Wenn Philosophen ältere Philosophen interpretieren, tun sie das bisweilen monumentalisch: als Eidhelfer und Hebammen für ihren eigenen (Neu-)Ansatz. Das gilt auch für die sogenannten Vorsokratiker, die deshalb im 20. Jahrhundert völlig gegensätzliche Deutungen erfahren haben. So zog Heidegger zu seinem Bemühen, die Philosophie noch einmal anzufangen, auf den Fußspuren Nietzsches die Denker vor Platon und Aristoteles heran, die seiner Ansicht nach noch eine von der späteren Metaphysik unverstellte Erfahrung des Seins genossen, die Heidegger im Begriff der a-letheia (Nicht-Verhüllung, gängige Bedeutung: Wahrheit) codiert sah: eine „Entbergung zur Unverborgenheit“. Die Offenheit der Vorsokratiker erschien Heidegger als Anfang und als Chance, die Frage nach dem Sein ganz neu zu stellen. Michael Theunissen bescheinigt Heidegger, er sei durchaus „der letzte Philosoph des 20. Jahrhunderts, der seine Denkkraft aus den Quellen der griechischen Antike schöpfen wollte“, gewesen. Aber der monumentalische Ansatz habe seine Spuren hinterlassen: „Wann immer Heidegger die Auslegung von Wörtern wie alétheia, lógos, phýsis in ihre letzten Konsequenzen treibt, enthüllt sich sein die Erschließungsleistung beeinträchtigender Hang zur Verschließung als Folge einer Subsumtion griechischer Philosophie unter seine eigene.“
Zu Heidegger fiel Karl Popper nicht viel Gutes ein. Alles vernebelnder Hokuspokus, so der kritische Rationalist, der sich indes ebenfalls intensiv mit den frühen Denkern, zumal Heraklit, Parmenides und Xenophanes befaßte, sie aber ganz anders las. Er verstand sie als Aufklärer und suchte zumal Xenophanes vom Geruch der Oberflächlichkeit freizusprechen – der Aufklärern gern zugesprochen werde: „Ich möchte betonen, daß es eine der größten Leistungen des Xenophanes war, daß er alle wichtigen Ideen der europäischen Aufklärung vorwegnahm und nachdrücklich für sie einstand. Dazu gehörten die Ideen des Kämpfens für die Wahrheit und gegen die Vernebelung, des Gebrauchs einer klaren und bescheidenen Ausdrucksweise in Rede und Schrift, der Methode der Ironie und besonders der Selbstironie, des Vermeidens der Pose eines tiefen Denkers, der kritischen Betrachtung der Gesellschaft und des Blicks auf die Welt voller Staunen und ansteckender Neugier.“ Ein kaum verhülltes Selbstbild des Interpreten.
Nun ist der genannte Vorwurf gegen Xenophanes freilich alt. Er läßt sich bis zu eben jenem Heraklit zurückverfolgen, der in der Antike das Epitheton ‘der Dunkle‘ hatte und sich in geradezu heidegger’schem Selbstbewußtsein vernehmen ließ: „Viel Gelehrsamkeit lehrt noch nicht, sich einen Begriff zu machen; sonst würde sie es Hesiod gelehrt haben und Pythagoras, wie auch Xenophanes und Hekataios.“
Wer die philosophischen Selbstermächtigungen der modernen Meisterdenker durch ihre Vorsokratiker-Interpretationen hinter sich lassen oder kritisch prüfen möchte, findet seit kurzem einen gewiß nicht leichten, aber wenigstens gebahnten Weg vor. Bei Reclam ist eine neue zweisprachige Ausgabe der Vorsokratiker herausgekommen (2011 im Hardcover, jetzt auch in der Universalbibliothek). Sie geht auf eine vor bald dreißig Jahren am gleichen Ort erschienene Edition von Jaap Mansfeld zurück; für die Neubearbeitung zeichnen wiederum Mansfeld und – neu – der Münchener Gräzist Oliver Primavesi verantwortlich. Die Einführung wurde stark erweitert, das Kapitel über Empedokles konnte durch die Entdeckung neuer Texte stark vermehrt werden und eine ganz neue Gestalt gewinnen. Auch die anderen Abschnitte wurden teilweise überarbeitet.
Die Bedeutung ihres Gegenstandes bestimmen die Bearbeiter weder übersteigernd noch defensiv: „Die Größe der Vorsokratiker, die in der Philosophiegeschichte immer wieder auf einen Ehrenplatz gehoben werden, liegt nicht nur in dem Faktum begründet, dass die Philosophie mit ihnen angefangen hat. Denn darüber lässt sich streiten und ist tatsächlich auch gestritten worden. Sie liegt vielmehr darin, dass viele wesentliche Fragen, Themen und Bedingungen der Wissenschaft und der Philosophie erstmalig in den uns erhaltenen Äußerungen dieser Pioniere aufzufinden sind. An dem Erwachsenen erkennt man das Kind. Das soll selbstverständlich nicht bedeuten, dass der vorsokratischen Philosophie etwas in einem negativen Sinne Kindliches anhaftet. Im Gegenteil: Je besser wir uns selbst als denkende und handelnde, als wissenschaftlich und philosophisch tätige Menschen verstehen lernen und je mehr wir die vielschichtigen und verwickelten Traditionen, die unsere Tätigkeiten mit bestimmen, auf ihre Zusammenhänge hin untersuchen, um so besser verstehen wir die Vorsokratiker. Es ist zwar nicht so, dass die Aussagen dieser Philosophen sich heutzutage ohne weiteres verwenden lassen oder dass aus ihrem Munde die Antwort auf die Frage nach den sogenannten letzten Dingen zu erwarten wäre, als ob eine erste Antwort zugleich auch eine endgültige sein könnte. Romantisierende Rückschau führt zur Mystifikation. Wenn es eine Vorbildhaftigkeit der Vorsokratiker gibt, so ist sie vor allem in einer kritischen und rationalen Haltung begründet, die nicht bloße kulturgeschichtliche Tatsache sein sollte, sondern heute kaum weniger als damals errungen werden muss.“
Die einebnende Bezeichnung ‘Vorsokratiker‘ problematisieren selbstverständlich auch Mansfeld und Primavesi, jedoch vernünftigerweise ohne Ehrgeiz, sie abzuschaffen, eingebürgert wie sie nun einmal sei. Außerdem hält die Einführung viele Einsichten bereit, so die Beobachtung, daß die frühe griechische Philosophie gleichsam um das griechische ‘Mutterland‘ herum entstanden ist, in Kleinasien und Großgriechenland. Erörtert werden die Bedingungen für die Entstehung einer Philosophie, die Eigenart dieser spezifischen, alternativen Art des Denkens sowie die wichtigsten Felder der Bemühungen, die – wie an Heraklits Polemik zu sehen – auch schon früh und polemisch miteinander rangen. Die in der immer noch unersetzten dreibändigen Ausgabe von Diels/Kranz (Die Fragmente der Vorsokratiker) gesammelten wörtlichen Fragmente sind annähernd vollständig übernommen, die vielfach problematischen Zeugnisse und Berichte hingegen nur in strenger Auswahl.
Ein Xenophanes-Fragment, das Popper sehr gefallen hat, liest sich bei Mansfeld und Primavesi so (Fragment 39 M/P = Diels-Kranz 21 B 34): „Klares hat freilich kein Mensch gesehen, und es wird auch keinen geben, der es gesehen hat / hinsichtlich der Götter und aller Dinge, die ich erkläre. / Denn sogar wenn es einem in außerordentlichem Maße gelungen wäre, Vollkommenes zu sagen, / würde er sich dessen trotzdem nicht bewusst sein: Bei allen Dingen gibt es nur Annahme.“
Die Vorsokratiker. Griechisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und erläutert von Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi. Reclam, Stuttgart 2011, 799 S., € 19,80
Karl Popper, Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. Hgg. von Arne F. Petersen, aus dem Englischen von Sibylle Wieland und Dieter Dunkel. Piper-TB, München/Zürich 2005
Sergiusz Kazmierski, Die Anaximanderauslegung Heideggers und der Anfang des abendländischen Denkens. Nordhausen, Bautz 2011
Hans-Christian Günther / Antonios Rengakos (Hgg.), Heidegger und die Antike. München, C.H. Beck 2006
Michael Theunissen, Heideggers Antike. In: Bernd Seidensticker / Martin Vöhler (Hgg.), Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Stuttgart / Weimar 2001, Metzler, 83-97.
"Wenn es eine...
„Wenn es eine Vorbildhaftigkeit der Vorsokratiker gibt, so ist sie vor allem in einer kritischen und rationalen Haltung begründet, die nicht bloße kulturgeschichtliche Tatsache sein sollte, sondern heute kaum weniger als damals errungen werden muss.“
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Dieser Satz gefällt mir besonders gut, weil er zum Ausdruck bringt, dass die Bechäftigung mit der Antike kein Traditionalismus ist, sondern eine ständige Erneuerung der Gegenwart, die zwar theoretisch auch ganz ohne Antike zu leisten wäre, aber doch viel besser mit. Natürlich kann man das Rad neu erfinden, aber warum sollte man? (Andererseits: Könnte man das Rad neu erfinden, nachdem man einmal ein Rad gesehen hat?)
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Der Begriff „Vorsokratiker“ ist insofern auch problematisch, als so manche ihrer Lehren uns von Platon her bestens bekannt sind. So manche vorsokratische Lehre ist also höchst „sokratisch“. Die Auffassungen des Empedokles z.B. finden sich geballt im Dialog Timaios wieder. Das ist jener Dialog, in dem eine Reihe von Westgriechen beeinander sitzen und u.a. auch über Atlantis sprechen, das ja auch im Westen gelegen haben soll … ich arbeite daran.