Schnäppchenjagd hat mit Recht einen schlechten Ruf. Zu sehr vernebelt „Geiz ist geil“ den Blick dafür, daß Qualität ihren Preis haben muß, damit auch künftig noch Qualität sein kann. Die Wertschätzung für gute Arbeit, ein gutes Produkt geht verloren, und wenn einmal ein solches sehr günstig zu bekommen ist, macht der Triumph, es „billig“ bekommen zu haben, die Sensoren für die Güte blind und taub.
Es gilt dann, sie wieder zu empfindungsfähig zu machen, indem man zum Beispiel ein paar Tage mit dem günstig Erworbenen lebt, es immer wieder zur Hand nimmt, Entdeckungen macht, gerade die kleinen Dinge aufsucht und findet. Davon soll hier kurz berichtet werden. Der Anlaß: Bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft – die sich selbst lieber WBG nennt, weil „Buchgesellschaft“ angeblich antiquiert klingt – gibt es zur Zeit Friedrich Nietzsche, Frühe Schriften 1854-1869, fünf staatliche (muß natürlich heißen: stattliche – Korr. UW) cremeweiße dtv-Bände im roten Schuber, vor fast zwanzig Jahren 148 D-Mark teuer, für sage und schreibe 20 Euro zu kaufen. Es handelt sich um einen Nachdruck der Kritischen Werkausgabe, die in den 1930er-Jahren vom Weimarer Nietzsche-Archiv im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften begonnen wurde, kriegsbedingt aber nicht über fünf Bände hinauskam. Da viele Manuskripte des Schülers, Studenten und Soldaten philologischen Inhalts waren, haben Klassische Philologen maßgeblich an der Edition mitgewirkt. Sie geriet so gut, daß Colli und Montinari diese Aufzeichnungen zum größten Teil nicht in die große Kritische Gesamtausgabe und die darauf beruhende Kritische Studienausgabe aufgenommen haben, sondern auf die BAW-Ausgabe verweisen. Nur die Kinderschriften sind in der Fortführung der KGA neu ediert worden.
Auch wer in Nietzsches Philosophie nicht bewandert ist, sie für antiquiert hält oder gänzlich ablehnt, wird in diesen Bänden einen Aus- und Selbstbildungsgang entdecken, der durch enorme Vielfalt und eine bis an die Schmerzgrenze reichende nervöse Intensität gekennzeichnet ist. Begabung und Ambition schenkten einander nichts. Im Sommer 1864 schrieb der noch nicht zwanzig Jahre alte Absolvent der berühmten Philologen- und Theologenschmiede Schulpforta einige Blätter nieder, selbstbewußt „Mein Leben“ betitelt. (Schon 1858 hatte er eine erste autobiographische Skizze verfaßt: „Aus meinem Leben“, 1,1-32). In jener bescheinigt er sich ein lange verfolgtes „planloses Irren in allen Gebieten des Wissens“. Genügsamkeit im Sinne eines ‘vernünftigen‘ Einsatzes intellektueller Ressourcen war seine Sache nie (3,68):
«Zugleich erwuchs zunehmend meine Neigung für klassische Studien; ich gedenke mit der angenehmsten Erinnerung der ersten Eindrücke des Sophokles, des Aeschylos, des Plato vornehmlich in meiner Lieblingsdichtung, dem Symposion, dann der griechischen Lyriker.
In diesem Streben nach zunehmender Vertiefung des Wissens stehe ich noch jetzt; und es ist natürlich, daß ich über meine eignen Leistungen meistens ebenso geringschätzend denke, wie oft auch über die anderer, weil ich fast in jedem zu behandelnden Stoff eine Unergründlichkeit oder wenigstens eine schwere Ergründlichkeit finde. (…)
Jetzt, wo ich im Begriff bin, auf die Universität zu gehn, halte ich mir als unverbrüchliche Gesetze für mein ferneres wissenschaftliches Leben vor: die Neigung zu einem verflachenden Vielwissen zu bekämpfen, sodann meinen Hang, das Einzelne auf seine tiefsten und weitesten Gründe zurückzuführen, noch zu fördern. (…) Im Kampf mit der einen, in der Förderung der andern hoffe ich zu siegen.»
Die beiden ersten Bände erfassen die Schulzeit und bieten in zeitlicher Folge Gedichte und Balladen, Abhandlungen für die Schule, rhetorische Fingerübungen, Notizen, Exzerpte, Entwürfe, dramatische Dichtungen (darunter ein Prometheus und eine Verschwörung des Philotas), Reise- und Ferienbetrachtungen. Kurioses wie den Entwurf zu einem Brettspiel „Reiße nach Sewastopol“, entstanden während des Krimkrieges. Manches in mustergültigem Schullatein: die Geschichte des Königs Mithridates; die Gründe Ciceros, ins Exil zu gehen; die Einleitung von Livius‘ Geschichtswerk; die Bedeutung der Könige für die Ausgestaltung Roms. Auch Interpretationen von Passagen griechischer Tragödien. Neben griechischen und römischen Stoffen stehen Christliches, Nordisches (Nibelungen; Ermanarich) und deutsche Literatur (Hölderlin!), auch Musik und (Schul-)Philosophie.
Dann die Studenten- und Militärzeit. Nietzsche vertieft sich in die trümmerhafte Überlieferung der frühen griechischen Dichter, zumal des Theognis. Die Wahl sollte sich im Rückblick als keineswegs zufällig erweisen, kann dieser Dichter aus Megara doch als Begründer einer schroffen aristokratischen, zugleich pessimistischen Ideologie gelten: Die Masse ist schlecht, aber die alte Zeit, als sie nichts galt, ist tot, in der Moderne drängt sie an die Macht.
Aber der Patorensohn hält auch einen Vortrag über die kirchlichen Zustände der Deutschen in Nordamerika. 1867 dann der erste gelehrte Aufsatz in einer Fachzeitschrift. Sein Lehrer Ritschl vermittelt einen Kontakt zu dem damals prominenten Privatgelehrten Wilhelm Dindorf (1802-1883), den man wohl einen philologischen Großunternehmer nennen kann. Die Schilderung der Begegnung mit ihm – ein Kabinettstück (3,306):
«Ein starker Mann mit pergamentnen Zügen und formeller Höflichkeit, eine Persönlichkeit, die einen altmodischen Eindruck machte, die aber in dem forschende(n) unbeweglich scheinen wollende(n) Auge einen Zug hatte, welcher aufforderte, daß man auf seiner Hut sei: ein solcher Mann öffnete mir die Thür und geleitete mich in ein altfränkisches Zimmer. Wir suchten uns über die verlangte Aufgabe zu verständigen. Er verlangte von meiner Seite eine Probe, die ich ihm versprach. Bei späteren Besuchen, nachdem er mein opusculum über Theognis kennen gelernt hatte, wurde er mir bedenklich durch die freie, ja freche Art, mit der er mich lobte, in{s)gleichen mit seinen hingeworfnen Ansichten, die einen starken aber unethischen Pessimismus verriethen: anderseits leuchtete ein widerwärtiger merkantiler Egoismus hervor. Sein Markten mit Conjekturen, sein Hin- und Herverkaufen seiner Ausgaben an deutsche und englische Buchhändler noch mehr sein Zusamme(n)hang mit dem berüchtigten Simonides haben mich allmählich scheu gemacht, so daß ich endlich mich von ihm zurückzog und alle gemachte(n) Propositione(n) aus den Händen fallen ließ.»
Hier haben die Editoren einen kurzen Moment nicht aufgepaßt, wie der Eintrag im Register beweist: Der hier erwähnte Simonides war nicht etwa der berühmte altgriechische Dichter der Perserkriegszeit, sondern der damals berüchtigte neugriechische Handschriftenfälscher Konstantin Simonides, der unlängst im Verdacht stand, den Artemidor-Papyrus fabriziert zu haben (zu seiner schwer faßbaren Gestalt s. Rüdiger Schaper, Die Odyssee des Fälschers. Die abenteuerliche Geschichte des Konstantin Simonides, der Europa zum Narren hielt und nebenbei die Antike erfand, Berlin 2011).
Auf den späteren Wissenschaftskritiker Nietzsche weisen einige Stücke im vierten und fünften Band voraus; neben immer neuen Plänen und Entwürfen stehen Reflexionen über das richtige Studium der Philologie und wie eine Geschichte der griechischen Literatur anzulegen sei. In diesen frühen überlieferungs- und literaturgeschichtlichen Arbeiten schlägt Nietzsche aus der Kritik am biographischen Material mit seinen Legenden, Lügen und Kombinationen ikonoklastische Funken – etwas milder könnte man von Dekonstruktion sprechen. Der Student, so Jan Roß, „experimentiert hier zum ersten Mal mit jener seelenkundlichen Entkleidungskunst und Seziertechnik, mit der er als Philosoph noch vielen Gegenständen zu Leibe rücken sollte. (…) Es wirkt wie die Geburt einer neuartigen publizistischen Bösartigkeit aus dem Geiste der Klassischen Philologie.“
Nachdem der noch nicht Fünfundzwanzigjährige ohne Promotion eine Professur in Basel erhalten hatte, ließ er in der Antrittsvorlesung seine erste Bombe platzen. Homer und die Klassische Philologie sowie Unterlagen für die Vorlesung über die griechischen Lyriker bilden den Abschluß der Ausgabe. Abgedruckt sind auch die Notizen zum Vortrag, in denen man N. gleichsam beim Ringen zusehen kann; in ihrer analytischen Schroffheit geben sie reichlich Stoff zum Nachdenken (5,268ff.):
«Einbildung daß die Philologie zu Ende oder in Abnahme ist, weil die aesthetische Begeisterung für das Alterthum einer historischen Auffassung gewichen ist.
Bei dem Gefühl der allzu starken Subjektivität bricht mitunter eine Epidemie aus: man sucht krankhaft nach festen Stützen zB. nach architektonischen Zahlreihen etc. in der Überschätzung alter Handschriften als absoluter Norm usw.
Der Philologe liest noch Worte, wir Modernen nur noch Gedanken.
Die Sprache ist das alleralltäglichste: es muß ein Philosoph sein, der sich mit ihr abgiebt.
Wer die Sprache an sich interessant findet, ist ein andrer als wer in ihr nur das Medium interessanter Gedanken erkennt. (…)
Alle großen Fortschritte in der Philologie beruhn auf einem schöpferischen Blick. (…)
Die ‘klassische Bildung‘ ist nicht ein Resultat unsrer Gymnasien, auch nicht der Universitäten. Aber das Gymnasium giebt die Vorbereitung dazu, so daß die einzelnen dazu befähigten den Weg finden können. Die Universität hat es mit der Wissenschaft zu thun: die „Bildung“ aber ist Talent, kann auch nicht gelehrt werden. Eine Wissenschaft kann durch Unterricht gefördert werden a) durch Überlieferung der technischen Handgriffe b) durch die Überlieferung des Materials. (…)
Man macht an Universitätslehrer der Philologie die seltsamsten Anforderungen: sie sollen strenge Männer der Wissenschaft und zugleich Künstler sein, sie sollen Pädagogen erziehen und Schüler der Wissenschaft. Träger der Alterthumsbegeisterung und strenge Fortarbeiter im philol. Hausrath. (…)
Das viele Lesen der Philologen: daher die Armut an originellen Gedanken. (…)
Begeisterung für das Alterthum bei vielen voraussetzen ist eine Illusion. Bei Gymnasiasten Verständniß für tiefere Autoren finden zu wollen ist Illusion.
Nicht das Alterthum, sondern die wissenschaftliche Betrachtungsart ist es, was auf Gymnasien gelehrt werden muß.
Das Alterthum wirkt nur auf künstlerische Naturen von tiefstem Formengefühl.
Der Genuß, die aesthetische Ausbeute des Alterthums wird nicht etwa gesteigert durch eine sehr gründliche Kenntniß desselb., sondern eher vermindert; man muß ein Gemälde nicht zu nahe sehn wollen.
Mannichfache Anforderungen an Philologen und entgegengesetzte Beurtheilungen.
Gründe dafür in dem vagen Begriff der Philologie, in der Vermischung des wissenschaftlichen und pädagogisch-künstlerischen Menschen: endlich in der falschen Anforderung der „klassischen Bildung“ an Gymnasial und Universitätslehrer.
Der Begriff „klassische Bildung“ zergliedert: nichts für eine größere Masse, nichts für unentwickelte und unerfahrene Menschen (Gymnasiasten) (…)
das Alterthum verdient gar nicht, seinem Stoffe nach allen Zeiten vorgesetzt zu werden: wohl aber seiner Form nach.
Das Talent aber für die Form ist selten und nur bei gereiften Männern.
Man soll der Jugend keine Grundansichten einprägen: weil dadurch die Entwicklung gehemmt wird.»
Hier wie auch in der ebenfalls abgedruckten fertigen Rede macht Nietzsche sein Leiden öffentlich: an seinem Fach mit dessen einzigartiger Mischung aus Gelehrsamkeit und Borniertheit, Verblendung und Scharfsinn. Klar benannt werden die Paradoxien des deutschen Neuhumanismus und Philhellenismus, der Wisssenschaft geworden war: Man studierte die Griechen als Kontrastfolie zu einer Moderne, die als Zerrissenheit, Entfremdung, Orientierungsverlust empfunden wurde, doch das Studium der Antike, das diese Mißstände aufheben sollte, trug eher zu ihrer Verstärkung bei. (Davon war hier kürzlich schon einmal die Rede.) Was bei Nietzsche jedoch weitgehend Programm blieb beziehungsweise von weit größeren, uneinlösbaren Ambitionen überholt wurde, verwirklichte sein weit weniger vulkanischer Basler Kollege Jacob Burckhardt: von einer unmittelbaren Begegnung mit den griechischen Texten ausgehend Religion und Staat, zugleich Anschauung, Leiden und Leidenschaft der Hellenen zu untersuchen und auf diese Weise zu den kulturellen Bedingungen durchzustoßen, die solche schöpferischen Leistungen ermöglichten.
Hubert Cancik, Nietzsches Antike. Vorlesungen. Stuttgart/Weimar (Metzler) 1995 (lehrreich, aber ohne Empathie)
Jan Roß, Unselbstgemäße Betrachtungen. Zur Neuausgabe des Frühwerks, in: FAZ Nr. 205 v. 3.9.1994, Bilder und Zeiten
Christian Wollek, Die lateinischen Texte des Schülers Nietzsche. Übersetzung und Kommentar. Marburg (Tectum) 2010
Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie. Berlin/New York (De Gruyter) 2005
Sehr schön! Vielen Dank. Auch...
Sehr schön! Vielen Dank. Auch für die „staatlichen“ cremeweißen dtv-Bände. Sollte es sich um einen Verschreiber handeln, bitte nicht korrigieren. Wir sollten länger darüber nachdenken.
Vom sogenannten...
Vom sogenannten Preis-/Leistungs-Verhältnis sind natürlich knapp 3000 Seiten Nietzsche zu 20 Euro ein Schnäppchen, aber ein auf ähnlichem Wege vor langer Zeit auf mich gekommener Schopenhauer harrt auch noch der Lektüre, also trotz WBG-Mitgliedschaft: ‚Nein danke‘. Für den Hinweis natürlich trotzdem vielen Dank.
Gruß K
Dazu, Kalchas, jetzt ein...
Dazu, Kalchas, jetzt ein Gedanke Schopenhauers: dass wir beim Kauf der Bücher die Zeit, sie zu lesen, nicht mitkaufen. Dennoch sollten Sie bei Nietzsche zuschlagen. Für den Rest Ihres Lebens durch den bloßen Anblick der Bände an Nietzsches Frühwerk erinnert zu werden, dafür sind 20 Euro kein zu hoher Preis.