Antike und Abendland

Wie weiter mit Thukydides?

Von Jacob Burckhardts Interpretation der einst berühmten Gefallenenrede des Perikles im zweiten Buch der Geschichte des Peloponnesischen Krieges aus der Feder von Thukydides war hier schon die Rede. Auch die Teilnehmer einer Tagung zu diesem Autor, die kürzlich im Rahmen des Berliner altertumswissenschaftlichen Exzellenzclusters TOPOI stattfand, fanden immer wieder Anlaß, auf diese Rede zurückzukommen („Between Anarchy and Order. Herrschaftskonzeptionen bei Thukydides“). Die Referenten aus verschiedenen Fächern repräsentierten zugleich differente Kulturen: philologisch geschulte deutsche Althistoriker trafen auf englischsprachige Vertreter von International Relations und Politischer Ideengeschichte. Am Ende bescheinigte man sich, sicher zu Recht, viel voneinander gelernt zu haben, auch wenn die deutschsprachigen Beiträge fast nur von den einheimischen Teilnehmern und Gästen diskutiert wurden, die englischsprachigen von Muttersprachlern dieser Zunge.

Das Gespräch über die Disziplingrenzen findet seine Grenzen jedoch in den sehr unterschiedlichen Zugriffen. Thukydides muß genau und ganz gelesen werden; jede seiner Aussagen kann nur im Textumfeld richtig verstanden werden, auch das literatur- und kommunikationsgeschichtliche Umfeld spielt für die Interpretation eine wichtige Rolle. Für wen schrieb Thukydides? Für künftige Entscheider? Das mußte relativ unbestimmt bleiben, weil der politische Raum zumal in Athen keine fest umrissene Elite kannte. Aber Thukydides konnte nicht umhin, sich sein Publikum und das berühmte Ziel des Werkes, ein „Besitz für immer“ zu sein, ein Stück weit auch konstruieren. Nützliche Bücher gab es zu seiner Zeit schon, aber das waren die Fachbücher für Spezialisten – Ärzte, Seeleute -, während die Politik und die „menschliche Natur“ gerade keine spezialistischen Gegenstände waren. Epideiktisch, also die Taten rühmend konnte das Werk andererseits schon wegen der Struktur seines Gegenstandes schwer sein, dem standen auch Homer und Herodot im Wege, von denen sich Thukydides deutlich abgrenzte. Also ein ganz neuer, eigener Weg. Und genau zu lesen? Ernst Baltrusch, einer der Veranstalter, vertrat die Ansicht, daß aitiai und diaphorai einerseits, die „wahrste und zugleich am meisten beschwiegene prophasis“ andererseits (1,23) keineswegs als Gegensätze zu lesen seien, sondern komplementär zueinander stehen. Maßgeblich kommt es da auf ein Wort an – gar -, das nicht als „aber“, sondern explikativ zu verstehen sei. Aber ist es deswegen ‘falsch‘, sich für eine Unterscheidung von vordergründigen, kurzfristigen Anlässen und tieferen, langfristig-strukturellen Ursachen auf Thukydides zu beziehen, wenn diese monumentalische und zugleich kritische Benutzung so viel Erkenntnis zu stiften imstande war und ist?

Die Beiträge der nicht-altertumswissenschaftlichen Disziplinen verdeutlichten noch einmal, daß es eine ‘falsche‘ Rezeption gar nicht geben kann, aber die neuen Kontexte und die besonderen Interessen der Rezipienten den aktualisierten Autor und dessen Text immer wieder neu erfinden. Dessen Geheimnis aber ist, daß er ein solches Anwenden auf die eigenen Orientierungsbemühungen (Thucydides – a manual?) stets neu mit Autorität versieht. Als die Geschichte im 19. Jahrhundert zwischen Rhetorik und Dogmatik Wissenschaft zu werden begann, suchten ihre Vorkämpfer für das, was sie sagen und tun wollten, ein Vorbild bei den Alten und fanden es im Thukydides – Leopold Ranke ebenso wie Wilhelm Roscher. Zumal die sog. Realistische Schule der Wissenschaft von der Internationalen Politik erkannte im Melierdialog einen verwandten Geist und einen beweisenden Text. Leo Strauss (1899-1973) lernte von Thukydides, Politik in Ambivalenzen, Gegensätzen und Spannungen zu konzeptualisieren, und schärfte seine Kritik des politischen Idealismus an ihm. Richard Lebow berichtete beiläufig, wie er vor mehr als fünfzig Jahren bei Strauss eine Seminararbeit über Thukydides schrieb, obwohl er eigentlich Schüler von Hans Morgenthau (1904-1980) war – und wie beide Gelehrte sich über Nietzsches Lektüre des Thukydides austauschten.

Aber die Funktionalität reicht eben nicht; der Text muß etwas in sich haben, was einen immer wieder aufs Neue in ihn hineinzieht. Das sind dann nicht selten originäre Erlebnisse, zufällige Begegnungen, Intuitionen. Jacqueline de Romilly, die vor knapp zwei Jahren verstorbene herausragende Kennerin des Thukydides, hatte von ihrer Mutter einst eine zweisprachige Ausgabe als Ferienlektüre erhalten. Sie kam nicht mehr los und schrieb als Gräzistin mehrere Bücher über den glasklaren Athener, der doch soviel Sinn für das Tragische hatte. Peter Spahn erinnerte daran, daß die FAZ am Tag nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag 1968 den Melierdialog komplett abdruckte.

Schöne Dicta gab es auch. „The Spartans die if they have to, but they don’t look for trouble. The Athenians always looked for trouble.“

Die mobile Version verlassen