Antike und Abendland

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Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Vom Charme der Sprödigkeit: Jacob Burckhardts „Griechische Culturgeschichte“, ungeglättet

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Eine Großtat ist zu rühmen. Zehn Jahre nach dem ersten ist der abschließende vierte Band der Vorlesung Griechische Culturgeschichte im Rahmen der Kritischen...

Eine Großtat ist zu rühmen. Zehn Jahre nach dem ersten ist der abschließende vierte Band der Vorlesung Griechische Culturgeschichte im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe „Jacob Burckhardt Werke“ (JBW) erschienen, mächtig wie ein Ziegelstein und doch elegant produziert.

Anders als fast alle darstellenden Werke der Althistorie des 19. Jahrhunderts vermag die Griechische Culturgeschichte (GCG) nach wie vor jedem an Hellas Interessierten wertvolle Impulse zu geben, sowohl in ihrer Gesamtsicht als auch für einzelne Bereiche. Burckhardt setzte gegen das im Laufe des 19. Jahrhunderts noch verplattete, neuhumanistisch-idealisierende Griechenbild eine sehr viel skeptischere Einschätzung, indem er etwa den sog. griechischen Pessimismus beleuchtete. Doch der Basler Gelehrte war weit davon entfernt, Kulturleistungen und Schattenseiten der Griechen einfach gegeneinander zu bilanzieren. Vielmehr begriff er genial die Voraussetzungen der griechischen Kulturentfaltung und -blüte zugleich als ihre Kosten in der Lebenswelt. Sein Werk ist bemerkenswert, weil er diese kostenreichen Voraussetzungen und hohen Folgekosten früher und klarer als andere auf dem Feld des Politischen suchte – einem Feld, das integral zur historischen Existenz Europas gehörte und gehört, nachdem die Griechen es einmal abgesteckt hatten. Das heuristische Potential von Burckhardts Poliskonzept ist heute allgemein anerkannt: eine umfassende, die Religion ebenso wie die Kultur prägende integrale Lebensordnung, in der Vernunft und Gewalt keine Antinomien darstellten. Der Begriff Polis ist überhaupt erst durch ihn in der Altertumswissenschaft und darüber hinaus heimisch geworden.

Burckhardt selbst hat nur wenige Bücher selbst zum Druck befördert; der Constantin, die Cultur der Renaissance in Italien und der Cicerone sind die berühmtesten. Die große neue Werkausgabe (JBW) ist tatsächlich überwiegend eine Nachlaßausgabe – mit allen sich daraus ergebenden editorischen Herausforderungen.

Burckhardt hat die Vorlesung zwischen 1872 und 1885/86 siebenmal gehalten, seine Materialien dafür immer wieder vermehrt und überarbeitet. Zur Wirkung gelangte sie jedoch erst, als Jacob Oeri aus den nachgelassenen Manuskripten kurz nach dem Tod des Onkels die vierbändige Buchausgabe erstellte (erschienen 1898-1902), die mit wenigen Korrekturen auch der von Felix Staehelin und Samuel Merian veranstalteten „Gesamtausgabe“ von 1930/31 sowie in den 1950er Jahren dem Abdruck in den „Gesammelten Werken“ zugrundelag. Nur in der lesbaren Textgestalt Oeris konnte Burckhardts Anschauung von der griechischen Kultur ihren Weg machen und dabei immer wieder produktive Anstöße geben.

Die Neuedition in der kritischen Werk- und Nachlaßausgabe stößt durch die geglättete Oberfläche von Oeris Text; sie legt durch sorgfältige philologische Filigranarbeit ein komplexes Original frei und erschließt damit auch Burckhardts Arbeitsweise. Dieser hatte in den 1880er-Jahren begonnen, eine Ausarbeitung der Vorlesung im Folioformat anzufertigen, bei dem es sich jedoch allenfalls um eine Vorstufe zu einem Buchmanuskript handelte (wenn denn ein solches je ernsthaft ins Auge gefaßt war). So aufbereitet wurden jedoch nur die beiden ersten Hauptteile über Staat und Religion. Hier entspricht der für die Neuedition (GCG I und II = JBW 19 und 20) maßgebliche nachgelassene Textbestand weitgehend der Ausgabe Oeris, ergänzt um editorische Hinweise, einen kritischen Apparat und die für das Verständnis unbedingt erforderlichen Informationen, darunter Übersetzungen der zahlreichen griechischen Zitate. Für den Rest der Vorlesung – im Druck die Bände drei und vier – war Oeri gezwungen, aus Konvoluten von immer wieder ergänzten handschriftlichen Stichwortblättern, Exzerpten, Vortragsmanuskripten und Notizen einen Lesetext herzustellen, wobei er sich auch der ausführlichen Kollegnachschrift eines Studenten bediente, um Burckhardts Wortlaut näherzukommen. Trotz aller Pietät wurde dabei allein durch das argumentierende Verknüpfen der in den Mappen vorgefundenen Notizen, Halbsätze und Gedanken Sperriges geglättet und Ambivalentes vereindeutigt, von einigen Mißverständnissen und irreführenden Eingriffen einmal abgesehen. Die Neuedition macht Oeris Konstruktion rückgängig; sie bietet nicht nur für beide Ausarbeitungsstufen den originalen Text Burckhardts, sondern weist auch die Arbeitsweise, soweit erkennbar, in einem kritischen Apparat nach.

Vergleiche zwischen den beiden ersten Bänden der bisherigen Leseausgaben und JBW 19/20 zeigen, wie Oeri schon dort im Bemühen um einen gut lesbaren Text Umstellungen und Akzentverschiebungen vorgenommen hat. Der originale Wortlaut des Manuskripts liest sich vielfach lapidarer, herber und läßt das oft Provozierende der Burckhardt’schen Gedanken, auch seine raschen Perspektivwechsel schärfer hervortreten. Noch sehr viel stärker gestaltet hat der Ersteditor dann notgedrungen (und glücklicherweise!) wegen des disparaten Materials in den übrigen Teilen des Werkes. Man kann es so fassen: Während Oeri in Band III und IV konstruiert hat, was Burckhardt im besten Fall im Hörsaal gesagt haben könnte beziehungsweise was er in einem von ihm selbst zum Druck beförderten Buch vielleicht geschrieben hätte, bietet die Kritische Edition der beiden letzten Bände ganz streng nur das, was er tatsächlich niedergeschrieben hat und woraus er für den freien Vortrag schöpfte beziehungsweise was ihm als Grundlage eines Buches hätte dienen können. Die Notatmaterialien für diesen Band haben sich als noch heterogener erwiesen als das JBW 21 Zugrundeliegende, weswegen die Edition einen hervorragenden Einblick in Burckhardts ‘Laboratorium‘ bietet. Die Vorlesung entpuppt sich als ein offener Text moderner Prägung, der keine Abfolge und Hierarchie von Fassungen kennt und keine Ausgabe letzter Hand zu rekonstruieren erlaubt. Der sorgfältig erarbeitete, dabei zurückhaltende Kommentar umfaßt hier allein fast 300 Seiten, die textkritischen Anmerkungen noch einmal knapp 120. Auch das Register (ca. 130 Seiten) läßt keinen vernünftigen Wunsch offen.

Der vierte Band stellt aber auch inhaltlich eine Besonderheit dar. Es ist „Regulator und Ergänzung zum Bisherigen, eine Gegenrechnung“ (so Burckhardt in der Disposition) und trägt den Titel „Der hellenische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung“, bietet also gleichsam quer zu den ersten acht Abschnitten den Stoff in chronologischer Gliederung, wobei Burckhardt auf die noch heute gängige Epocheneinteilung der griechischen Geschichte einigen Einfluß ausgeübt hat. Wie er den Griechen der heroischen Zeit, den „kolonialen und agonalen Menschen“, den „Menschen des 5. und 4. Jahrhunderts“ sowie den „hellenistischen Menschen“ bestimmte, hat in der Forschung tiefe Spuren hinterlassen. Konzepte wie das „agonale Prinzip“, das von Athen gezeichnete Bild, die im 5. Jahrhundert beginnende „Apolitie der Besten“ oder die Figur der „Zelebrität“ werden (wieder) lebhaft diskutiert.

Kritische Gesamtausgaben grundlegender geisteswissenschaftlicher Werke sind Schatzkammern intellektueller Traditionen, Hilfsmittel zu deren Aneignung und Werkstätten des wissenschaftlichen Weiterdenkens; als solche bleiben sie auch im 21. Jahrhundert unverzichtbar – und zwar als gedruckte Bücher! Ferner bilden solche Ausgaben, die bis zur Vollendung oft vieler Jahre und einer Forschungsförderung mit langem Atem bedürfen, unbeeindruckt von allen Moden und Paradigmenwechseln im Publikum und im Wissenschaftsbetrieb auch ein Fundament, das gelegt wird, ohne die darüber zu errichtenden Deutungsgebäude vorwegzunehmen. Die hier vorgelegte Edition, Resultat einer langwierigen und mit akribischer Sorgfalt betriebenen Forschungsarbeit, stellt in dieser schwierigen Gattung ein bewunderungswürdiges Meisterstück dar. Die gängige Leseausgabe – als dtv-Taschenbuchkassette und in der Digitalen Bibliothek (Directmedia 2001) weit verbreitet – genügt, um die Griechische Kulturgeschichte kennenzulernen. Wer sie jedoch neu und gründlicher entdecken möchte, sollte in eine Bibliothek gehen und den blauen Leinenband zur Hand nehmen.

Wer sich die Mühe machen möchte, eine Probe zu nehmen: hier die Bemerkungen zur berühmten Gefallenenrede des Perikles, wie sie Thukydides gestaltet hat, zunächst in der neuen Textfassung, danach in Oeris Glättung.

JBW 22, S. 204f.:

Bild zu: Vom Charme der Sprödigkeit: Jacob Burckhardts „Griechische Culturgeschichte“, ungeglättet

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Oeri:

Das verklärte Bild Athens aus der Zeit am Anfang des Peloponnesischen Kriegs haben wir nun aber in der von Thukydides (II, 35 ff.) erhaltenen epitaphischen Rede des Perikles, welche im Winter des ersten Kriegsjahres gehalten worden ist. Sie ist offenbar an ein kritisches Volk gerichtet, dem man noch nicht mit wohlfeilem Enthusiasmus kommen durfte; wer eine Festrede halten will, sollte sie darum immer vorher lesen. Vor allem verzichtet Perikles auf jeden Mythus und beschränkt sich, indem er die Toten rühmt, rein auf den Preis der gegenwärtigen Generation wegen ihrer lebendigen, stetsfort aktiven Eigenschaften, mit groß genommener Distanz. Dies geschieht mit einem Optimismus, gegen den uns zu wehren uns noch heute kaum möglich ist, dessen Parfum aber bei näherm Zusehen bedenklich verduften dürfte. Er rühmt die Gleichheitsverfassung, wobei eine Bevorzugung im Staat nur nach Maßgabe der Trefflichkeit stattfindet – daneben stand Kleon und wuchs ihm immer mehr über den Kopf. Er rühmt das ungezwungene Privatleben, die Erholungen für den Geist durch Agone, Opfer und anmutige häusliche Einrichtungen, ohne spartanische Lebenschikane, die Zwanglosigkeit des Daseins, bei der man ohne beständige kriegerische Übung doch, wenn es drauf und dran geht, so kühn ist, als die sich stetsfort Abarbeitenden (die Spartaner) – bei diesem ungezwungenen Leben war er selbst mit etlichen Prozessen gehetzt, Aspasia war kriminell verfolgt, und den Anaxagoras konnte er kaum vom Tode erretten. Er rühmt, wie man in Athen das Schöne ohne Verschwendung liebt – warum nicht, wenn man die Bundesgenossen konnte steuern lassen, damit die prächtigen Bauten möglich wurden? Er rühmt, wie auch die den Gewerben Zugewandten sich am Staate beteiligen – wir dürfen wieder an Kleon denken, der ja Gerber war. Er stellt dar, wie die Athener nicht als Empfänger, sondern als Spender des Guten ihre Freunde gewinnen und dabei nicht auf unmittelbaren Nutzen rechnen, sondern auf deren Freiheit vertrauen, wie ihr Staat eine Erziehung für ganz Hellas sei, Athen allein größer sei als sein Ruf, nur seine Feinde, wenn geschlagen, sich nicht entwürdigt, nur seine Untertanen sich nicht entehrt fühlen – demgegenüber kann man in demselben Thukydides lesen, wie verhaßt Athen bei seinen Untertanen war. Es ist nicht schwer, Thukydides durch Thukydides zu widerlegen; aber mit dem höchsten denkbaren Genie werden die Dinge so hingesagt, als verstünden sie sich von selbst, bis es dann heißt: Wir werden für Gegenwart und Zukunft der Gegenstand der Bewunderung sein; wir bedürfen keines Homer, jedes Meer und Land ist ein Schauplatz unserer Kühnheit; so errichtetenA6 wir unvergängliche Denkmäler des Guten wie des Übels, das wir zufügen können; worauf dann die Wendung folgt: Und für eine solche Stadt sind diese hier gestorben.

Jacob Burckhardt Werke. Kritische Gesamtausgabe Band 22: Griechische Culturgeschichte, Band IV: Der hellenische Mensch in seiner zeitlichen Entwicklung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Leonhard Burckhardt, Barbara von Reibnitz, Alfred Schmid und Jürgen von Ungern-Sternberg. C.H. Beck, München und Schwabe, Basel 2012. IX, 1414 S., einige Abb., Ln. mit Lesebändchen und Schutzumschlag, einzeln € 248,-.

Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte (dtv-Bibliothek). 4 Bde., München 1977 u.ö. Vergriffen, aber bei booklooker oder zvab für 10-20 Euro zu bekommen.


5 Lesermeinungen

  1. Alle Welt rühmt Jacob...
    Alle Welt rühmt Jacob Burckhardt wegen seiner Kulturgeschichte der Renaissance, aber hat sie jemand gelesen? Ich jedenfalls kenne niemanden, der es gelesen hat, und bin selbst zunächst einmal daran gescheitert. Warum? Weil es ein Werk ohne Punkt und Komma ist. Ein endloser Textfluss, dem jede Struktur zu fehlen scheint, voller scheinbar willkürlicher Assoziationen. Wer davon Gewinn haben will, muss sich schon sehr viel Mühe mit dem Text machen. Ein kluger Verleger würde vielleicht einmal auf die Idee kommen, sprechende Zwischenüberschriften und Unterkapitel einzubauen, um dem ganzen eine Gliederung zu verschaffen, die zur Erschließung des Werkes allerhöchst erforderlich ist.
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    Mit den Vorlesungen scheint es nicht besser zu sein, zumal nicht als Buchausgabe eingerichtet. Die Kommentare Burckhardts zum Epitaphios sind ja denn auch sehr dürftig. Lauter Gedanken, die, wenn man sie nicht gedanklich ausführt, auf Stammtischniveau verbleiben. Hier kann jeder das herauslesen, was ihm genehm erscheint. Warum wohl waren denn nun die Karthager die Weiseren? Und ist der Epitaphios nun „Täuschung“ oder „Optimismus“? Beides zugleich kann er ja wohl kaum sein.
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    Ohne Erschließung sind diese Werke nur noch etwas für sehr sportliche Trüffelschweine des Geistes.

  2. Savall sagt:

    Am Verdienst der Kritischen...
    Am Verdienst der Kritischen Gesamtausgabe besteht für mich kein Zweifel. Es ist dem Beck-Verlag sehr zu danken, daß er dergleichen ermöglicht. Bei Mommsen, Droysen (mit Ausnahme der „Historik“) und Ranke ist so etwas leider nicht in Sicht. Die Krux für mich als Leser besteht allerdings darin, daß ich weder Zeit, noch Geduld, noch Geld genug aufwenden kann, um aus solchen kritischen Ausgaben den gewünschten Erkenntnisgewinn zu ziehen. Ich bin darauf angewiesen, daß sich Herausgeber finden, die eine Studien- oder Leseausgabe daraus herstellen. Möglichst mit einem Kommentar, der auch den gegenwärtigen Forschungsstand reflektiert. Der Deutsche Klassiker Verlag hatte mit einer solchen Reihe begonnen. Die „Kultur der Renaissance in Italien“ ist erschienen und von mir mit Begeisterung gelesen worden. Der Text wird in jener Ausgabe übrigens durch lebende Kolumnentitel und ein ausführliches Inhaltsverzeichnis gut erschlossen, Herr Franke. Droysens Hellenismus, Mommsens Römische Geschichte und Rankes Zeitalter der Reformation sollten folgen. Leider ist es dazu nicht mehr gekommen. Es scheint leider so zu sein, daß es dafür keinen wirtschaftlichen Spielraum mehr gibt. Sehr schade.

  3. @Savall: Danke, ich habe...
    @Savall: Danke, ich habe gerade entdeckt, dass die Kröner-Ausgabe auch halbwegs annehmbare Zwischenüberschriften hat.
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    Eine weitere Stichprobe zu Jacob Burckhardts Gelehrsamkeit:
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    Was Jacob Burckhardt zu Platons Atlantis zu sagen hat, siehe der Link auf seine Griechische Kulturgeschichte. Viel und erhellendes ist es leider nicht; um genau zu sein ist es sogar oberflächlich und verfehlt. So wie seine Aussagen oben zum Epitaphios. Wieder ein Malus für Burckhardt. Irgendwie werde ich mit ihm nicht warm. Man muss nicht jeden Gelehrten mögen.

  4. Savall sagt:

    Für mich, Herr Franke, ist...
    Für mich, Herr Franke, ist jeder Historiker, um ein Wort Rankes abzuwandeln, unmittelbar zu Gott. Das heißt, daß für mich jede Interpretation von Geschichte ihren je eigenen Wert besitzt. Es gibt da kein richtig oder falsch, sondern nur ein besser oder schlechter. Nun gebe ich gern zu, daß mein Zugang zur Geschichte ein vornehmlich literarischer ist. Ich glaube nicht, daß die Geschichte eine exakte Wissenschaft ist. Hans-Ulrich Wehler würde deswegen sicher in Ohnmacht fallen und auch Herr Walter wird wohl zumindest die Stirn runzeln. Allein, ich bestehe darauf. Geschichte bedarf der Erzählung und eines Autors, der sie entwirft. Die notwendige Kritik entsteht durch die Vergleichung unterschiedlicher Standpunkte während der Rezeption. Zudem erlaubt die Literatur das Auffüllen von Lücken, die der Zufall der Überlieferung offen ließ. Ich erwähne da nur den von mir verehrten Hans Delbrück. Er mag in einzelnen Tatsachen irren, aber er ist in der Lage mit forschem Zugriff Plausibilitäten zu schaffen. Und hat nicht jeden Althistoriker der Verdacht beschlichen, daß Thomas Mann ein lebensechteres Porträt der Mittelmeerwelt um 1200 v. Chr. erschuf, als es der Fachwissenschaft möglich ist? Ich will auf keinen Fall die Wissenschaft damit abwerten. Gerade bei der derzeitigen Pergamon-Ausstellung in Berlin läßt sich doch verfolgen, wie sich Wissenschaft und Kunst aufs beste vertragen.
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    Das Atlantis-Problem ist ein weites Feld. Ich denke, daß die Wahrheit, soweit wir sie ermitteln können, irgendwo in der Mitte liegt. Ich meine damit, daß es eine reale Vorlage für Atlantis gibt, wie Hisarlik VIIb für Troia steht. Aber der Text Platons ist eine vielfach gebrochene literarische Widerspiegelung davon.

  5. Die Frage ist, ob es zwischen...
    Die Frage ist, ob es zwischen guter Wissenschaft und guter Literatur tatsächlich diesen Bruch gibt. Der Literat kann einen mythos im Sinne Platons schaffen, eine „nützliche Täuschung“, die sich der Wahrheit so gut annähert wie es geht (nicht zu verwechseln mit einem politischen Täuschungsmythos, hier stolpern 90% aller Platoninterpreten). Dabei kann der Literat auch die „niederen“ Seelenteile ansprechen.
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    Die Wissenschaft muss aber praktisch dasselbe tun, und nach Sachlage abwägen, was wahrscheinlicher ist und was weniger wahrscheinlich; und so schafft auch die Wissenschaft nützliche mythoi. Unnütze und schlechte mythoi werden von der Wissenschaft jedoch geschaffen, wenn sie Wahrscheinliches als sicher ausgibt, oder Unwahrscheinliches als widerlegt – das kommt leider oft vor; solche Wissenschaftler haben ein recht einfaches Bild von Wissenschaft. Die Ansprache der „niederen“ Seelenteile fehlt in der Wissenschaft meistens. Es gibt aber eigentlich keinen Grund dafür. Man müsste eben die Hin- und Hergerissenheit des Wissenschaftlers und sein Bemühen um Sachlichkeit, seine Selbstzügelung, in Gefühl gießen, dann wäre keine Verfälschung darin, sondern echtes Ringen. Ein Ringen, das ja wirklich stattfindet.
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    Zu Platons Atlantis: Die entscheidende Frage ist eigentlich: Wie beschaffen ist der wahre Kern: Groß und einheitlich genug, um einen bestimmten Ort Atlantis nennen zu können? Oder zu klein und zu zerfasert? Davon hängt alles ab.

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