Zu bewundern ist die Kraft, einen Kreis zu schließen, ohne einfach zum Anfangspunkt zurückzukehren. Als Bernard Andreae, einer der bekanntesten und produktivsten deutschen Archäologen seiner Generation, 1973 eine umfassende Römische Kunst publizierte, war er Anfang Vierzig; der schwere Bildband wurde zum Hausbuch für Humanisten und Augenmenschen, durch die reiche Bilddokumentation aber auch zum Handbuch für Archäologiestudenten. 1999 erschien eine erweiterte Neubearbeitung. Nunmehr, mit Anfang Achtzig, hat der langjährige Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom im Rahmen einer hier schon einmal angezeigten fünfbändigen Geschichte der römischen Kunst die Zeit von Augustus bis Konstantin bearbeitet. Um sich nicht wiederholen zu müssen, wählte Andreae eine Darstellungsweise, die seinem intellektuellen Temperament ebenso entspricht, wie sie den veränderten Lesegewohnheiten im Publikum entgegenkommt: In knapp fünfzig kurzen Essays werden anhand von großzügig abgebildeten und interpretierten Artefakten Grundbegriffe, Gestalten, Themen und Strukturelemente der römischen Kunst skizziert. Wie der Autor mit Recht betont, ruht die Kernaufgabe kunstarchäologischer Betrachtung, die Datierung und stilgeschichtliche Einordnung, für die vergleichsweise dicht dokumentierte römische Kaiserzeit auf einem recht sicheren Fundament. Seine Aufgabe sieht er daher eher darin, „Begriffe zu bilden und die politischen und geistesgeschichtlichen Vorgänge in der Gesellschaft durch herausragende Kunstwerke der jeweiligen Zeit anschaulich zu machen“.
Herausgekommen ist dabei eine in ihrer Art einzigartige Grammatik des Sehens. Andreae sieht die Kunstgeschichte als einen Teil der allgemeinen Geschichte an, wenn er Kunst definiert als „Veranschaulichung historisch voranschreitender Erfahrungen der Wirklichkeit des äußeren und inneren Lebens“. Sein Buch bezeichnet er in diesem Sinne als „Geschichtsschreibung mit Bildern“. Gleichzeitig bleibt er der älteren Strukturforschung verpflichtet, die sich hierzulande v.a. mit dem Namen Guido von Kaschnitz-Weinberg verbindet und unter den einzelnen Monumenten „das Prinzip der inneren Organisation der Form“ zu erkennen bestrebt war. Bernhard Schweitzer bestimmte das Erkenntnisinteresse der neuen Richtung – die nicht zufällig nach 1918 aufkam, als die antipositivistische Neuorientierung der Altertumsforschung auch den Dritten Humanismus hervorbrachte – so: Die neuen Betrachtungsweisen „sehen in der Ordnung und Einordnung der Kunstwerke nicht das letzte Ziel. Geschichtlich sind für diese Anschauung nicht nur die Akzidentien der Kunst, Lebensumstände der Meister, Schulbeziehung, Entwicklung, sondern zu allererst das Kunstwerk selbst in seiner inhaltlich-formalen Ganzheit. Sie fragt nicht: wie geschah Kunst?, sondern: was bedeutet Kunst? Was drückt Kunst aus? Als Geschichtsdokument ist das Kunstwerk erst erschöpft, wenn sein Kern, das «Ästhetische», sein Ausdrucksgehalt, wie wir jetzt besser sagen, gehoben ist. Und umgekehrt hat das Ästhetische zwar an einem Zeitlosen Anteil, es existiert aber nur in seiner geschichtlichen Verleiblichung im einzelnen Kunstwerk. Aus einer bloßen Aneinanderreihung von äußeren Tatsachen konnte erst Kunstgeschichte verden, wenn das einzelne Kunstwerk in seinem inneren Gefüge durchleuchtet und sein Ausdrucksgehalt aufgesucht wurde. Es war zum Reden zu bringen. Es galt, seine Sprache zu verstehen.“
Man hat der so verstandenen, wesentlich von der Intuition des Erkennenden geprägten Strukturforschung Unklarheit und Mystifizierung vorgeworfen, und manche Anbiederung an den völkischen Zeitgeist nach 1933 hat ihr schwer geschadet (Schweitzers zitierter Text stammt aus d.J. 1938). Heute steht sie in der Klassischen Archäologie, wenn ich es richtig sehe, nicht hoch im Kurs (vgl. Hans H. Wimmer, Die Strukturforschung in der Klassischen Archäologie, Bern u.a. 1997). Das ändert aber nichts daran, daß es offenbar ein unauslöschliches Bedürfnis gibt, hinter dem Einzelnen ein Ganzes, hinter den Artefakten eine Form, hinter den konkreten Ausgestaltungen einen wirkenden Geist zu finden und so dem Vergangenen einen Sinn zu verleihen.
Im Nachwort zieht Andreae eine Summe, die ohne Kenntnis dieses ideen- und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrunds gar nicht zu verstehen ist: „Die römische Kunst (…) baute Schritt für Schritt die Strukturprinzipien der griechischen Kunst ab, mit denen diese die Realität erobert hatte. So brachte die römische Kunst eine hinter den Dingen liegende Wirklichkeit zur Anschauung, wo zum Beispiel oben und unten nicht mehr als ein Spannungsverhältnis tragender und lastender Kräfte angesehen wurde, sondern als ein durch Machtanspruch gegebenes Verhältnis von Herrschenden zu Beherrschten. Plastizität als Folge der Schwerkraft spielt in der Darstellung keine entscheidende Rolle mehr. Diagonalität wird durch Achsialität ersetzt, allseitig formende Prägung durch Fassadenhaftigkeit. Raum und Zeit werden nicht als perspektivisch in die Tiefe führende und vor unseren Augen im Ablauf der Bewegungen erfahrene Begriffe behandelt. Indem die greifbare von einer nur optisch wahrnehmbaren Form abgelöst wird, tut sich vor dem Betrachter eine geistige Tiefe auf, die ihn ein neues Verhältnis zur Realität gewinnen lässt. Es ist die Entmaterialisierung, welche eine jenseitige, nicht nur als Spiegelbild der hiesigen Welt vorgestellte, eschatologische denkbar macht. Unter dem Einfluss historischer Ereignisse fragen die Künstler nach dem Ziel menschlicher Bemühungen und stellen es in hintergründiger Formulierung dem Betrachter vor Augen. Die eigentümliche Leistung der römischen Kunst ist der konsequente Wandel des Stils von der natürlichen zur symbolischen Form.“
Archäologische Oberseminare und wissenschaftsgeschichtliche Symposien könnten sich an diesen wenigen Zeilen lange abarbeiten. Oder es lassen. Andreaes Darstellung selbst faßt den Begriff Struktur zum Glück pragmatischer. In einem „Struktur“ betitelten Essay geht es um Diagonale und Plastizität, Blickachsen und Fassadenhaftigkeit; abgeklärt heißt es am Ende: „Man sollte die Strukturforschung nicht leichtfertig abtun, man muss aber auch nicht zu viel von ihr erwarten. Im Einzelnen sind es die altbewährten Methoden der Stilforschung, der Ikonographie und Ikonologie, die weiter führen.“ Und es spricht viel dafür, eine Schule des Sehens für ein breiteres Publikum, wie Andreae sie liefert, zu gliedern nach Grundbegiffen (Zentrum, Entwicklung, Eigenständigkeit, Natur und Kunst, Religion, Zivilisation usw.), politisch-historischen Vokabeln (Verfassung, Legitimation, Dynastie, Autokrator, Genealogie, Militär und Zivil, Soldatenkaiser, Schlacht), Gattungen (z.B. Bildhauerei, Malerei, Architektur, Kunstgewerbe, Mosaike, Mark, Reiterstatue) und archäologischen Termini (etwa: Kopie, Frauenfrisuren, Musterbuch, Stilwandel).
Auch Historiker können von Andreae viel lernen, und sei es im Modus der kritischen Nachfrage. Die früher verbreiteten Naivitäten sind hier durchaus vermieden. Zwar führt der Autor, um die Figur des Augustus-Freundes und -Beraters Maecenas zu erhellen, ein bekanntes Redepaar aus der Römischen Geschichte des Cassius Dio an, in dem Agrippa und Maecenas dem künftigen Augustus zwei mögliche Modelle vorstellen, wie die politische Zukunft Roms zu gestalten sei. Nun schrieb Cassius Dio Anfang des 3. Jahrhunderts, mithin mehr als dreihundert Jahre nach dem ‘berichteten‘ consilium, und die Althistoriker sind sich weitgehend einig, daß der Text keine authentische Information für die berichtete Zeit liefert, sondern allein aus der Zeit der Niederschrift heraus zu interpretieren ist. Andreae referiert diese Einwände, zitiert den Text dann aber doch, weil kein anderer antiker Text die Situation d.J. 29 v.Chr. treffender beschreibe und weil Maecenas in dieser Phase vermutlich tatsächlich eine für den Alleinherrscher wichtige Gestalt bedeutete.
Fachkollegen werden diskutieren müssen, ob die von Andreae vorgeschlagene Identifizierung eines seit langem bekannten Bildniskopfes aus Arezzo mit Maecenas plausibel ist oder nicht. Und ob es zulässig ist, die Stellung sowie bestimmte Eigenschaften, die von der historischen Gestalt bekannt sind, aus dem Porträt herauszulesen (oder sie in es hineinzulesen?). So hat Maecenas, ein schwerreicher Mann von altetruskischer Abstammung (Horazens Maecenas atavis edite regibus …) nie ein öffentliches Amt bekleidet und soll der Philosophie Epikurs angehangen haben. Dazu paßt Andreaes Interpretation des Bildnisses: „Er hat große Augen, aber einen feinen, gekräuselten, ungewöhnlich kleinen Mund. Seine Sache ist die Wahrnehmung, nicht die Äußerung. Das breite Kinn und die füllige Falte unter dem Unterkiefer verraten eine Hang zum Wohlleben, die durch die Energie des Gesichtsausdrucks relativiert wird.“ Ist das ein Kurzschluß? Oder hat Maecenas seine Stellung und seinen Charakter tatsächlich so zum Ausdruck bringen wollen?
Man kann Andreaes großformatiges Buch auf verschiedene Weisen aufnehmen. Es ist die Summe eines reichen Forscherlebens, voller Ideen und Interpretationen, Informationen und Intuitionen. Wer es zur Hand nimmt und jede Woche dreißig Minuten aufbringt, um jeweils einen der Essay zu lesen und die Bilder genau zu betrachten, hat in weniger als einem Jahr einen veritablen Kursus absolviert. Schon für diese Einladung verdient der Autor großen Dank.
Bernhard Andreae, Römische Kunst von Augustus bis Constantin. 316 S., ca. 250 farbige Abb., geb. mit Schutzumschlag, € 79,-. Philipp von Zabern, Mainz 2012