Täuscht der Eindruck, oder wird im Lichte der enervierenden griechischen Entwicklungen der letzten zwei, drei Jahre nunmehr noch öfter als zuvor darauf hingewiesen, wie konstruktiv jede Rezeption des antiken Hellas sei, wie sehr jede Wertsetzung in Richtung Antike deren Wirklichkeit ignoriere (und von den selbsternannten Erben von Sokrates und Perikles instrumentalisiert worden sei)? In der „Süddeutschen Zeitung“ (20. Juli 2012, S. 13) war unlängst ein Bericht über die Ausstellung „Die Unsterblichen – Götter Griechenlands“ zu lesen, die bis Sommer 2013 in der Münchener Glyptothek zu sehen ist. In die Museen am Königsplatz „wollte man schon vor 200 Jahren die Ideale aus dem Altertum retten. Gerade als der Münchener Bau der Propyläen fertig wurde, auf dem der Freiheitskampf der modernen griechischen Nation wie eine Gigantomachie dargestellt ist, scheiterte freilich das Herrschaftsexperiment der bayerischen Dynastie in Athen. Man weiß also so gut wie Schiller an diesem klassizistischen Ort: Der historische Abstand bleibt unüberbrückbar.“
Und selbstverständlich gibt es auch vor den Olympischen Sommerspielen in London einen Artikel, der den Rekurs auf die antiken Spiele durch den ‘Erfinder‘ der neuen als schlichten Irrtum zu erweisen sucht (Christiane Eisenberg, Wie olympisch sind die Olympischen Spiele?, FAZ 21. Juli 2012, Z 1f.). Durch eine „Kombination von Missverständnissen der griechischen agone und der English sports machte sich Coubertin zu einem Protagonisten der fragwürdigen, weil anachronistischen Vorstellung vom ‘antiken Sport‘ – eine Redeweise, die er nicht erfunden hatte, aber zu verbreiten half.“ Sogar von den Altertumswissenschaften sei diese Vorstellung übernommen worden. Die „Verschmelzung von Quellenbefund und Interpretation“ erscheint hier als ein Sündenfall – und nicht als das, was sie ist, nämlich die einfachste Bestimmung des Begriffs Hermeneutik. Die Frage, „ob und in welcher Hinsicht Coubertin mit seinen Olympischen Spielen der Neuzeit eine Kopie gelang“, erscheine müßig. In der Tat. Ein seltsamer Denkfehler: Als ob es nicht gerade das Wesen jeder fruchtbaren Rezeption wäre, aus den antiken Befunden auszuwählen, nicht Brauchbares auszuscheiden, das für wertvoll Erachtete neu zu kombinieren und für einen selbst fruchtbar zu machen. Auch der Versuch, mit dem Verweis auf das Vorbild Autorität zu gewinnen, sollte nicht beanstandet werden. Eine „Kopie“ der Alten hingegen wäre unter den Bedingungen der Renaissance wie der Moderne wie der Postmoderne gleichermaßen steril – mit Rezeption hätte sie nichts zu tun.
Zum Glück reitet die Verfasserin ihren irregeleiteten Eingangsgedanken nicht weiter, sondern skizziert kenntnisreich den persönlichen Hintergrund des Barons de Coubertin, den englischen Traditionsstrang, die mühsamen Anfänge der Spiele und ihre Wechselspiel mit dem zeitgenössischen Nationalismus. Ja, sie stellt klar: „Angesichts der vielfältigen Erwägungen, die Coubertin mit seiner olympischen Initiative verband, erscheint seine Reverenz an die Spiele der Antike als eine zusätzliche, aber letztlich eher nebensächliche Werbemaßnahme, um dem gebildeten Publikum die Seriosität seines Unternehmens zu versichern. Er ging mit dein historischen Modell bewusst pragmatisch um: »Das neue Olympia darf das antike nur insoweit berücksichtigen, als die Erfordernisse der Gegenwart mit den antiken Gebräuchen zusammentreffen«, schrieb er 1908. »Außerhalb dieser Zufälligkeit muss man Neuerungen einführen.« Diese pragmatische Sicht der Dinge provoziert die Frage, ob in dem Programm, das Coubertin der Welt als ‘Olympische Spiele der Neuzeit‘ hinterließ, überhaupt Elemente des antiken Modells wiederzufinden sind.“
Das Ergebnis fällt erwartbar negativ aus und muß hier nicht referiert werden. Wer aber über das anlaßgebundene Räsonnieren hinaus tiefer in die antike Praxis selbst eindringen will, kann jetzt zu einer gediegenen Anthologie greifen, die von vier österreichischen Kennern des antiken Sports erstellt wurde. Die Frage, ob es in der Antike „Sport“ gegeben habe, beantworten sie pragmatisch – mit einer geeigneten, durchaus sinnvollen Definition: körperliche Wettkämpfe, die öffentlich, mit dem Ziel, den Sieg zu erringen, nach bestimmten Regeln und Abläufen in Anwesenheit von Schiedsrichtern bestritten werden. Die thematisch geordnete Sammlung mit kurzen Einleitungen und Literaturhinweisen, dem jeweiligen Originaltext und einer Übersetzung stellt eine Fundgrube dar; man liest sich rasch fest. Nur zwei mir besonders sinnfällig erscheinende Texte seien hier als Proben zitiert.
Anfang des 3. Jahrhunderts n.Chr. verfaßt Philostrat eine Sammlung von (echten oder fiktiven) Gemäldebeschreibungen (Eikones). Darin heißt es (2,6,1-5; Übers.: O. Schönberger) zur Darstellung eines antiken ‘Ultimate-Fightings‘:
„Du kommst gerade zu den olympischen Spielen, und zwar zum schönsten Kampf in Olympia, denn dies hier ist das Pankration der Männer. Den Kranz darin erhält Arrichion, den der Sieg das Leben kostet, und es bekränzt ihn der Hellanodike (Kampfrichter) hier, den man als wahrhaftig bezeichnen soll, weil er sorgsam auf die Wahrheit achtet und getreu wie jene Kampfrichter gemalt ist. Der Erdboden liefert eine Kampfbahn in einem ebenen Tal, das ein Stadion lang ist, und die Strömung des Alpheios ergießt sich mit leichtem Gewässer, weshalb er auch allein von allen Flüssen über das Meer hinfließt; wilde Oliven sind rings um ihn gewachsen, schön in ihrem graugrünen Schimmer und kraus wie Eppich. (…) Die Tat des Arrichion aber wollen wir ansehen, bevor sie vollendet ist. Denn er scheint nicht nur seinen Gegner, sondern auch ganz Hellas besiegt zu haben; wenigstens schreien sie, aufgesprungen von ihren Sitzen, und die einen werfen beide Hände empor, andere ihr Gewand, die da springen von der Erde auf, und jene ringen aus Freude mit ihren Nachbarn; denn wirklich aufregende Schauspiele erlauben den Zuschauern nicht, gefasst zu bleiben; oder wer wäre so fühllos, über diesen Kämpfer nicht aufzuschreien? Denn obwohl es schon etwas Großes für ihn ist, dass er bereits zweimal in Olympia siegte, so ist doch dies jetzt größer, dass er den Sieg um sein Leben erkauft hat und nun mit Staub bedeckt zum Gefilde der Seligen geleitet wird. Man darf dies aber nicht als Zufall verstehen, denn er hat seinen Sieg aufs klügste vorbereitet. Und der Ringkampf (palaisma) selbst? Die Pankratiasten, mein Kind, bestehen einen gefährlichen Kampf; sie gebrauchen nämlich Kinnstöße, die für den Kämpfer nicht ungefährlich sind, und Griffe, bei denen man nur die Oberhand gewinnen kann, wenn man scheinbar stürzt, und sie brauchen auch die Kunst, bald so, bald anders zu würgen; sie stoßen außerdem mit der Ferse und verdrehen den Arm des ändern, wozu noch Stoß und Sprung auf den Gegner kommen; all dies nämlich ist beim Pankration erlaubt mit Ausnahme von Beißen und Krallen. Bei den Lakedaimoniern freilich ist auch dies im Schwang, wohl als Vorübung zum Krieg; die Spiele in Elis aber verbieten es, doch erlauben sie Würgen. Daher hat der Gegner den Arrichion schon mitten um den Leib gefasst und will ihn töten; schon hat er ihm den Ellbogen in den Hals gepresst, um ihn zu ersticken, und nachdem er die Beine in seine Leisten hineingezwängt und die zwei Fußspitzen in die Kniekehlen geklammert hatte, kam er ihm zwar mit dem Erwürgen zuvor, durch das der einschläfernde Tod in die Sinnesorgane eindringt, weil er aber in der Anspannung seiner Schenkel nachließ, raubte er Arrichion nicht die Überlegung; nachdem nämlich Arrichion die Fußsohle des Gegners, die ihm rechts gefährlich war, weil sein Knie in der Luft hing, abgedrängt hat, presst er jenen mit der linken Seite seines Leibes so zusammen, dass er nicht mehr widerstehen kann, und nachdem er sein ganzes Gewicht in die linke Seite verlegt und die andere Fußspitze des Gegners in seiner Kniekehle eingezwängt hat, quetscht er durch die gewaltsame Drehung nach außen den Knöchel aus der Pfanne; denn das aus dem Leib entweichende Leben schwächt diesen zwar, lässt ihm aber noch die Kraft, mit seinem ganzen Gewicht aufzuliegen. Gemalt ist der eine, der gewürgt hat, einem Toten ähnlich und wie er das Aufgeben mit der Hand anzeigt, Arrichion aber ist wie alle Sieger gemalt; denn er sieht noch lebendig und rot aus, sein Schweiß ist noch frisch, und er lächelt wie die Lebenden, wenn sie merken, dass der Sieg ihrer ist.“
Gegen die Zweckentfremdung von Geldern, die für die Athleten bestimmt sind, wendet sich Kaiser Hadrian 134 n.Chr. in einer kürzlich in Alexandria Troas (heute Dalyanköy) aufgefundenen Inschrift. Der Kaiser ordnet an, daß „die Wettkämpfe alle stattfinden sollen und dass es einer Stadt nicht erlaubt ist, das Budget eines Wettkampfes, der gemäß Gesetz, Beschluss oder Testamenten abgehalten wird, zu anderen Aufwendungen umzulenken, noch lasse ich es zu, das Geld, aus dem für Wettkampfteilnehmer die Preise entrichtet oder den Siegern die Zuwendungen gegeben werden, zur Errichtung eines Bauwerks zu verwenden. Wenn aber einmal eine Stadt sich gezwungen sieht, Ressourcen zu finden, nicht zu Schwelgerei und Luxus, wohl aber um Getreide zu liefern, dann soll mir das mitgeteilt werden; ohne meine Erlaubnis aber soll es niemandem erlaubt sein, zu einem derartigen Zweck diese für die Wettkämpfe bereitgestellten Gelder in Anspruch zu nehmen. Denn jenes wäre nicht nur ungerecht, es wäre in gewisser Weise sogar boshafter Betrug, dass man (nämlich) einen Wettkampf ankündigt und die Wettkampfteilnehmer einlädt, darauf bei deren Ankunft entweder sogleich oder ab der Eröffnungsveranstaltung oder nachdem man gewisse Teile ausgeführt hat, die Feier mittendrin auflöst. (…) Wer aber so etwas vorschlägt oder zur Abstimmung bringt oder das Bauwerk errichtet hat, den werde ich persönlich vorladen, damit er Rechenschaft darüber ablegt, warum er die Anordnungen nicht befolgt hat; er wird daher die gerechte Strafe erleiden (…). In den Dingen, die sich auf die Kampfpreise und die Zuwendungen beziehen, führt ihr berechtigte Klage; denn ich weiß auch selber, dass diejenigen, die in den Städten diese (Mittel) verwalten, wenn sie sie auch nicht irgendwie selbst kassieren, doch das Geschuldete den Athleten vorenthalten.“ Es folgen Vollzugsvorschriften: „Die Kampfpreis-Angelegenheiten sollen so ablaufen: Im Allgemeinen ist bei den Wettkämpfen ein Amtsträger von uns anwesend. Der Agonothet (Ausrichter) eines jeden Wettkampfes soll dem Leiter der Provinz oder dem Prokonsul oder dem Quaestor oder dem Legaten oder wer immer der Anwesende ist, einen Tag vor jedem Ausscheidungswettkampf das Geld für den Geldpreis (in korrekter Menge) übergeben. Dieser soll es in eine Börse stecken, diese versiegeln und sie bei dem Siegerkranz niederlegen (…), und der Sieger soll (den Geldpreis) zusammen mit dem Siegerkranz sogleich nach seinem Sieg vor aller Augen in Empfang nehmen. Die Zuwendungen sollen den Hieroniken (den Siegern bei diesen den Göttern geweihten Wettkämpfen) gemäß den festgesetzten Fristen gegeben werden. Der Archon oder Schatzmeister, der (eine Zuwendung) nicht gegeben hat, soll dem Hieroniken sogar ein Anderthalbfaches bringen. Die Zuwendung soll in Bargeld erfolgen; denn die Städte haben den Wettkämpfern nicht Weizen oder Wein versprochen, es ist auch nicht gerecht, dass jene (Wettkämpfer) zusätzlich zum Erleiden einer Einbuße Handel treiben sollen.“
Quellen zum antiken Sport. Griechisch/lateinisch und deutsch. Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Peter Mauritsch, Werner Petermandel, Harry Willy Pleket und Ingomar Weiler. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2012, 443 S., geb., € 49,90 (für Mitglieder).
Abb. des Athleten mit dem Schaber aus: H. Luckenbach, Kunst und Geschichte. Große Ausgabe, 1. Teil: Altertum, 9. Aufl. 1913, S. 69.
Etwas Literatur zu Olympia: Ulrich Sinn: Das antike Olympia. Götter, Spiel und Kunst. München 2004; ders., Olympia. Kult, Sport und Fest in der Antike. München 2002; Michael Siebler: Olympia. Ort der Spiele, Ort der Götter. Stuttgart 2004; Judith Swaddling: Die Olympischen Spiele der Antike. Stuttgart (reclam) 2004; Gerald P. Schaus/Stephen R. Wenn: Onward to the Olympics. Historical Perspectives on the Olympic Games. Toronto 2007; Karl-Wilhelm Weeber: Die unheiligen Spiele. Das antike Olympia zwischen Legende und Wirklichkeit. Zürich u.a. 1991 (reißerisch); Moses I. Finley/H.W. Pleket: Die Olympischen Spiele der Antike. Tübingen 1976; Linda-Marie Günther (Hg.): Olympia und seine Spiele. Kult – Konkurrenz – Kommerz. Berlin u.a. 2004; Andreas Hartmann: Dabei sein ist nicht alles: Die Olympischen Spiele in Antike und Neuzeit. In: Waltraud Schreiber, Carola Gruner (Hrsg.), Von den Olympischen Spielen bis zur Potsdamer Konferenz. Standardthemen des Geschichtsunterrichts forschungsnah (Schriftenreihe: Eichstätter Kontaktstudium zum Geschichtsunterricht, Bd. 6). Neuried 2006, S. 63-123; Uwe Walter, Die Olympischen Spiele in der Antike: Friedensfest oder Krieg ohne Schießen?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59, 2008, 276-90 – Zwei Ausstellungskataloge: Raimund Wünsche/Florian Knauß (Hgg.): Lockender Lorbeer. Sport und Spiel in der Antike. Staatliche Antikensammlung München o.J. (2005); Manfred Gutgesell: Olympia. Geld und Sport in der Antike. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Kestner-Museum Hannover, 19. August bis 14. November 2004. Hannover o.J. (2004).
p.s. Gerade die Andersartigkeit der Hellenen regt an, die eigene Welt nicht als die einzig vernünftige zu verkennen. Johan Schloemann schließt seine Empfehlung der Münchener Ausstellung in diesem Sinne prägnant: „Die Griechen kannten keine heiligen Schriften, keine Missionsabsicht, sondern Ehrfurcht und Erzählung; und so fügt sich die Münchener Schau mit einem gründlichen Katalog zu einem umfassenden, aber kurzweiligen Überblick über die ganze Buntheit des Polytheismus.“
Bei epoc gibt es einen...
Bei epoc gibt es einen kostenlosen Artikel über Olympia aus dem Archiv (von 2004):
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