Wenn sich bekannte Standpunkte laut und mit teils ‘modernen‘ Argumenten Gehör verschaffen, wenn andererseits die Praxis in eine andere Richtung zu weisen scheint, sich aber ihrer Sache in der vielstimmigen öffentlichen Debatte nicht sicher ist, dann bestehen die Voraussetzungen für Bewegung, vielleicht sogar für einen Umschlag. Ob, wann und wie schnell dieser kommen wird, kann noch niemand absehen. Eine solche vorrevolutionäre Erwartung liegt jedenfalls nahe, wenn man liest, was Josef Rabl vom Deutschen Altphilologenverband dankenswerterweise in einem Pressespiegel zusammengestellt hat. Alle Beiträge erschienen Ende April.
Das Primitivste zuerst: ein Kommentar in der Hagener Westfalenpost, eingerahmt von einer griechischen und einer lateinischen Wendung, mit ‘Argumenten‘ auf sehr verschiedenen Ebenen. Veränderung sei „nun einmal ein Grundmuster unseres Daseins“. Dann das sprachlich ungelenk variierte Professor Unrath-Stereotyp wider den Lateinunterricht: „Über leidvolle Gymnasial-Generationen hinweg wurde am Erwerb des (Großen) Latinums als einer vermeintlich unverzichtbaren Säule unserer aufgeklärten Zivilisation festgehalten. Ungezählte Schüler wissen ein dumpf-trauriges Vokabel- und Grammatiklied auf das stundenlange (und nicht selten erfolglose) Pauken einer Sprache zu singen, die schon unsere Altvorderen als ‘tote Sprache‘ einzugestehen hatten.“ Im „Zeitalter der unumkehrbaren Globalisierung“ sei es nicht zu rechtfertigen, den Schulstundenplan mit täglichem Latein-Büffeln anzufüllen. Dann ein wenig Küchenpsychologie: „Wer eine Fremdsprache einigermaßen beherrscht, wünscht sich sehnlichst, mindestens noch eine weitere ähnlich gut zu können.“ Die Nutzwerterwägungen der alles nur nach dem Nutzwert wägenden Wirtschaft schimmern auch schon hindurch: Mit Latein sei „kaum eine Karriere zu machen – sieht man einmal von einigen akademischen Sonderwegen ab“. Sonderwege, das sollten die leidgeprüften Deutschen wissen, haben noch nie zu einem guten Ende geführt. Also lieber zurück in eine Kosten-Nutzen-Abwägung und zurück ins Leben: „Spanisch, Türkisch, Chinesisch oder andere quicklebendige Sprachen sind das Gebot der Stunde. Je mehr, desto besser. Also: Discite moniti! – Lernt, ihr Ermahnten!“ Ihr Lemminge, lauft mit der großen Herde! Und die genannten Sprachen sind ja so leicht zu erlernen, ähnlich wie Englisch oder Französisch, zwei ‘klassische‘ moderne Sprachen, in denen Abiturienten (wie ich als Hochschullehrer sehr genau weiß) ja durchweg fließend parlieren können!
In www.derwesten.de sekundiert ein anderer Journalist: Latein werde nur noch gelernt, „weil es Universitäten in etlichen Studienfächern von Medizin bis Geschichte immer noch verlangen – selbst wenn es gar nicht mehr gebraucht wird. Oft ein überflüssiger Zopf, der abgeschnitten gehört.“ Die Wahl der zweiten Fremdsprache nach Englisch dürfe sich allerdings „nicht nur nach den Forderungen der Wirtschaft richten“. Nicht nur, immerhin. Das Vernünftigste sei es, „ eine weitere Sprache zu lernen, die in möglichst vielen Ländern der Welt gesprochen wird – Spanisch also. Nicht nur, um Geschäfte zu machen. Sondern um Menschen zu verstehen.“
Eine clevere Argumentation. Ihr liegt ein janusgesichtiges Bild von Globalisierung zugrunde: Gut ist diese, wo Menschen zusammenkommen, junge Leute um die Welt reisen, dabei andauernd kommunizieren. (Daß Bildung und Persönlichkeitsbildung auch eine andere Komponente haben können, das stille bei sich und bei einer Sache Sein und die bewußt gesuchte Distanz zur ‘Welt‘ mit ihrem Rauschen und ihren Moden, um einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, auch mit Hilfe der geduldig erworbenen Fähigkeit zur kritischen Analyse von Sprechakten – das vergessen wir geflissentlich.) Schlecht ist Globalisierung, wenn sie die Interessen der Kapitalverwertung zum Leitmaßstab werden läßt.
Doch in der gleichen Ausgabe liest es sich ganz anders, wohl auch ehrlicher. Und armiert mit dem angeblichen Wunsch von Arbeitgebern, Lehrern und Wissenschaftlern. Sie raten Schülern ganz ausdrücklich ab, viel Zeit in das Erlernen toter Sprachen zu investieren. „Mit Beschäftigten, die den ‘Ablativus Absolutus‘ beherrschen, ist Arbeitgebern nicht gedient. Sie wollen Sprachkompetenz, die weltweit sofort einsetzbar ist.“ Junge Menschen, so Barbara Dorn von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, „sollten durchaus darüber nachdenken, neben Englisch eine weitere Sprache wie Französisch, Spanisch, Chinesisch, Russisch oder Türkisch in der Schule zu lernen.“ Persönlichkeit und intellektuelle Eigenständigkeit durch den analytischen Umgang mit Sprache und historische Kommunikation? Offenbar überflüssig, gebraucht werden polyglotte Kommunikations-Automaten nach dem Vorbild von R2D2 (das ist ein Protokoll- und Übersetzungsdroide aus „Star Wars“). Noch einmal Dorn: „Unser modernes Wirtschaftsleben ist auf den Austausch mit anderen Ländern ausgerichtet. Viele Wirtschafts-Partner sitzen in Osteuropa, Asien und Lateinamerika. Und viele Kunden, auch im Inland, sprechen nicht Deutsch. Wir brauchen Beschäftigte, die die Sprachen dieser Menschen sprechen.“ Der Chef des Verbandes Moderne Fremdsprachen (nein, da stehen gar keine Interessen dahinter!) verlangt ein größeres Angebot von Sprachen wie Chinesisch oder Niederländisch an den Schulen. Schüler mit solchen Sprachkenntnissen hätten später viel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als „Lateiner“. Läßt sich das empirisch belegen? Und die „Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“, seit Jahrzehnten Sturmtrupp wider das Gymnasium, macht in Mitgefühl: In Latein scheitern Schüler mit am häufigsten. „Es fehlen Anwendungsmöglichkeiten und somit der praktische Nutzen, der Kinder den Sinn des Lernens erschließen lässt.“ Auch Studierende sähen den Sinn von Latein als Voraussetzung für einige Studienfächer nicht ein, so die Leiterin des Fremdsprachen-Zentrums an der Ruhr-Uni Bochum (nicht zufällig eine Neusprachlerin?). Viele Studenten hielten diese Hürden für eine versteckte Zulassungsbeschränkung. Flankiert wird das Statement mit einer Szene aus dem Herzen der Finsternis: „Mittwoch, 8.30 Uhr, Ruhr-Uni Bochum: Im Hörsaal HGB 20 ist die Stimmung nicht nur wegen der frühen Stunde düster. Die Mienen der Studenten passen zum Ambiente. Die Szene wirkt so heiter wie eine Schallschutzmauer an der A 40. Hier sitzen junge Menschen, die wegen diverser Zulassungsbestimmungen ihr Latinum nachholen müssen. Ihr Frust ist groß. Weil sie wissen, dass dieser Kurs im normalen Studienalltag kaum zu bestehen ist. Weil es sich den meisten nicht erschließt, was ihnen dieser Kurs im Studium anderer Fächer bringen soll.“ Die entsprechenden Mathekurse für angehende Psychologen, Ökonomen und Biologen finden hingegen, so ist zu vermuten, zu einer studierendenfreundlicheren Zeit statt, in mediterran anmutenden Lounges, die Gesichter der Teilnehmer fröhlich. Wieviel dumpfe Demagogie sich hinter Journalismus doch immer wieder verbergen kann!
Doch – ähnlich wie es vereinzelt immer noch unbelehrbare Familien geben soll, die ihre kleinen Kinder zu Hause erziehen wollen -, hat Latein noch „bisher allen Versuchen, es als Schulfach zu beerdigen oder zumindest in seiner Wichtigkeit zu beschneiden, getrotzt. Eine Viertelmillion Schüler lernen in NRW Latein, viel mehr als vor zehn Jahren. Weil es allgemein den Umgang mit Sprache schulen und das Lernen weiterer Sprachen erleichtern soll. Und weil viele glauben: Vielleicht brauche ich das Latinum ja später an der Uni. Laut neuester Erkenntnisse helfen Lateinkenntnisse sogar beim Erlernen und Verstehen des Deutschen, laut Altphilologen-Verband eine große Chance insbesondere für Kinder mit Migrationshintergrund.“
Noch einmal die Warnung vor dem Sonderweg. Doch der Präsident des Gesamtverbandes Moderne Fremdsprachen zieht eine gefährliche Karte: „In Frankreich lernt vielleicht ein Prozent der Schüler Latein, in Bayern sind es 50 Prozent der Gymnasiasten.“ Vielleicht gibt es deshalb in Bayern, gemessen an der Bevölkerungszahl, so viel höhere Schulden und mehr Arbeitslose als in Frankreich. (Das war sarkastisch gemeint; in Wirklichkeit ist es natürlich genau umgekehrt. Hier einen Kausalzusammenhang in der einen wie der anderen Richtung herstellen zu wollen, ist schlicht abwegig.)
Lateinlehrerinnen und -lehrer müssen in dieser Gemengelage wahrscheinlich vorsichtig argumentieren, dürfen also nicht deutlich darauf hinweisen, daß hinter den „Latinum in latrinam“-Rufen handfeste wirtschaftliche und verbandshegemoniale Interessen stehen, die mit dem Bedürfnis von Kindern nach gründlicher und vielfältiger Bildung zu einer kritischen und eigenständigen Persönlichkeit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Immerhin, eine Vertreterin und ein Vertreter des Faches bringen im Interview nicht nur die alten Begründungen („Transport, Nase, Nivea – das sind alles lateinische Worte.“; Schulung kognitiver Fähigkeiten usw.), sie halten – in Maßen – gegen den lauten Sound der Verwerter und Small-talk-Vorkämpfer. Auf die Frage, ob es für Schüler, die ihre berufliche Zukunft in der Wirtschaft sehen, vertane Zeit sei, Lateinvokabeln zu pauken, kommt eine maßvolle, aber klare Antwort: „Wer das sagt, denkt nur an ökonomische Gesichtspunkte. Die Bildung eines Menschen hängt aber nicht nur davon ab. Es ist ein verkürzter Bildungsbegriff, allein von der Wertung von Wissen auszugehen.“ Latein sei historische Kommunikation. „Wir kommunizieren aus unserer Zeit mit der Vergangenheit. In der Oberstufe werden etwa philosophische und ethische Texte gelesen, die einen neuen Blick auf unsere heutige Zeit und die Auseinandersetzung mit der Gegenwart ermöglichen.“ In der Tat! Texte für sich genau zu lesen, versteckte Annahmen, fadenscheinige Argumente und schlicht Abwegiges erkennen zu können, das sind Fähigkeiten, die umso wichtiger werden, als ansonsten vielfach die an Orwell gemahnende Parole „Arbeite! Konsumiere! Kommuniziere!“ als alternativlose Zukunft verkauft wird. Latein kann demgegenüber widerstrebig sein: „Man muss sich die Sätze erknobeln. Jeder Buchstabe zählt. Man muss genau hinschauen. Wir nennen das mikroskopisches Lesen. Das benötigen beispielsweise auch Bauingenieure. Latein erfordert zugleich Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz.“
Vielleicht bleibt die Revolution ja aus, die Vielfalt bestehen. Hoffnung macht ein kreativer Lateinunterricht, der mit den oben zitierten Paukschulübungen nichts mehr zu tun hat. Und so halten sich Nischen, die ja auch Schutzräume gegen das Schieben der Masse in eine Richtung darstellen. An der Otto-Pankok-Schule in Mülheim etwa haben unlängst 32 Schülerinnen und Schüler in Klasse fünf mit Latein als zweiter Fremdsprache begonnen. Zwei Kurse, im nächsten Schuljahr ebenso. Das macht Mut. Und selbstverständlich fordert kein Lateinlehrer, den Französisch- oder Spanischunterricht oder die Mandarin-AG abzuschaffen. Das ist wahre Liberalität im europäischen Geist – auch wenn sie kein Gegenstück auf der anderen Seite hat.