Als Synekdochê wird in der antiken Rhetorik die Figur bezeichnet, einen Teil zu nennen und das Ganze zu meinen (oder umgekehrt). Niemand lebt nur „in den eigenen vier Wänden“, es gehören auch Dach, Böden und ein paar Fenster dazu. Diese pars pro toto kann, ins Große gewendet, dazu verführen, ein allgemeines Urteil zu bilden, wo doch zunächst nur ein Einzelding vorliegt, dessen Repräsentativität erst zu erweisen wäre. Beim Zeitunglesen (DIE WELT v. 5.4.2012) hatte ich neulich dieses Gefühl. Allösterlich gewinnt das Colosseum, Welterbe und Wahrzeichen Roms, als Teil des Kreuzweges des Papstes Aufmerksamkeit. Doch das nach den Pyramiden zweitgrößte erhaltene Bauwerk der Antike ist marode. Ein Menschenalter nach der letzten Restaurierung ist das Gemäuer von Abgasen geschwärzt; die Kälte im letzten Winter löste mehrere kleinere Mauerteile vom oberen Rand des ehemaligen Amphitheaters ab, im Dezember war ein Mauerbogen teilweise herabgestürzt, und letzten Oktober hatten Regenfälle die unterirdischen Kerker geflutet. Hinzu kommen ca. 3000 kleine Rissen im Gemäuer.
Nun hat der Mailänder Unternehmer Diego Della Valle 25 Millionen Euro für die Restaurierung des Kolosseums angeboten; als Gegenleistung verlangt er u.a. die Exklusivrechte für Werbung mit der Ruine für zwei Jahre. Und ein gemeinnütziger Verein soll 15 Jahre lang Besuchergruppen aus Schülern und Rentnern betreuen dürfen.
Die bis zum Hals verschuldete Stadt würde das Angebot gern annehmen, doch im Berlusconi-geschädigten Italien scheinen public-private-joint ventures nicht hoch im Kurs zu stehen. Zumal es auch um ersessene Rechte geht. Die Gewerkschaft der Museumsaufseher sowie Kulturbeamten und Verbraucherschützer protestierten, beklagten mangelnde Transparenz. Der Sponsor drohte abzuspringen. Kürzlich teilte die römische Bauvergabebehörde mit, das Verfahren sei rechtens gewesen, die Entscheidung über eine Klage vor dem Verwaltungsgericht steht freilich noch aus. Der Oberbürgermeister demonstrierte Tatkraft und kündigte an, die Instandsetzungsarbeiten würden im April beginnen.
Zum Langmut der Römer mag beitragen, daß das Colosseum schon viel überstanden hat. Aber, so fragt KNA, der Autor des Artikels: „warum braucht das Kolosseum überhaupt einen privaten Sponsor? Rund fünf Millionen Besucher verzeichnet das antike Bauwerk im Jahr. Rein theoretisch ergibt das jährliche Einnahmen von mehr als 50 Millionen Euro. Wo dieses Geld letztlich landet, bleibt ein italienisches Geheimnis.“
Die Synekdochê? Ja, warum nur hat der Zeitungleser in seinem teutonischen Überlegenheitsdünkel das Gefühl, die hier erkennbaren Übel – Gleichgültigkeit, Kompetenzstreit, untätige Behörden, Unterschleif und Korruption – stünden für die Krankheit eines ganzen Landes? Einst stand Rom für die ganze Welt. Heute genügt es, Italien zu repräsentieren.
Ganz anders ein Bericht aus Frankreich (Marc Zitzmann, Ein Tumulus für Vercingetorix, NZZ 27.3.2012). Während hierzulande das Arminius-/Varus-Gedenken 2009 gänzlich anlaßgebunden blieb und kaum Spuren hinterlassen hat, wurde im Frankreich der Gallier ganz außer der Reihe ein offenbar sehr gelungenes Museumsprojekt auf den Weg gebracht.
Gerade in einer Zeit, da zahlreiche Franzosen afrikanischer, asiatischer oder karibischer Abstammung sich schwerlich auf gallische oder auch römische Vorfahren berufen werden, bedarf die Erinnerung an diese einiger Arbeit und Kreativität. Frankreich hat hierfür gute Voraussetzungen, gelang es doch, sowohl den Freiheitskampf der Gallier gegen Caesar als auch die anschließend etablierte römische Zivilisation, die der in Italien nicht nachstand, zum nationalen Erbe zu machen – mit Differenzierungen, wurde doch die imperiale Tradition zumal von den beiden Napoleons gepflegt. Auch die gallische Genealogie stellt eine konstruierte Tradition dar – was nichts gegen deren Wirkmächtigkeit besagt! Zitzmann skizziert die wichtigsten Stationen: „1600 Jahre nach dem Gallischen Krieg veröffentlichte der Humanist Jean Lemaire de Belges eine pseudohistorische Erzählung, laut der die Gallier gleich den Germanen Erben der Trojaner seien. Dies zeitigte eine «Gallomanie», der etwa Rabelais und Ronsard frönten. Im 18. Jahrhundert behaupteten dann Genealogen, dass der Adel von den Franken, der dritte Stand hingegen von den Galliern abstamme. Entsprechend hoch schnellte deren Kurs in der Revolutionszeit. Henri Martins erfolgreiche «Histoire de France» erklärt 1834 dann erstmals, dass alle Franzosen von den Galliern abstammten. Martin ist es auch, der einer vergessenen Figur geschichtliches Format verleiht: «Damals lebte in Arvernia ein junger Mann, der alle Blicke auf sich zog . . .» So wird der Mythos des schönen und mutigen Arverner Fürsten Vercingetorix begründet.“ Napoleon III. gelang das Kunststück, Caesar zu feiern und gleichzeitig Vercingetorix zu rühmen, zur gegenseitigen Erhöhung beider. „Als Retter des Vaterlands, der sich angeblich den Römern ergeben hat, um den Seinen den Tod zu ersparen, wird Vercingetorix im Ersten Weltkrieg zum Vorbild für die Frontsoldaten stilisiert. Das Vichy-Regime und die Résistance instrumentalisieren den Mythos für ihre je eigenen Zwecke. Nach 1945 verwässert sich die Gallomanie zu Konsumprodukten wie den Gauloise-Zigaretten und zu Kulturerzeugnissen wie der Comicserie «Asterix».“
Um das geschichtliche Substrat und die vielfältigen Brechungen der Rezeptionsgeschichte präsent zu halten und zugleich sinnfällig zu machen, wurde kürzlich das Centre d’interprétation des Muséo Parc Alésia im burgundischen Dorf Alice-Sainte-Reine eröffnet. Anders als die Varusschlachtmemoriae kann man hier vom genius loci zehren, denn der Schlachtort von 52 v.Chr. ist spätestens seit den 1990er-Jahren eindeutig lokalisiert.
Selbst der wohlinformierte und reflektierte Autor des Artikels folgt indes an einer Stelle dem alten Narrativ, wonach „Vercingetorix‘ Niederlage gegen Cäsar die Romanisierung Galliens besiegelte“. Das spiegelt die teleologische Sicht Theodor Mommsens, der hier eine List der Geschichte annehmen mußte, denn der römische Feldherr kämpfte zuallererst für seinen eigenen Ruhm und seine beherrschende Stellung; die in der Tat erstaunlich schnelle Selbstromanisierung der Gallier war unmittelbar nach dem Kampf von weit über 100 000 Kriegern noch nicht absehbar.
Die Schau scheint einen Abstecher wert zu sein, gelinge es ihr doch auf ca. 1200 Quadratmetern, „komplexe Sachverhalte und Handlungsverläufe nicht nur verständlich und auf dem neuesten Stand der Forschung, sondern auch farben- und formenreich zu vermitteln“. Mit Recht ist die schon immer falsche Fetischisierung von Originalfundstücken (hic saxa loquuntur) aufgegeben: „Neben den beispiellos zahlreichen, aber – Hand aufs Herz – für Nicht-Archäologen ein wenig spröden Fundstücken des ehemaligen Schlachtfelds erwarten den Besucher auch rekonstruierte Waffen, Feldzeichen und Musikinstrumente sowie Dioramen, beleuchtete Reliefkarten und sogar ein 18-minütiger, in einem richtigen Kinosaal ausgestrahlter «Historienfilm» über die zweimonatige Belagerung und die finale Schlacht. Der Clou jedoch liegt am Fusse der breiten Aussentreppe, wo ein Holzsteg zu zwei je über eine Länge von 100 Metern rekonstruierten Erdwällen mitsamt Wachtürmen und von Fallen gespickten Gräben führt, wie sie Cäsar um die umzingelten Gallier herum hatte errichten lassen.“
Der Lausanner Architekt Bernard Tschumi hat für den Erinnerungsort Alesia ein „majestätisches, aber nicht monumentales Wahrzeichen“ ersonnen, einen stilisierten Grabhügel für Vercingetorix. Bis 2016 wird Tschumi auf dem Hügel, wo die Gallier sich verschanzt hatten, dieses Interpretations- und Ausstellungszentrum um ein archäologisches Museum ergänzen; insgesamt soll der MuséoParc Alésia 52 Millionen Euro kosten, zu 90 Prozent durch das Département Côte d’Or finanziert. So, möchte man mit Blick auf das Colosseum ausrufen, geht man richtig mit dem antiken Erbe um: „Die rundum verglaste, viergeschossige Ausstellungsrotunde mit einem Durchmesser von 52 Metern wird durch eine grafisch reizvolle «Haut» aus Lärchenholzbalken eingefasst, die zu acht unterschiedlich hohen Ringen gefügt sind. Vor dem Hintergrund des schwarzen Anstrichs und des ebenso getönten Rauchglases der Fassade tritt diese «Haut» in einem Farbton hervor, der im Lauf der Zeit von Rot- zu Weissgold verbleichen soll. Die umlaufende Terrasse im letzten Stock ist mit 165 Birken und Eichen bepflanzt, die dem Bau bald eine grüne Krone aufsetzen werden. Im Innern empfängt einen ein weiträumiges, lichtes und leichtes Atrium, das im ersten Stock ein Gang umläuft. Hier dominiert das helle Perlgrau eines Betons von erlesener Qualität, der in Gänze vor Ort gegossen wurde – selbst die mächtigen, leicht angeschrägten Säulen, die das Auditorium über dem Atrium tragen, wurden nicht vorgefertigt.“
Ungeachtet kleiner architektonischer Ungereimtheiten „ist der Bau wohlproportioniert, von schlichter Grösse und seinem Inhalt auf den Leib geschneidert – sowohl von der Form her (der Kreis verweist auf die Umzingelung der Gallier) als auch vom Material (die Römer im Tal verwendeten Holz als Baumaterial, derweil ihre Gegner auf dem Hügel einen Steinwall errichteten, aus welchem Material die «Haut» des künftigen archäologischen Museums dort bestehen wird). Richtiggehend magisch ist im Atrium die Qualität des Lichts, das leicht diffus wirkt und am Nachmittag eine sanft rosagraue Tönung annimmt.“
Zum Weiterlesen:
Helga Botermann, Wie aus Galliern Römer wurden. Leben im römischen Reich. Stuttgart (Klett-Cotta) 2005
Keith Hopkins, Mary Beard, The Colosseum. Cambridge, MA (Harvard University Press) 2005
Julius Caesar hat Europa...
Julius Caesar hat Europa geschaffen.
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Erst die Eroberung Galliens und Britanniens hat es ermöglicht, dass sich die Römische Zivilisation auch nördlich der Alpen ausbreiten konnte. Nicht mehr nur im Mittelmeerraum, sondern auf dem Landrücken zwischen Alpen und Ostsee.
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Das römische Gallien war die Kulturlandschaft, wo sich erst Kelten und dann Germanen zivilisierten und christianisierten. Hätten die Römer nicht Gallien erobert, wäre auch Deutschland nie entstanden.
Der Newsletter von...
Der Newsletter von archaeologie-online.de verweist auf einen Artikel, demzufolge der Ort von Alesia nach wie vor umstritten sei.
https://www.europeonline-magazine.eu/streit-um-geschichtspark-die-schlacht-um-alsia-geht-weiter_207503.html
Immerhin lernt man daraus, dass auch dort eine gigantische Bronzestatue errichtet wurde, doch seltsamerweise sieht der mutmaßliche Begründer der civilization francaise erheblich barbarischer aus als sein germanisches Pendant:
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:F07_Alesia,_Statue_Vercingetorix.0044.JPG
Nun ja, unser Arminius war eben auch römisch gebildet, zudem siegreich, der olle Vercingetorix hingegen war keines von beidem. Wer nationale Ressentiments bedienen will, findet hier ein reiches Betätigungsfeld …
Für alle Skeptiker und...
Für alle Skeptiker und Rätselfreunde:
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Hier eine deutschsprachige Seite von Alesia-Lokalsierungsdissidenten, teils nicht ohne Esprit:
https://alesia.jura.free.fr/G_index.html
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Der Umstand, dass Napoleon III in die Lokalisierungsfrage eingegriffen haben soll, lässt in der Tat aufhorchen … und dass die Klärung von 1990 eine deutsch-französische Angelegenheit gewesen sein soll – o my goood! Das ist ja hochpolitisch!!! Das war keine gute Idee. Warum hat man nicht auch italienische oder amerikanische Wissenschaftler geladen?
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Vielleicht lag Alesia aber doch bei Sainte-Reine … die Hinterfragung von solchen Meinungen ist jedenfalls immer eine gute Denksportaufgabe.