Mary Beard präsentiert in ihrem TLS-Blog das Bild eines älteren, bebrillten Mannes, der auf einer Demonstration in Budapest ein Spruchband in die Höhe hält: Quousque tandem ist da in roter Schrift zu lesen. Die Demonstration richtete sich gegen die Pläne der mit Zweidrittelmehrheit gewählten und regierenden Fidesz-Partei in Ungarn, die Verfassung zu ändern. Die Eingangsworte aus Ciceros Erster Rede gegen Catilina gehörten lange zu den bekanntesten Zitaten aus der römischen Literatur. Sie fanden sich nicht nur im Büchmann, sondern auch in großen Konversationslexika. Vielfach brachte man auch den ganzen Satz noch zusammen: Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? – „Wie lange noch willst du, Catilina, unsere Geduld mißbrauchen?“
MB ist, so berichtet sie, vor Jahren einmal auf Spurensuche gegangen und hat buchstäblich „hundreds of re-applications of this neat little slogan, from the Congo to Brazil, in protests public and private and intellectual“ gefunden. In letzter Zeit scheine der Ausruf dagegen ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Und MB scheint auch nicht viel Lust zu haben, das Thema zu vertiefen; sie bemerkt nur, der Slogan habe offenbar seine politische Richtung geändert: heute eine Parole der Opposition, damals die Waffe eines Vertreters der Regierung, „attacking the revolutionary counter culture in the shape of Catiline“. Auf welcher Seite stünde Cicero wohl heute? Kein sehr tiefschürfender Gedanke. Beard vergißt, daß sich Cicero Ende des Jahres 63 keineswegs in einer starken Position befand. Catilina war am 7. November in den Senat gekommen, obwohl er zuvor zum zweiten- oder drittenmal bei der Konsulwahl gescheitert war, und Cicero konnte als Konsul zwar mit einer „voice of authority“ auftreten, mußte aber darauf setzen, Catilina zu isolieren und wenn möglich in die Illegalität zu treiben, bevor seine eigene Amtszeit sieben Wochen später endete. Catilina war von Cicero schon im Jahr zuvor auf jede erdenkliche Weise verunglimpft worden, und in Rom gingen alle möglichen Gerüchte über Umsturzpläne um, nicht selten in einer Stadt, die Herrin der Welt war, aber in ihren Mauern keine institutionalisierte Sicherheit kannte. In Etrurien, so hörte man vage, gab es Unruhen und rotteten sich Unzufriedene zusammen. Doch wenn Catilina die Nerven behielt, konnte ihm der Konsul nichts anhaben. Er behielt sie nicht. Vielleicht weil er sah, daß sich im Senat keine Hand für ihn rührte (Ciceros cum tacent clamant) und er in Rom nichts zu gewinnen hatte, verließ er die Stadt und ging zu den Aufrührern. Als hochverräterische Dokumente und ein Waffenlager gefunden wurden, war Catilina längst weg. Alle Vorwürfe schienen bestätigt.
Der Denkfehler liegt in der Übertragung der Kategorien: eine übermächtige Regierung, eine schwache Opposition, der nur die moralische Ressource der Empörung bleibt – so waren die Verhältnisse in Rom nicht. Vielmehr: der Konsul, ein Aufsteiger, gegen den Sproß einer altadligen, aber herabgesunkenen Familie. Man hatte gegeneinander Wahlkampf gemacht, sich gegenseitig mit Schmähungen überzogen. Nun ging es um die Formierung von Fronten, vor allem von Ciceros Seite aus. Die Machtmittel der res publica standen dem Jahreskonsul nicht ohne weiteres zur Verfügung, weil der Senat nur schwer zu bewegen war, ihm Ausnahmevollmachten zu gewähren und den Standesgenossen Catilina als Staatsfeind zu brandmarken.
Wie fast immer sind die Kommentare höchst lesenswert. Ein Leser hat für quousque tandem bei Google 345.000 Treffen gefunden. Ein anderer hebt hervor, was viele Linke in Europa heute nicht begreifen wollen: Die Regierung in Ungarn hat für ihr Vorhaben, den Staat umzubauen, in freien Wahlen eine überwältigende Zustimmung erhalten und kann sich besser legitimiert fühlen als alle Koalitionsregierungen in den meisten Ländern, deren Handeln im Widerspruch zu Programmen und Absichtserklärungen der Politiker und dem Willen der Wähler steht. Viel Interesse finden Hinweise auf die klassische Tradition in Ungarn. Bis 1844 war Latein dort Amtssprache und Unterrichtssprache in den Höheren Schulen. Im Neuen Pauly (Bd. 15/3, 752 s.v. Ungarn) findet man die Auskunft: „Bis zum Ende des 19. Ja. war es auch für einen Landedelmann üblich, regelmäßig antike Autoren zu lesen und sie in Reden aus dem Gedächtnis anzuführen.“ Die Pflege der Alten Sprachen wurde zwar nach 1945 so nicht weitergeführt, aber die antike Literatur gewann nun durch Übersetzungen eine sehr viel breitere Leserschaft als zuvor. „Perhaps“, so der Leser, „Cicero’s legacy is more deeply engrained in the Hungarian cultural psyche than we might give those student demonstrators credit for – even if his words, in this case, have been ‚adapted‘ somewhat intriguingly“. Ergänzend ein weiterer Hinweis: ‘Fidesz‘, der Name der Regierungspartei, ist die ungarische Form von lat. fides (Treue, Vertrauen, Kredit).
Ein Kenner der Quellen erinnert an eine subtile Referenz: In der Rede an seine Anhänger, die Catilina von Sallust in den Mund gelegt wird (Catil. 20,9) beklagt sich dieser, alle Macht, Ämter und Reichtümer habe die Gegenseite an sich gebracht, „uns haben sie nur Gefahren, Wahlniederlagen, Prozesse und Bedürftigkeit übriggelassen – quae quo usque tandem patiemini, o fortissumi viri? „That at least would allow the revolutionary context to be preserved.“ Der aktuell maßgebliche Kommentar zu den Catilinarischen Reden (Andrew R. Dyck, Cambridge Greek and Latin Classics, 2008, 63) erwägt die Möglichkeit, Catilinas Satz sei historisch der ursprüngliche und Ciceros die Parodie, verwirft das aber gleich wieder, sicher mit Recht.
Ein Amerikaner berichtet, er habe den Satz vor Jahren einmal in einer Stadtverordnetenversammlung von Des Moines (Iowa) benutzt, um zwei korrupte Stadtverordnete zum Rücktritt zu zwingen – mit großem öffentlichen Echo. „Steal from the best and you get people’s attention.“ Das ist doch mal ein Vorschlag! Und viel besser als dieses vulgäre Werfen mit Schuhen! Also: Quo usque tandem abutere, Christiane Lupe, patientia nostra?