Und schon wieder Reclam – die sind aber auch hartnäckig, Bildung unter die Leute zu bringen! Italienische Bücher finden – aus welchen Gründen auch immer – nur selten durch eine Übersetzung ihren Weg in die Hand von an der Antike Interessierten hierzulande. So ist dem Verlag zu danken, der eben die Introduzione a Cicerone des Latinisten Emanuele Narducci in einer gut lesbaren und sachkundigen Übertragung herausgebracht hat; gefördert hat das – gute Übersetzungen haben ihren Preis – eine europäische Institution, das „Secretariato Europeo per le Pubblicazioni Scientifiche“.
Narducci (1950-2007) war Professor in Florenz. Eine umfangreiche, ausführlich dokumentierte Cicero-Biographie aus seiner Feder erschien postum 2009. Auch die nun vorliegende Einführung übertrifft etwa das Beck Wissen-Bändchen zu Cicero von Wilfried Stroh um mehr als das Doppelte, was vor allem daran liegt, daß der italienische Altphilologe in der chronologischen Darstellung alle überlieferten Schriften Ciceros wenigstens knapp bespricht.
Mit den historisch ausgerichteten Biographien, die zuletzt durch die Bücher von Klaus Bringmann und Francisco Pina Polo vermehrt wurden, kann und will Narducci nicht konkurrieren. Dennoch stellt er die politischen Konstellationen, in denen Cicero zu wirken suchte, gut proportioniert und abgewogen dar. Narducci überschätzt das ‘Programmatische‘ in Ciceros Agieren nicht. Aber er hat ein Gespür dafür, daß und warum der Aufsteiger aus Arpinum für einen nicht-popularen Politiker vergleichsweise kreativ war. Denn größere Vorhaben waren seit den Gracchen untrennbar mit der sog. popularen Politik verbunden. Potentiell folgenreiche Gesetzesinitiativen zielten auf Ansiedlungen, auf das Verhältnis zwischen Senatoren und Rittern, auf die Integration der Verbündeten, später auf weitreichende Heereskommanden für Pompeius und Caesar. Die Gegner dieser Politik und dieses Politikstils – auch Narducci bezeichnet sie irreführend als Optimaten – leisteten Widerstand, aber ihre Kreativität beschränkte sich weitgehend darauf, Maßnahmen zur Lähmung des ganzen Betriebs aus dem Hut zu zaubern und anzuwenden. Cicero zeichnete sich nun gewiß durch gewaltige Selbstüberschätzung aus, aber er entwickelte in den 50er-Jahren zumindest konzeptionell eine Idee dafür, die Besitzenden und an stabilen Verhältnissen Interessierten stärker zu aktivieren, als dies den antipopularen Hardlinern einfiel. Man kann diese Maxime, einen berühmten Satz aus „Der Leopard“ abwandelnd, so zuspitzen: Manches muß sich ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Dabei auch an die beati possidentes Italiens zu denken, mag man angesichts von Ciceros Herkunft und seinem individuellen Netzwerk nicht überraschend finden – innovativ war es durchaus (stand allerdings auch im Widerspruch zu seiner sonstigen Fixierung auf die Stadt Rom). Nicht zufällig verfolgte auch Oktavian/Augustus ein ähnliches Konzept, nun freilich im Sinne einer auf Autokratie zielenden Parteibildung.
Narducci informiert nüchtern und präzise; er erteilt Cicero keine Noten und rettet ihn nicht vor dem Vergleich mit Caesar oder den griechischen Vorlagen seiner philosophischen Schriften. Um das zu illustrieren, sei abschließend ein längerer Passus zum Projekt des ‘gesellschaftlichen Konsenses der staatstragenden Eliten‘ zitiert (S. 117-9):
„Die politische Linie, die Cicero als Konsul verfolgte, wird allgemein unter dem Schlagwort der concordia ordinum zusammengefasst, einer Allianz von Optimaten und Ritterstand. Ihr hauptsächliches Ziel bestand in der Eindämmung der subversiven Tendenzen innerhalb der römischen Gesellschaft, wie sie in Catilinas Umsturzversuch überdeutlich geworden waren. Ciceros Ideal politischer Eintracht bestand in einem freiwilligen Übereinkommen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, gegebenenfalls sanktioniert durch die Entscheidung bedeutender Staatsmänner. Die Interessen der besitzenden Schichten, Ritter und Senatoren, standen bei diesem Ausgleich im Vordergrund. Für die Populären war eine solche Politik damit unannehmbar.
In der Funktion des unparteiischen Vermittlers sah Cicero auch und vor allem sich selbst, da er, obschon Senator, enge Verbindungen zum Ritterstand unterhielt, aus dem er selbst stammte. Besonders in der Phase des siegreichen Kampfes gegen Catalina war Cicero überzeugt, dass er zum Angelpunkt eines Bündnisses von Optimaten und Rittern werden könnte, das die Wahrung des gesellschaftlichen Gleichgewichts garantieren und die Rückkehr zu einer Militärdiktatur wie unter Sulla verhindern würde. Um einem Abdriften einflussreicher Teile der Ritterschaft zur Popularenpartei entgegenzuwirken, versuchte er, auf eine Entschärfung der Gegensätze zwischen Senatsaristokratie und Ritterstand hinzuwirken. Weitgehende Konzessionen gegenüber den wirtschaftlichen und machtpolitischen Forderungen der Ritter waren Teil dieser Politik.
Doch obschon Cicero auch später in durchaus umstrittener Weise in diesem Sinne Stellung bezog, würde es zu kurz greifen, ihn nur als Sprachrohr des ordo equestris innerhalb des Senats anzusehen. Den Ritterstand an den Senat zu binden bedeutete für Cicero, dessen Vormachtstellung zu stärken, indem er ihm eine breite gesellschaftliche Akzeptanz sicherte. Davon abgesehen erschöpfte sich Ciceros politisches Programm nicht in der concordia ordinum, also im Zustandebringen eines Bündnisses zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen. Von Beginn an zielte es auf eine möglichst breite politische Unterstützung und signalisierte allein durch die Tatsache, dass der Konsul selbst ein homo novus war, den aufsteigenden Schichten eine Einladung zur Teilhabe an der politischen Macht.
Die historischen Grenzen dieser Position sind offensichtlich. Ihre raison d’etre bestand hauptsächlich in der Abwehr subversiver Tendenzen und der Ablehnung jeder Form politischer Massenagitation. Allen Versuchen, die wirtschaftlichen und sozialen Probleme, unter denen die römische Gesellschaft litt, zu beheben oder ihre Auswirkungen zu lindern, stand sie gleichgültig, wenn nicht ablehnend gegenüber.
Dennoch bliebe das historische Urteil unausgewogen, wollte man die innovativen Aspekte der Politik, für die Cicero sich auch in den folgenden Jahren einsetzte, außer acht lassen. Wahrscheinlich waren es ungelöste Gegensätze in seinem eigenen Werdegang, die den unmittelbaren Anstoß zu dieser Politik gaben. Auf der einen Seite waren die Verpflichtungen, die er anlässlich des Prozesses gegen Verres und der Übertragung des Oberbefehls an Pompeius gegenüber dem antisullanischen und dem populären Lager eingegangen war. Auf der anderen Seite hatte Cicero sich bei der Bewerbung um das Konsulat vehement um die Unterstützung der Optimaten bemüht. Schließlich hatte er sich durch den Kampf gegen die von Rullus eingebrachte Landreform und die Niederschlagung des Umsturzversuchs der Catilinarier stark exponiert.
Wahrscheinlich war es seine eigene politische Theorie, die ihn zu der Einsicht führte, dass sein Aufstieg nicht nur Ergebnis seines persönlichen Geschicks im politischen Handeln war. Er war auch das Resultat eines Prozesses der Einbeziehung einer Bevölkerungsschicht, die bisher abseits der politischen Macht gestanden hatte. Es waren die Angehörigen der besitzenden Schichten ganz Italiens, die Cicero später, unabhängig von ihrer Standeszugehörigkeit, unter dem Begriff der boni, der anständigen und wohlgesinnten Bürger, zusammenfasst. Ciceros Bestreben, dieser gesellschaftlichen Gruppe politische Gestalt und Orientierung zu geben, bedeutete automatisch die Überwindung der herkömmlichen Vorstellungsmuster der römischen Politik, die weitgehend in Lagerdenken und Klientelinteressen gefangen war.
Der Nachdruck, mit dem Cicero die Veröffentlichung seiner Reden und später auch seiner philosophischen Werke betrieb, belegt, dass ihm die Bildung einer Art »öffentlicher Meinung« ein wichtiges Anliegen war. Wie kaum eine andere politische Führungspersönlichkeit seiner Zeit war sich Cicero der Bedeutung der öffentlichen Meinung bewusst.“
Ausführliche Literaturhinweise, Begriffsglossar und Personenregister erhöhen den Nutzwert. Ein rundum empfehlenswertes Büchlein.
Emanuele Narducci, Cicero. Eine Einführung. Aus dem Italienischen übersetzt von Achim Wurm. 348 S., € 8,80. Reclam, Stuttgart 2012.