Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Zur Nachahmung empfohlen: das Bristol Classics Blog

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Seit einigen Monaten unterhält das Department of Classics & Ancient History at the University of Bristol ein eigenes Blog. Es soll den dort Forschenden...

Seit einigen Monaten unterhält das Department of Classics & Ancient History at the University of Bristol ein eigenes Blog. Es soll den dort Forschenden eine Plattform bieten, über ihre Arbeiten zu berichten, Vorträge und Seminare zu diskutieren und – schöne Formulierung – „muse on any classics-related things that take their fancy“. Da kein Einzelner genug Zeit habe, einmal wöchentlich etwas einzustellen (Asche auf das Haupt des hier Schreibenden!), könne eine gewisse Frequenz nur gemeinschaftlich gesichert werden. Selbst wenn die Schnittmenge an gemeinsamen Interessen gering sein sollte, bestehe doch zumindest ein Interesse an informierter und kritischer Debatte über die antike Welt und ihren andauernden Einfluß. Und das alles unter dem Bild der Walhalla bei Regensburg!

Das Kollektiv funktioniert noch nicht so richtig. Die weitaus meisten Einträge stammen von Abahachi; dahinter verbirgt sich der Althistoriker Neville Morley, ein ungemein inspirierender und produktiver Gelehrter, der sich mit Demographie und Wirtschaft in der römischen Welt befaßt und nun ein weitgespanntes Projekt zur Thukydidesrezeption vorantreibt. Wie kein anderer classicist englischer Sprache hat Morley auch zu (geschichts-)theoretischen Fragen publiziert.

Das Blog gibt Einblicke in die intellektuellen Anregungen, die von einem gut funktionierenden Department ausgehen können. So berichtet Abahachi von einem Forschungskolloquium zum Thema Intertextualität („the tendency for texts to echo/imitate/parody/rework/quote/vaguely remind one of/etc. other texts“); der Referentin zufolge gehe es vor allem um die Befriedigung im Akt des Wiedererkennens als Wiedergewinnen. Das überzeugt den Blogger nicht wirklich („Hmm.“); er fragt nach anderen Möglichkeiten: „Isn’t this all a bit unilinear in temporal terms – the theory seems to assume that a significant part of the pleasure comes from the recovery of that which was thought lost (classical literature) through recognising it in a more recent artefact, but isn’t there also pleasure (as well as anxiety etc.) to be derived from recognising later ideas in a much earlier piece – finding Hobbes in Thucydides, for example?“ Und dann, mit wunderbarer britischer Selbstironie: „But perhaps my lack of appreciation for this simply comes down to a more troubled childhood …“ Dazu paßt – von anderer Tastatur – der lateinische Bericht über die Aufführung einer griechischen Tragödie in der Originalsprache in Oxford: Die Bloggerin begeistert, eine sie begleitende Ärztin gelangweilt. „Ambo autem consensimus opus musica fuisse. (Cur quasi monachi cantant? Num sic chorus Aeschyli?).“ Und wäre es nicht schön, von einem hiesigen Theaterkritker einmal solches Schauspielerlob zu lesen: „Laudandi autem sunt qui personas principales egerunt, qui nisi tanta praesentia habuissent, nos spectatores obdormissemus.“

Ein anderer Eintrag macht auf die Paradoxie des Lernens aus Fehlern der Vergangenheit aufmerksam: Wenn sich Ereignisse tatsächlich wiederholten und Historiker sie voraussehen könnten, käme es im Idealfall zu keiner Wiederholung. Die Möglichkeit anzunehmen und beweisen zu können, setzt also immer falsches Handeln und erst nachmals bessere Einsicht voraus. „But it’s still an interesting question – and the fact that people do seek to learn from the past, albeit often in a pretty naive manner, is the starting-point for Marx’s brilliant essay on the 18th Brumaire. It’s also fodder for those who see history in terms of absurdity and irony; the alleged fact that the Russian revolutionaries knew their French revolutionary history and sought to head off the advent of another Napoleon by disposing of the person who looked most like another Napoleon (Trotsky), and passed over Stalin because he didn’t look the type. I’ve only thought of this today because of a rather interesting variant on the theme of learning from the past in this week’s Die Zeit, on the subject of Germany’s relationship to its Nazi past and the increasing number of references to it in the context of its economic and hence political power in the current Eurocrisis. ‘The German past will only definitely not return so long as the Germans are never completely sure whether it might not return.‘ Which may be only a rewrite of Santayana (no, not the guitarist), but it makes the point nicely.“

Faszinierend die methodischen und selbstreflexiven Bemerkungen, die Morley an einen Vortrag Richard Seafords über die Einwirkungen des Geldes auf die Gesellschaften im archaischen Griechenland knüpft. Und eine Tagung zur Rezeption antiken politischen Denkens läßt ihn staunend fragen, wo eigentlich die Gemeinsamkeit liegt, wenn nacheinander Vorträge zu hören sind über das Tragische im Film Deutschland im Herbst, die Kriegstaten des Sokrates, pazig´fistische lutheranische Thukydides-Leser und Bilder von Niedergang Griechenlands: „how far they were actually about utterly different things, and that it was actually quite remarkable that we could find any common ground for discussion with only the unhelpfully vague terms ‘legacy‘ and ‘political thought‘ as a basis. We could just as easily have ended up heading off in completely different directions.“ Der konstruktivistische Grundtenor mündet mit einer gewissen Notwendigkeit in einen halb banalen, halb fragenden Ausblick: „What united us, I suppose, was a shared interest in the possibility that the classical past might have or has had something useful to offer political thought. Is this a slippery slope to buying into the idea that there is something inherently special about the classical, beyond the fact that it has, historically, been believed to be inherently special?“

Zwischendurch eine pyromanische Verschwörung: „In commemoration of the anniversary of the destruction by fire of the Sydenham Crystal Palace on the same night in 1936, Gwendoline and Lucien cordially invite you to witness the burning of the Pompeian Court at 8pm GMT (12pm PST/Second Life time) on Wednesday 30 November. We will be setting fire to the Palace at 8 sharp to mark the end of our lease in Second Life and to celebrate the migration of our project to our own Open Sim server at the University of Bristol. As a friend of our project, we would love to see you there.“

Dann wieder gehaltvollere Kost: ein kürzlich publiziertes Gespräch zwischen Adorno und Horkheimer, in dem die Sowjetunion mit den einfallenden Barbaren, der Westen mit der „[Roman] slave economy“ parallelisiert werden. Messerscharf Morleys Analyse: „The analogy seems to have two facets: firstly, a historical one, emphasising the problem that a genuine and vital civilisation may rest on an immoral and inhuman base (the West depends on capitalism as Rome depended on slavery); secondly, a historiographical one, emphasising the dubious antecedents of any celebration of barbarians smashing civilisation (given that this was a prominent theme in early-mid C20 German accounts of the end of Rome). Of course, the fact that the old image of invading hordes has now been abandoned by historians allows us to sidestep the wider political issues …“

Das mit dem Gemeinschaftsunternehmen klappt, wie gesagt, noch nicht so richtig. Aber schon die Ein-Mann-Show von Neville ‘Abahachi‘ Morley lohnt in jedem Fall, die Bristol-Seite öfter zu aufzusuchen. Ich lese seine eindringlichen Texte lieber als die oft recht ‚freihändigen‘ von Mary Beard. Seit meinem letzten Besuch am 8. Febr. (auf dem dieser Eintrag beruht) schon wieder eine Handvoll höchst inspirierender Einträge …!


1 Lesermeinung

  1. Wie der Zufall es will widmet...
    Wie der Zufall es will widmet sich nun auch der Paidea-Blog dem Thema Thukydides.
    https://diepaideia.blogspot.com/
    „Die Fragen des Thukydides stellen sich dem politisch denkenden und handelnden Menschen immer wieder, heute wie damals, und dies macht sein Werk zum zeitlosen Lehrbuch der Politik und Thukydides zum Lehrer eines Wissens, das zum richtigen Handeln anleiten soll.“

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