Antike und Abendland

Schreiben Besiegte wirklich die bessere Geschichte?

Als Reinhart Koselleck 1985 seinen nachmals berühmten Aufsatz über Erfahrungswandel und Methodenwechsel konzipierte, notierte er zu allererst antike Geschichtsschreiber, um plausibel zu machen, daß den Besiegten besondere diagnostische Fähigkeiten erwachsen können: „Herodot aus Halikarnass vertrieben; Thuk(ydides) genötigt, seine Heimat als Feind zu objektivieren“. Beide begannen, Zeitzeugen zu befragen und die Aussagen auf Stimmigkeit und Unstimmigkeit zu befragen; sie besuchten Schauplätze, „um Wahrheit zu erkunden“. Die methodischen Zugriffe und die „Nichtidentität mit ihrer politischen Handlungseinheit, in der sie ursprünglich lebten“ hingen für den Bielefelder Geschichtsdenker zusammen, wenn auch selbstverständlich nicht im Sinne einer kausalen Notwendigkeit. Koselleck setzt die Reihe fort: „Polybios war Geisel in Rom und mußte ebenfalls durch die Ver­fremdung hindurch, bevor er sich als Fremder mit dem Sieger identifizieren lernte, um dann auf dieser Basis die römische Ge­schichte so zu schreiben, wie sie ein siegreicher Römer in der Identitätskontinuität selber sicher nicht hätte schreiben können. Gewisse politische Distanz gehört offenbar dazu, um einen Er­kenntnisgewinn zu erreichen, der bei der puren Identitätskontinu­ität nicht erreichbar ist. Hinzu kommt eine diachrone Distanz. die ich aber später unter anderen Gesichtspunkten behandeln möchte.

Tacitus war ebenfalls nicht einer, der in den Bürgerkriegswirren der Mitte des I. Jahrhunderts dauerhaft seinen Einfluß in der Poli­tik ausüben konnte, und seine Blickwandlung ist ja für die histo­rische Methode zweifellos von großer Bedeutung, indem er nicht mehr nur nach den Ereignissen und nach den persönlichen Inten­tionen der Menschen fragt, sondern nach der Brechung, die durch die Handlungen und Ereignisse in der Erfahrungsweise der Per­sonen hervorgerufen wird. Darin liegt seine psychologische Über­legenheit, daß er gerade die Unstimmigkeit von Erfahrung und Aussage, von Diagnose und Worten über die Diagnose selber the­matisiert. Er entzieht sich einer vermeintlich realen Ablaufbe­schreibung, um psychologische Reaktionsweisen als die Hinter­grundsfigur seiner Fragestellung zu thematisieren.“ Die Reihe wird fortgesetzt, mit Niebuhr, der sich mit Tacitus geradezu identifizierte, mit Machiavelli und Marx.

Koselleck setzt die methodischen Innovationen von Herodot und Thukydides, zumal oral history und Ethnographie (ein Mittel, „um Historie durch räumliche Differenzbestimmungen und daraus ableitbare unterschiedliche Erfahrungserschließungen möglich zu machen“), unmittelbar mit der erzwungenen Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizontes in Beziehung.

Die Zeitschrift für Ideengeschichte publiziert im aktuellen Heft „Der Besiegte“ das Koselleck’sche Vortragsmanuskript, das er nur unter stärkstem und andauerndem Druck zu einem Aufsatz weiterentwickelte, wie Christian Meier im gleichen Heft erzählt (der Aufsatz erschien 1988). Marcel Lepper liefert einen höchst lesenswerten Kommentar, und Reinhard Mehring seziert, wie das bei Prokop überlieferte Lachen des besiegten Vandalenkönigs Gelimer Carl Schmitt ein Leben lang beschäftigte.

Koselleck wußte natürlich, daß allein die Besiegtenperspektive noch keinen Methodenvorteil generiert; das Gegenbeispiel par excellence, die deutsche Mainstream-Geschichtsschreibung nach 1918 nennt er selbst. Die antiken Zeugen legen nahe, den Umstand des Besiegtseins zu ergänzen durch die Vertreibung, das Unterwegssein, den dadurch möglichen Perspektivwechsel. Die Erfahrung der Niederlage nutzte den weitaus meisten deutschen Historikern nach 1918 nichts, weil sie die Ideen von 1914 nach wie vor für richtig hielten und vornehmlich in den eigenen Archiven den Beweis für deren Richtigkeit suchten. Herodot, Thukydides und Polybios waren dagegen in einem ganz handfesten Sinn Verbannte oder, wie letzterer, interniert. Bei Tacitus, der äußerlich zu den Arrivierten gehörte, Karriere machte und es ins höchste Amt brachte, war die Vertreibung aus dem Paradies der Freiheit eine innere und damit besonders dissoziativ.

Allerdings darf man einen weiteren wichtigen Faktor nicht unterschlagen: Besiegt und vertrieben zu sein erhöht zunächst einmal das Risiko, ums schlichte Überleben kämpfen zu müssen und gar keine Gelegenheit zu haben, Beobachtungen und mußevolles Nachdenken in Einsichten münden zu lassen. Wer als Kriegsgefangener in Sibirien Erz abbauen mußte, hatte dazu wenig Spielraum, anders ein POW, der in Virginia an einer Lageruniversität lernen und die ihm bis dahin unzugängliche amerikanische Politikwissenschaft studieren konnte. Herodot nun wurde zwar vertrieben, aber ihm standen als Mitglied der griechischen Elite in Halikarnassos überall Türen offen; er hatte Gastfreunde auf Samos, in Athen und bei den Westgriechen. Auch der nach dem Verlust einer Stadt verbannte athenische Stratege Thukydides konnte offenbar reisen und in vielen griechischen Poleis Erkundigungen einziehen. Polybios, Mitglied der Führungselite des Achäischen Bundes, kam nach dessen Niederlage als Geisel nach Rom und dort in eines der vornehmsten Häuser der dortigen Elite, der Cornelii Scipiones, wo er sogar zu einer Art Hauslehrer eines zu Großem bestimmten Sprosses der Familie aufstieg und mit seinem intellektuell geschulten Blick die Römer zugleich von innen und von außen betrachten konnte. Materielle Unabhängigkeit sowie Zugang zu auswärtigen Eliten (und deren Wissen) waren also offensichtlich mehr als nur akzidentielle Bedingungen dafür, Geschichte besser, das heißt: informierter, reflektierter und triftiger zu schreiben. Sonst führt der Weg eher ins Ressentiment mit der für dieses typischen aggressiven Verdruckstheit. Und ohne eine gewisse Disposition der Offenheit geht es auch nicht – sonst würden ja alle Reisenden den Kontakt zu den ‘Einheimischen‘ suchen und klüger nach Hause zurückkehren. Christian Meier verdeutlicht an Carl Schmitt, wie voraussetzungsreich die bessere Historie der Besiegten in der Tat ist, indem er dessen unveröffentlichtes zweites Glossarium anführt. Meier: „Da heißt es einmal: Der Gescheiterte ist der Gescheitere. Zunächst einmal ist das nur eine Trotzbehauptung: Ich bin zwar gescheitert, aber nun bin ich der Gescheitere. Indes – er hätte etwas daraus machen sollen, eben indem er die Gründe seines Scheiterns schonungslos aufgedeckt hätte, zumindest intellektuell und gern auch nur für sich – aber mit Folgen für sein weiteres Werk.“ Ansonsten bleibt in der Tat auch hier nur – auf höchster intellektueller Stufe – das Ressentiment.

postscriptum: Nur wenige Jahre nach Koselleck und offenbar ohne Kenntnis von dessen Aufsatz hat Karl Christ, wie jener Jahrgang 1923, die Linie der exilierten antiken Historiker für die Althistorie als Disziplin ins 20. Jahrhundert verlängert.

 

Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel (1988), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2000, 27-77.

Karl Christ, Die Verdrängten. Zur Existenz des Historikers, in: ders., Geschichte und Existenz. Berlin (Wagenbach) 1991, 51-89.

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