Wahrscheinlich ist die „Schweigespirale“ nicht mehr allgemein bekannt. Elisabeth Noelle-Neumann, die „Pythia vom Bodensee“ und grande dame der deutschen Demoskopie hat das Bild einst, Ende der 1970er-Jahre, aufgebracht und damit eine sozial-politisch-psychologische Beobachtung bezeichnet: Wenn Anhänger einer bestimmten Ansicht im Verlauf einer Debatte den Eindruck haben, ihre Ansicht sei in der Öffentlichkeit schwerer ‘sagbar‘ als die der anderen Seite, neigen sie dazu, sie zu verschweigen und sich nicht öffentlich zu äußern, um nicht in den Geruch zu kommen, einer Minderheitsposition anzuhängen, die vielleicht sogar noch als anstößig gilt. In der Einsamkeit der Wahlkabine folgen sie dann aber doch vielfach ihrer verschwiegenen Überzeugung. Und so kamen dann überraschende Ergebnisse zustande: die fast 49 Prozent Wählerstimmen, die Helmut Kohl beinahe schon 1976 ins Kanzleramt getragen hätten, und die immer noch sehr beachtlichen 44,5 Prozent für den so verteufelten Franz-Josef Strauß 1980.
Die Schweigespirale kam mir in den Sinn, als ich auf einen kurzen Text von Goethe zu Homer stieß. Dieser hatte den deutschen Dichter schon sehr früh zu faszinieren begonnen; Voß‘ Übersetzung tat das Ihrige, und obwohl Goethe kein Griechisch lesen konnte, verfolgte er die Debatten um die Figur, die damals neben Shakespeare als das Urgenie der Weltliteratur schlechthin galt, sehr aufmerksam. Debatten: Das bedeutete in erster Linie den durch Wolfs Prolegomena ad Homerum (1795) neu entfachten Streit zwischen ‘Unitariern‘ und ‘Analytikern‘. 1826 verfaßte Goethe dazu eine kurze Besinnung, zu finden in der wunderbaren, hier auch schon einmal empfohlenen Münchener Ausgabe (13. I, S. 333):
HOMER NOCH EINMAL
Es gibt unter den Menschen gar vielerlei Widerstreit, welcher aus den verschiedenen einander entgegengesetzten, nicht auszugleichenden Denk- und Sinnesweisen sich immer aufs neue entwickelt. Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, daß die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muß; so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeit lang sein Wesen treibt.
In den früheren Jahrhunderten läßt sich bemerken, daß eine solche besondere Weltansicht und ihre praktischen Folgen sich sehr lange erhalten, auch ganze Völker und vieljährige Sitten zu bestimmen und zu bestätigen wußte; neuerlich aber ergibt sich eine größere Versatilität dieser Erscheinung, und es wird nach und nach möglich, daß zwei Gegensätze zu gleicher Zeit hervortreten und sich einander das Gleichgewicht halten können, und wir achten dies für die wünschenswerteste Erscheinung.
So haben wir z. B. in Beurteilung alter Schriftsteller uns im Sondern und Trennen kaum auf den höchsten Grad der Meisterschaft erhoben, als unmittelbar eine neue Generation auftritt, welche sich das Vereinen, das Vermitteln zu einer teuren Pflicht machend, uns, nachdem wir den Homer einige Zeit, und zwar nicht ganz mit Willen, als ein Zusammengefügtes, aus mehreren Elementen Angereihtes vorgestellt haben, abermals freundlich nötigt, ihn als eine herrliche Einheit, und die unter seinem Namen überlieferten Gedichte als einem einzigen höheren Dichtersinne entquollene Gottesgeschöpfe vorzustellen. Und dies geschieht denn auch im Zeitgeiste, nicht verabredet noch überliefert, sondern proprio motu, der sich mehrfältig unter verschiedenen Himmelsstrichen hervortut.
Wenn auf etwas Verlass ist in...
Wenn auf etwas Verlass ist in diesen wirren Zeiten, dann auf den konservativen Grundzug des Bloggers. Brav! In Wissenschaft und Gesellschaft wird er sich stets modischem Firlefanz verweigern, und sei dieser noch so tauglich zum Gewinn neuer Einsichten oder nützlich zur Betrachtung althergebrachter Positionen aus neuer Perspektive.
Ich erinnere mich daran, dass die so genannte „schweigende Mehrheit“ der Bonner Republik nie auf den Mund gefallen war und trotz (oder gerade eben?) schubweisen Verfolgungswahns dem linken Gesindel stets herzhaft anbot, ihm die „Fresse zu polieren“.
Dass einem bei IHM jedoch Noelle-Neumann einfällt, hat der gute Goethe aber nun wirklich nicht verdient! Was richtet sich hier für eine irdische Spottlust gegen den Olymp?
Es stimmt zwar, dass Goethe – auch hierin dem Blogger ungleich – größeren Fleiß auf das Erlernen lebender Sprachen wandte, aber das Altgriechische zählte doch längere Zeit zu seinem Curriculum, anders als zum Beispiel das „Judendeutsche“, in das er sich nur eine Einführung gönnte. Gibt es irgendwo eine Klage Goethes darüber, dass er nicht in ausreichendem Maße Griechisch lesen könne? Um einen Nachweis wäre ich dankbar.
Beim knietiefen Waten durch den politischen Sumpf der Republik der siebziger Jahre („Freiheit statt Sozialismus“ stand auf den bunten Wahlkampfwimpeln der Kreuzesritter jener Tage, damals galt der Mann noch als Mann) übersieht der Blogger das Naheliegende und Schöne am Goetheschen Diktum: „daß zwei Gegensätze zu gleicher Zeit hervortreten und sich einander das Gleichgewicht halten können.“ Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Vereinbarkeit des scheinbar Unvereinbaren, Toleranz und Ergänzung, tatsächlich auch mir das Wünschenswerteste.
Nicht verstocktes Schweigen und anschließend grinsende Rache in der Einsamkeit der Wahlkabine ….
Und noch eine kleine penible Korrektur: Statt „vierjährig“ natürlich „vieljährig“. Hoffentlich kein Druckfehler in der vielgepriesenen Edition, sondern nur der Sand im Auge des Bloggers nach durchschlafener Nacht!
@Der Mersch
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In der Tat. Ein...
@Der Mersch
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In der Tat. Ein großer Bogen von Goether Homerrezeption bis zur Frage, warum CDU-Standpunkte während der 1970er Jahre im öffentlichen Diskurs unterrepräsentiert waren.
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Aber das ist ja gerade das schöne an einem Blog, das Autoren hier fachliche Diskurse mit persönlichen Ansichten verschmelzen können wie früher unser Lateinlehrer sein Erzählungen von der Antike mit seinen Urlaubserlebnissen.
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Als Mentalitätsstudie finde ich das sehr erhellend. Die Weltwarnehmung eines konservativen Intellektuellen, der die 70er und 80er Jahre als linke Meinungsdiktatur empfand und jetzt, auf seine alten Tage, endlich seinem Herzen Luft machen darf.
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Wieviel schöner könnte unsere Welt heute sein, wenn Helmut Kohl die Wahl 1976 mit absoluter Mehrheit für CDU und CSU gewonnen hätte?
Wenn das Wembley-Tor nicht als solches anerkannt worden wäre und Deutschland 1966 den WM-Titel geholt hätte?
Wenn die Trojaner nicht auf das blöde Pferd hereingefallen wären?
Wenn Goethe statt blöder Juristerei lieber klassische Philologie studiert hätte?
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Man darf gar nicht daran denken.
Eine Frage an Goethe...
Eine Frage an Goethe vielleicht
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Eine Frage bleibt unbeantwortet: Womit hat sich Goethe hierbei wirklich beschäftigt? Mit der Dichtung „eines“ Homers, oder mit der Dichtung um „einen“ Homer.
@Devin08
Nachdem...
@Devin08
Nachdem Respektlosigkeiten in Sachen Goethe im 21. Jahrhundert zur Regel geworden sind – am Bodensee und in Bielefeld auch – , maße ich mir an, im Namen des Meisters zu antworten: Goethe handelt hier von der Dichtung um den „einen“ Homer.
Goethes Auffassung von Dichtung konnte sich den Dichter nicht anders vorstellen denn als Individuum. Als Werkzeug der Ideen höherer Mächte durchaus, aber stets als Person, die Vermittlung zu leisten hätte. Die Vorstellung eines „Schreibkollektivs“ anonymer Verseschmiede war ihm zuwider, weswegen er hier die neueren Tendenzen in der Textforschung begrüßte, die gegen die Wolfsche These von der Vielzahl der Rhapsoden als Schöpfer der Versepen in Stellung gebracht wurden. Diese kamen seinem Bilde Homers als dichterischem „Einzeltäter“ näher.
Als Handwerker am Text, der sich fremder Stoffe annimmt, um sie zu bearbeiten, nach- und umzuschöpfen, wusste Goethe andererseits nur allzu gut um die Grenzen der Leistungsfähigkeit eines Originalgenies.
Goethe griff Stoffe dankbar auf, weshalb er die These vom einsamen Dichter, der mit seinen Worten als Herr über die Taxonomie Menschen und Dingen ihren Platz zuweist, nicht für unvereinbar hielt mit der Annahme nützlicher Zuträger, deren Beiträge jedoch eingeschmolzen gehören und mit neuer Prägung zu versehen sind, um den Mythos des eigenen Werkes zu begründen.
Homer als das Medium jener...
Homer als das Medium jener Zeit
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@Mersch: Danke. Klingt sehr überzeugend. Ich selber wage diesbezüglich keine eigene Meinung, da ich mich hierzu nicht berufen fühle. Doch möchte auf einen anderen „Meister“ verweisen, der sich gerade am Beispiel der Ilias wie folgt geäußert hat:
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„Sogar die Dichtung als solche ist nicht Menschenwerk in unserem Sinn. Ihre ersten drei Worte lauten: Menin aeide, thea, »Singe, o Göttin, vom Zorn!« Und das gesamte nachfolgende Epos ist nichts anderes als eben dieser Gesang der Göttin, von einem verzückten Poeten »vernommen« und als Re- Zitation in den Ruinen von Agamemnons Welt an seine eisenzeitliche Hörerschaft weitergegeben.“
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Ich zitiere hier aus Julian Jaynes‘ „Der Ursprung des Bewusstseins“, und zwar aus dem 3. Kapital, „Die Psychologie der Ilias“ (S. 105-106, PDF-Datei, s. a. https://www.julianjaynes.org/.). Ich verwies schon des Öfteren (https://blog.herold-binsack.eu/?p=2079) auf ihn. Seine These, dass das Bewusstsein des Menschen nicht älter als etwa 3000 Jahre alt ist, könnte auch eine völlig neue Interpretation bzgl. der Autorenschaft vorgeschichtlicher, resp. antiker Werke begründen.
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Frei übertragen wäre das „Gottesgeflüster“ der damaligen Zeit gleichzusetzen mit den Wahnvorstellungen heutiger Schizophrener. Allerdings mit der Einschränkung, dass zu dieser Zeit jene „Wahnvorstellungen“ der Normalzustand gewesen wären.
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Im Übrigen hat Jaynes auch festgestellt, dass die Ilias in späteren Überarbeitungen Elemente hinzu gefügt bekam, die schon auf die Anfänge eines Bewusstseins hindeuten. Am Beispiel der Reisen des Odysseus verweist er explizit darauf. Daraus ließe sich schlussfolgern, dass sehr wohl eines Homers Werk ein kollektives Werk ist. Eines Kollektivs, das dennoch nicht wirklich in derselben Muse vereint gewesen wäre, sondern geradezu getrennt, nämlich durch die zum Teil sehr verschiedenen Geister/Dämonen gleich zweier Epochen.
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Und gerade das macht die Ilias so wertvoll. Legt sie doch Zeugnis davon ab, wie gleich ein ganzes menschliches Kollektiv zur Kunst befähigt (gewesen) sein muss. Nämlich zum Teil vor der Zeit, wo einzelne Autoren jener ihre Handschrift auflegten.
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Homer gewissermaßen nicht mehr als das Medium jener Zeit, mitten in der Zeitenwende.
Es ist schon erstaunlich,...
Es ist schon erstaunlich, wieviel selbstverliebtes Linksgeschwafel ausgerechnet dieses schöne Zitat über das Schweigen ausgelöst hat. Kommunikationstheoretisch finde ich die Vergleiche des Autoren völlig schlagend, dessen Beispielauswahl noch nicht berechtigt, seine politischen Ansichten daraus zu schließen. Dass hier linke Meinungswächter der 70er ihn knietief in irgendetwas waten sehen zeigt allerdings, daß diese Leute, wie früher auch, von analytischen Diskursen völlig überfordert sind. Wenn in einer an sich sachorientierten Betrachtung trigger-Worte wie Kohl oder Strauss vorkommen, wird unweigerlich der arg in die Jahre gekommene, an allen Enden angestaubte und quietschende, selbstläufige Schwadronierapparat wieder in Gang gesetzt. Zum Sumpf der 70er Jahre gehören noch ganz andere Sachen, und die Glückwunschtelegramme, die an den längst abgesetzten und decouvrierten Pol Pot noch in den Dschungel nachgeschickt wurden von Leuten wie Joschka Schmierer oder Jürgen Tritten, sind nicht die letzten Beispiele. Schmierer wurde übrigens von Joschka Fischer wegen seiner an Pol Pot bewiesenen genialen politischen Analysefähigkeit (er selbst meint, sich nie geirrt zu haben) noch ins AA geholt und mit einer friedlichen Beamtenpension ausgestattet. Der Sumpf existiert fort, und das kann man an Ihren Einlassungen ja ebenfalls sehen. Mit dem relativierenden Goethe-Zitat zu zeitgebundenen Meinungsvorherrschaften können Sie einfach deswegen nicht umgehen, weil Sie sich dann ja selber nicht mehr absolut setzen könnten.
@grateful
Für Sie besteht...
@grateful
Für Sie besteht der (Sympathisanten-)Sumpf fort, und Ihre Rede unter anschwellender Halsschlagader verrät mir, dass ich wieder einmal fehlgegangen bin in meiner optimistischen Annahme, die rüde Diskurskultur der siebziger Jahre läge hinter uns. Sie sind mir aber auch so was von Seventies!
Wenden wir uns nun sine ira et studio dem Gegenstand Ihrer Nostalgie zu:
Beim Beitrag unseres hochgeschätzten Bloggers handelt es sich nicht um ein Zitat “über das Schweigen”, sondern über die “Schweigespirale”, ein Modell aus dem Institut einer umstrittenen Demoskopin, die – wie Sie – aus ihren politischen Vorlieben nie einen Hehl gemacht hat. Ein kurzer Text Goethens erinnert den Blogger an eben diese “Schweigespirale”, worüber zwei Leser ihrem Erstaunen Ausdruck verliehen haben. Dies geschah unter anderem durch die Anmerkung, dass der Tonfall des Bloggers wieder einmal auf dessen eingefleischten Konservativismus hinweist. Sollten Sie wie ich ein regelmäßiger und dankbarer Leser dieses Blogs sein, dürfte Ihnen dieser Zug des Bloggers eigentlich nicht entgangen sein.
Ich sage mir, und nun auch Ihnen: “Schade, wie weit könnte angesichts vielversprechender Anlagen das Denken des Bloggers noch geraten, wenn er sich nicht den Zugang zu wissenschaftlichen Methoden und Denkansätzen verbaute, die er als giftige Früchte eines vage definierten ‚linken Meinungsspektrums‘ zurückweist!” Mir schwant, dass diese Zurückweisung abweichender Ansätze so rasch vom Blogger vollzogen wird, dass ihm keine Zeit zur gewissenhaften Prüfung ihrer erkenntnisthereotischen Tauglichkeit bleibt. Anders gesagt: ich hege den Verdacht, dass der Blogger akademische Traditionen und neue Ansätze des Denkens bereits im Vorfeld abblockt, wenn sie ihm politisch anrüchig erscheinen. Es ist ja nicht so, dass ihn dies von vorneherein an der Abgabe differenzierter Urteile hindern würde. Aber ich meine doch, er verzichtet mit diesem unklugen Vorbehalt auf eine Bereicherung und Vertiefung seiner Arbeit. Was er durch dieses Betragen erwirbt, ist in meinen Augen die kauzige Eigenart eines intelligenten Grantlers (was zur Schärfung seines Profils als Blogger ja durchaus tauglich sein mag), in Ihren Augen aber den Ruf eines Lieferanten “schlagender Vergleiche”. Kurz und gut, sein Ruhm wird in jedem Fall gemehrt, und schließlich ist niemand über sein Können hinaus verpflichtet.
Ein “linker Meinungswächter” war ich noch nie, wäre ich einer, hätte ich schmählich versagt, weil es mir nicht gelungen ist, Ihrer Meinungsbildung und -äußerung wachsam entgegenzutreten. Im Gegenteil sind mir Ihre Darlegungen hoch willkommen als Exemplum fortdauernder Verblendung, aus dem sich für Leser möglicherweise Erkenntnisgewinn schöpfen lässt. Um von “analytischen Diskursen” überfordert zu sein, betreibe ich sie schon zu lange und zu intensiv: Selbst der größte Stümper kommt nicht umhin, eine gewisse Routine auf dem Felde zu erwerben, auf dem er sich jahrzehntelang bewegt.
Mit Joschka Schmierer und Jürgen Trittin habe ich so wenig gemein wie mit Herrn Kohl oder Herrn Strauß, den ich stets zu loben weiß für seinen Einsatz um Konzept und Realisierung des Airbus.
Als Schmierer in die Nähe einer eingehegten und sehr relativen, weil bundesrepublikanischen Machtausübung gelangte, erwies er sich schlagartig als Transatlantiker reinsten Wassers und größter Bewunderer des jüngeren Bush. Insofern hat er sich seine Pension wohl verdient, denn er ging auch noch Herrn Steinmeier – von dem wir wissen, dass er wie Hermann Höcherl nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumläuft – zur Hand, und der ist ja zur Stunde noch ein Mitglied der Stones und damit Hoffnungsträger der SPD (wenn auch nicht Herrn Schmidts, der übrigens seinen Wahlkampfgegner Strauß dem verstockten Stimmbürger als antidemokratischen Teufel an die Wand der Wahlkabine gemalt hat).
Ihren Hinweis auf Pol Pot greife ich gerne auf, zumal ich erst letzte Woche im französischen Kulturinstitut den sehr sehenswerten Dokumentarfilm “S21, la machine de mort Khmère rouge” von Rithy Panh gesehen habe, dessen eindrucksvoller Protagonist leider vor einigen Monaten verstorben ist.
Henry Kissinger lässt in “On China” (S. 372) bemerkenswerte Sätze über die Wandlungsfähigkeit der amerikanischen Politik gegenüber den Roten Khmer fallen. Ich entschuldige mich schon jetzt für die Länge des Zitats, die mir jedoch unvermeidlich erscheint. Die Stelle belegt nicht nur das Anachronistische Ihrer Einteilung der Welt in ein grobes Links-Rechts-Schema. Sie legt vielmehr das Politische in höchster Reinheit dar, jegliche Firnis ideologischer oder moralischer Natur ist abgebeizt. Henry aus Fürth – Urgestein in Sachen Kunst der Diplomatie – eifert in diesen Zeilen nicht nur den wirklich Großen der Geschichte, sondern auch den Schmierern nach. Aber er erträgt den Anblick der Nacktheit nicht: hastig streift er der Politik das Mäntelchen des Pragmatismus über.
“The de facto cooperation between Washington and Beijing on aid to Cambodia through Thailand had the practical effect of indirectly assisting the remnants of the Khmer Rouge. American officials were careful to stress to Beijing that the United States ‚cannot support Pol Pot‘ and welcomed China´s assurances that Pol Pot no longer exercised full control over the Khmer Rouge. This sop to conscience did not change the reality that Washington provided material and diplomatic support to the ‚Cambodian resistance‘ in a manner that the administration must have known would benefit the Khmer Rouge. Carter´s successors in Ronald Reagan´s administration followed the same strategy. America´s leaders undoubtedly expected that if the Cambodian resistance prevailed, they or their successors would oppose the Khmer Rouge element of it in the aftermath – which is what in effect happened after the Vietnamese withdrawal over a decade later.
American ideals had encountered the imperatives of geopolitical reality. It was not cynicism, even less hypocrisy, that forged this attitude: the Carter administration had to choose between strategic necessities and moral conviction. They decided that for their moral convictions to be implemented ultimately they needed first to prevail in the geopolitical struggle. The American leaders faced the dilemma of statesmanship. Leaders cannot choose the options history affords them, even less that they be unambiguous.”
Der Unterschied zwischen...
Der Unterschied zwischen Kissinger und Schmierer/Trittin ist eben, das manche Leute wissen, was sie tun und sagen. Und der Unterschied zwischen uns ist, dass man seine Defizite in Blogs abarbeiten kann, aber nicht muss.