Noch einmal Saures für die 1950er- und 1960er-Jahre, damit auch ja niemand vergißt, daß die Bundesrepublik erst durch 1968 und Willy Brandt zu einem menschlichen Land geworden ist! Einmal durchgesetzte Narrative können gnadenlos sein und dulden weder Zweifel noch Einreden: Eine ganze Generation wurde durch Schläge traumatisiert und bedarf nun der Therapie. Die Journalistin Ingrid Müller-Münch läßt sich schon im Titel ihres vielbesprochenen Buches eindeutig vernehmen: Die geprügelte Generation. Kochlöffel, Rohrstock und die Folgen (Klett-Cotta 2012). Und natürlich darf das unkaputtbare Schwarze Loch der deutschen Geschichte nicht fehlen: die emotionale Armut einer Eltern-Generation, die in der NS-Zeit aufgewachsen und selbst mit Schlägen gefügig gemacht worden war – wie notwendig war da die Auflehnung der Kinder, die unter anderem zu den großen antiautoritären Experimenten der 68er führte!
Mit solchen Verallgemeinerungen und Legendenbildungen muß ich mich zum Glück als Althistoriker nicht befassen. Sie lösen aber einen Reflex aus: Wie war das eigentlich in Rom?
Da fällt einem zunächst wohl die patria potestas ein, die unbeschränkte, erst mit dem Tod des Vaters endende Gewalt über alle Hausangehörigen. Sie schloß selbstverständlich die Züchtigung der Kinder (verbera) ein (vgl. Dion. Hal. ant. 2,26). Lin Foxhalls Artikel „child abuse“ im Cambridge Dictionary of Classical Civilization (2006) erinnert an die Historizität von Normen und den gesamtgesellschaftlichen Rahmen: „In the setting of a more violent society, harsh corporal punishment was regularly meted out by parents and teachers. Greek fathers were certainly expected to be authoritarian, and the Roman father, in his role as paterfamilias, had the power of life and death over his children. What they deemed good discipline might often be considered abuse by modern standards.“
In einem solchen Kontext sind humane Einzelstimmen wertvoll, weil sie den Horizont des immerhin Denk- und Sagbaren als weitgespannt erweisen und zugleich bei aller Dezenz einen tiefen Einblick in die verbreitete Praxis geben. Aufschlußreich ist in diesem Sinne Quintilian (Institutio Oratoria 1,3,14-17, Übers.: H. Rahn):
„Daß aber die Schüler beim Lernen geprügelt werden, wie sehr es auch üblich ist und auch die Billigung des Chrysipp hat, möchte ich keineswegs, erstens, weil es häßlich und sklavenmäßig ist und jedenfalls ein Unrecht – was sich ja, wenn man ein anderes Alter einsetzt, von selbst versteht; zweitens, weil jemand, der so niedriger Gesinnung ist, daß Vorwürfe ihn nicht bessern, sich auch gegen Schläge verhärten wird wie die allerschlechtesten Sklaven; schließlich, weil diese Züchtigung gar nicht nötig sein wird, wenn eine ständige Aufsicht die Studien überwacht. Heutzutage scheint man gewöhnlich die Nachlässigkeit des Pädagogenpersonals dadurch zu verbessern, daß man die Knaben nicht zwingt, zu tun, was recht ist, sondern sie straft, weil sie es nicht getan haben. Und endlich – wenn man den Kleinen mit Schlägen zwingt, was soll man mit dem Großen machen, dem man damit nicht mehr Angst machen darf und der doch viel mehr lernen muß? Hinzu kommt, daß aus Schmerz oder Angst den Geprügelten oft häßliche Dinge passieren, die man nicht aussprechen mag und über die sie sich dann schämen; diese Scham bricht und lähmt den Mut und treibt sogar dazu, aus Verdruß das Licht des Tages zu scheuen. Wenn gar bei der Auswahl der Aufseher und Lehrer auf deren Moral zu wenig geachtet wurde, schäme ich mich fast zu sagen, zu welchen Schandtaten solche Verbrecher ihr Prügelrecht mißbrauchen und wozu manchmal auch ändern die Angst unserer armen Kinder Gelegenheit bietet. Ich will mich hierbei nicht aufhalten: was ich andeute, ist schon zu viel. Deshalb mag es genügen, so viel gesagt zu haben: gegen die schwache und schutzlos dem Unrecht ausgelieferte Jugend darf niemandem zu große Freiheit eingeräumt werden.“
Ergiebig ist auch De clementia aus der Feder Senecas. Hier ist der Kontext zu beachten: Von der Milde ist ein Fürstenspiegel, ein Traktat also über einen guten Herrscher, gerichtet an den aktuellen. Das Idealbild sollte den Kaiser – es ist der junge Nero – als Vorbild in die richtige Richtung lenken; der lobende Autor reklamiert – das ist die Pointe der Gattung – durch das Lob für sich, die Maßstäbe definieren zu können. Als Strategie drängt sich dabei die Parallele zu einem guten Vater auf, zu guten Eltern, die über eine Bandbreite von Erziehungsmitteln verfügen: Das dem Kaiser angemessene Tun ist, „was das Tun guter Eltern ist, die ihre Kindern bisweilen schmeichelnd, bisweilen drohend schelten, manchmal auch mit Schlägen zu ermahnen pflegen“ (1,14,1, Übers. K. Büchner).
Die väterliche Gewalt über Leben und Tod ist nur noch ein Skelett im Schrank (1,15,1): „Tricho, einen römischen Ritter, hat in unserer Zeit, weil er seinen Sohn mit Peitschenhieben getötet hatte, das Volk auf dem Forum mit Griffeln durchbohrt. Nur mit Mühe hat die Autorität des Kaisers ihn den feindseligen Händen sowohl der Väter wie der Söhne entrissen.“
Das Interesse des Autors ist 1,16,2f. mit Händen zugreifen: „Für große Herrschaftsverhältnisse wollen wir aus kleineren das Beispiel holen. Es gibt nicht eine einzige Art des Herrschens: es herrscht der Princeps über seine Bürger, der Vater über seine Kinder, der Lehrer über die Lernenden, der General oder Hauptmann über die Soldaten. Wird der nicht als der schlechteste Vater erscheinen, der die Kinder mit ständigen Schlägen auch aus den geringfügigsten Gründen züchtigt? Welcher von beiden Lehrern ist der freien Studien würdiger: wer seine Schüler martern wird, wenn ihr Gedächtnis etwas nicht behalten hat oder wenn das Auge, zu wenig behend, beim Lesen hängenblieb, oder wer lieber durch Ermahnungen und Respekt verbessern und lehren will? Nimm einen harten General und Hauptmann: er wird Fahnenflüchtige machen, denen man doch verzeiht. Ist es etwa billig, daß über einen Menschen drückender und härter geherrscht wird, als man stummen Tieren befiehlt?“
Die schlichte Praxis in der Schule scheint in vielen Stellen auf. Horaz spricht von einer frühen Dichterlektüre (Briefe 2,1,69-71): „Keineswegs hege für Livius (Andronicus) ich Groll, will die Verse nicht tilgen, / die mir als Knaben – ich weiß es wie heut – mit dem Rohrstock Orbilius eingebleut hat.“ Der prügelnde Schulmeister Orbilius war offenbar eine bekannte Gestalt; „eine durch Mißgeschick verbitterte Natur“, wie im Kommentar von Kießling/Heinze zu lesen ist. Der spätantike Dichter Ausonius rät im Protrepticus ad nepotem (24ff.), sich von den Schlägen nicht den Schneid abkaufen zu lassen: tu quoque ne metuas, quamvis schola verbere multo / increpet et truculenta senex gerat ora magister: / degeneres animos timor arguit. / at tibi consta / intrepidus, nec te clamor plagaeque sonantes / nec matutinis agitet formido sub horis. Das Instrumentarium der Züchtigungsinstrumente ist reichhaltig (ebd.): quod sceptrum vibrat ferulae, quod multa supellex / virgea, quod fallax scuticam praetexit aluta, / quod fervent trepido subsellia vestra tumultu, (…). Schläge auf die Hand bekommen – das konnte für „die Schule besuchen“ stehen; vgl. Iuvenal 1,15: et nos ergo manum ferulae subduximus (Otto, Sprichwörter S. 138 Nr. 658).
Ich bin für jeden weiteren Hinweis auf einschlägige Belege dankbar!
Christian Laes, Childbeating in Antiquity: Some Reconsiderations, in: Katariina Mustakallio u.a. (eds.), Hoping for Continuity. Childhood, Education and Death in Antiquity and the Middle Ages (Acta Instituti Romani Finlandiae, 33). Rom 2005, S. 75-89.
Rekonstruktion eines Wandgemäldes aus Herkulaneum, aus: Hugo Blümner, Die römischen Privataltertümer, München 1911, S. 317.