien, die mit „völkischem“ oder „rassischem“ liebäugeln, aber Spengler, der diesbezüglich in aller Regel überinterpretiert wird, wird besonders dort ganz und gar ignoriert, wo er das Besondere eben nicht abendländischer Kulturen (er nennt es Seelen) hervorhebt. Und diesbezüglich macht es einen Unterschied, ob man dem Islam „großzügig“ zugesteht, dass er den Platon geplündert hat, oder ob man zu erkennen vermag, wie über Platon der „östlichen Seele“ eine westliche Sprache verpasst wurde, bzw. wie das passierte, was Spengler als „Pseudomorphose“ charakterisierte. Das ist in diesem Zusammenhang auch deswegen so wichtig, weil ein gewisser, nämlich aktueller, antimodernistischer Geist unter den (westlichen) Konservativen scheint’s so viel Verwirrung angestiftet hat, dass selbst ein Spengler ihnen nicht mehr genügt.
.
Es wäre schon ein Treppenwitz, wenn sich hinter der ach so gekränkten konservativen Seele (welche ja auch das Produkt der von Spengler erwähnten Pseudomorphose wäre) jene laut Spengler seit der Gotik unterjochten „magischen Seele“ verbirgt. Von diesen „Unterjochten“ soll wohl ein „Spinoza gegen Leibniz“ (Spengler) erneut in Stellung gebracht werden. Dies erklärte natürlich auch jenen selbsthasserischen Hass auf den Islam, denn auch Spinoza dürfte es nicht bewusst gewesen sein, wie „magisch“ seine „Seele“, wie arabisch (jüdisch?) sein Denken war.
.
Erhoffen sich also unsere Konservativen eine Renaissance quasi in Gefolgschaft „Apokalyptischer Reiter“? Dies erklärte die Weltuntergangsstimmung (https://blog.herold-binsack.eu/?p=1892) in diesen Kreisen, welche einem „linken Zeitgeist“ natürlich diametral entgegen gesetzt bleibt. Die Auseinandersetzung, wie sie sich auch am Fall Sarrazin deutlich zeigt, spitzt sich daher so allmählich auf die Frage zu: Wollen wir Offenbarung oder Selbsterkenntnis, Erlösung oder Befreiung? Soll die „nächste Welle“ in Form des jüngsten Gerichts kommen oder als Revolution (https://blog.herold-binsack.eu/?p=1986)?
@Devin08:
.
Aaaahhh, Marxismus...
@Devin08:
.
Aaaahhh, Marxismus besteht heute darin, mythisch von Islamhass zu raunen, und gleichzeitig selbst mit beiden Händen genüßlich in der „magischen“ und „östlichen“ Seele der Araber herum zu wühlen? Aaaahhh, Marxismus besteht heute darin, unsere Zuwanderer nicht entdecken zu lassen, wieviel Platon im Islam steckt, sondern wieviel Islam bereits in Platon steckt, und gleichzeitig Selbsterkenntnis gegen Offenbarung in Stellung zu bringen? Aaaahhh … jaaaa … das ist wirklich Marxismus! Die Dialektik des ungeordneten Geistes. Platon is not amused.