Reißerisch ist nur der Titel. „Der Archimedes-Code“. Das soll selbstverständlich Assoziationen zu Dan Browns Da Vinci-Code erwecken, zur Schnitzeljagd um eine verborgene Weltformel, zum geheimen Wissen eines Genies, und zu den Wissenschaftlern, die gegen den Widerstand von Dunkelmännern das Auge der Aufklärung über der Pyramide aufpflanzen. Ansonsten aber stellt die diesen Sommer im Roemer- und Pelizaeus-Museum zu Hildesheim gezeigte Ausstellung geradezu ein Musterbeispiel kompetenter Aufbereitung höchst komplexer Zusammenhänge dar. Die umfassende Aufklärung nimmt den Originalen nichts von ihrer auratischen Qualität – und sie nimmt den Besucher ernst. Dieser muß selbst lesen; keine dramatisierende Musik, keine tremologesättigte oder schulfunkbiedere Audio-Guide-Stimme verspricht Erkenntnis ohne Anstrengung. Dafür klar gestaltete Tafeln mit Texten und einigen Bildern.
Den Kern der Schau bilden drei Blätter eines Handschriftenbuches (Codex). Die Spur beginnt im 10. Jahrhundert in Byzanz, wo ein Schreiber in Konstantinopel verschiedene Schriften des Archimedes in eine Handschrift überträgt und die Blätter zu einem Buch zusammenfügt. 1229 wird dieser Codex von einem – namentlich bekannten – Mönch wieder zerlegt, der schwer verständliche Text des vorchristlichen Autors abgewaschen, die Blätter halbiert und durch dieses aufwendige Recyclingd Beschreibstoff für einen anderen Text, ein Gebetbuch, gewonnen. Ein ‘codex rescriptus‘ oder Palimpsest entsteht; der alte Text ist unter dem neuen noch eben erkennbar. Das Gebetbuch ist dann über Jahrhunderte in einem Kloster bei Jerusalem in Gebrauch, kommt schließlich nach Istanbul. Der reisende Konstantin von Tischendorf bekommt das Buch zu Gesicht und „bringt ein Blatt an sich“, wie es etwas euphemistisch heißt (d.h. er klaut es). Dann findet der dänische Altphilologe Johan Ludvig Heiberg 1906 die Handschrift und erkennt trotz ganz unzureichender Hilfsmittel im überschriebenen Text ein verloren geglaubtes Werk des Archimedes. Er veranstaltet eine wissenschaftliche Ausgabe. Danach verliert sich die Spur des Codex; klar ist nur: Er leidet schweren Schaden, zumal durch eine unsachgemäße Reparatur mit Holzleim. Vier Blätter werden gar herausgeschnitten, mit pseudo-mittelalterlichen Heiligendarstellungen übermalt und verscherbelt. Was 1998 bei Christie’s für 2,2 Millionen Dollar an einen ungenannten Privatsammler geht, ist nach einer Odyssee durch Europa in einem viel schlechteren Zustand als neunzig Jahre zuvor. Doch der Sammler übergibt das Erworbene dem Walters Art Museum in Baltimore zur Restaurierung und wissenschaftlichen Auswertung. In mühevollster Arbeit wird der Codex zerlegt, der Verfallsprozeß des Pergaments gestoppt, der Text mit modernster Technik wieder lesbar gemacht. Lange vorbei die Zeiten, da der Palimpsest mit Teilen von Ciceros De re publica mit Chemikalien lesbar gemacht und zugleich irreparabel zerstört wurde.
Das Ergebnis liegt – wissenschaftlich penibelst aufgearbeitet – in zwei großformatigen Bänden vor, die bei Cambridge University Press für ca. 250 Dollar zu haben sind. In Hildesheim zu sehen sind, wie gesagt, drei Blätter. Sie enthalten ein Stück aus der sog. Methodenlehre, die Archimedes wegen des hinführenden Charakters der Erörterung in der literarischen Form eines Briefes an den Universalgelehrten und Direktor der Bibliothek von Alexandria Eratosthenes schrieb, sowie ein Stück aus dem Traktat Über schwimmende Körper. Zwei weitere Texte, die auf dem Wege der Zweitverwertung ebenfalls in den Palimpsest-Codex gekommen waren, stehen ein wenig im Schatten der Schöpfungen des wohl berühmtesten Sohnes der Stadt Syrakus: ein Stück aus Aristoteles‘ Kategorienlehre und fünf Seiten mit Stücken aus zwei vor kurzem nicht bekannte Reden des Hypereides aus der Zeit Alexanders des Großen, wertvolle Zeugnisse für den juristischen und geschichtspolitischen Kampf um die richtige Deutung der jüngsten Vergangenheit in Athen.
Großzügig stellt die Schau die verschiedenen Kontexte her: ägyptische und griechische Mathematik (Archimedes hatte wohl längere Zeit in Alexandria gelebt und geforscht); die Person des Archimedes, der in seinen Siebzigern 212 oder 211 bei der Eroberung von Syrakus durch die Truppen des Claudius Marcellus von einem römischen Soldaten getötet worden sein soll; seine praktischen Erfindungen (drei davon in Nachbauten: ein Flaschenzug, der Katapult, die archimedische Schraube zur Anhebung von Wasser auf ein höheres Geländeniveau); die Rezeptionsgeschichte (die im Grunde 75 v.Chr. beginnt, als Cicero, damals Hilfsbeamter des Statthalters auf Sizilien, das Grab des Archimedes sucht und findet; das antike und mittelalterliche Buchwesen; die Geschichte des Codex und wie er restauriert und die verlorengeglaubten Texte wieder zurückgewonnen werden konnten. Auch vor einer Darstellung der mathematischen Leistungen des Archimedes, der etwa die Grundlagen für die moderne, maßgeblich von Kepler, Cavalieri, Huygens, Newton und Leibniz entwickelten Infinitesilmalrechnung begründete und für die Zahl Pi einen ziemlich guten Näherungswert ermittelte, drückt sich die Ausstellung nicht. Drei monumentale Kopien einschlägiger Gemälde, darunter Benjamin West Darstellung von Ciceros Entdeckung des Archimedes-Grabes, 1804), gehören zu den großen Schauwerten. Fast erdrücken sie die viel kleineren fiktiven Porträts des Archimedes. Natürlich fehlen auch die bekannten Geschichte um Archimedes und seine geflügelten Aussprüche nicht, etwa wie er nackt und heureka rufend durch Syrakus gelaufen sein soll, nachdem er in der Badewanne das Prinzip des Spezifischen Gewichts entdeckt hatte, oder der Satz: Gebt mir einen festen Punkt, und ich werde die Erde bewegen. „Popular embellishment“ nennt das nüchtern die Encyclopedia Britannica.
Man hätte vielleicht noch deutlicher machen können, daß die antike Überlieferung zu Archimedes außerhalb seiner eigenen, naturgemäß sehr hermetischen Schriften und außerhalb der wissenschaftlichen Diskussion anderer Gelehrter, also dort, wo ein allgemeines Publikum über ihn ins Bild gesetzt werden sollte, extrem von Anekdoten geprägt ist. Wo vom Gegenstand so gut wie nichts verstanden oder verständlich gemacht werden konnte, trat das Staunen und Übertreiben dafür ein. Nicht nur Alexander war eine mythogene Figur, nicht erst Stephen Hawking hatte das Zeug zum Popstar. Zum Glück aber vermeidet die Ausstellung Phantastereien wie die Hohlspiegel, mit denen Archimedes römische Schiffe in Brand gesetzt haben soll. Die Seriosität des ganzen Unternehmens tritt noch mehr hervor, wenn man sich die dort in einer Endlosschlefe laufende, für das ZDF produzierte ‘Docufiction‘ anschaut, die alle Klischees, billigen Dramatisierungen und rauchschwangeren Verfremdungen aufhäuft, die man sich nur denken kann, garniert mit haltlosen Spekulationen und kleinen Fehlern.
Abb.: Ausstellungsflyer
Bis 4. September. Ein informativer sechzehnseitiger Sonderdruck aus der Zeitschrift Antike Welt kostet an der Museumskasse vier Euro; darin auch weitere Literatur. Sehr hilfreich ist https://www.archimedespalimpsest.org/. Wer alle Seiten in verschiedenen Verfahren der Sichtbarmachung studieren möchte, kann das hier tun (Dateien bis zu 254 MB groß!).