Die Ereignisse und Enthüllungen der letzten Jahre haben die Neigung verstärkt, nahezu alles, was aus Hellas verlautet, zunächst einmal als unwahr, bestenfalls als schön erfundene Geschichte – Mythos im landläufigen Sinn – zu betrachten. Die rühmende Rede war eine Erfindung der alten Griechen. Und lügen nicht zumindest alle Kreter? Als allerdings griechische Politiker unserer Zeit auf die ‘Geschichte‘ verwiesen und darauf zielten, etwaige Bedenken zu zerstreuen, ob Hellas wirtschaftlich und institutionell schon weit genug war, um 1981 der Europäischen Gemeinschaft und später dem Euroraum beizutreten, wucherten sie mit Pfunden, die sie nicht erfunden hatten. Es waren dies die Freiheitsdividende nach Abschüttelung der Obristen-Diktatur i.J. 1974, wie sie auch Spanien und Portugal erhielten, und selbstverständlich das antike Griechenland als „Wiege der europäischen Zivilisation“ und zumal der Demokratie. Von dieser „invention of tradition“, die zwischen den alten und den neuen Hellenen eine breite Brücke schlug, war hier schon verschiedentlich die Rede. Sie wirkt bis in die jüngste Zeit und über Griechenland hinaus, wie etwa die Präambel der 2004 verabschiedeten, aber wegen der Referenden in Frankreich und den Niederlanden nicht ratifizierten EU-Verfassung erhellt.
Ursprünglich als Motto dieser Präambel vorangestellt und so mit einiger Bedeutsamkeit versehen war nämlich ein verkürztes Zitat aus einer berühmten Passage in der Geschichte des Peloponnesischen Krieges des Thukydides (2,37). Es erschien im griechischen Original und in Übersetzung; die deutsche Fassung lautet: „Die Verfassung, die wir haben … heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist.“ Der Satz stammt aus der Rede, die der Geschichtsschreiber dem athenischen Strategen Perikles in den Mund gelegt hat. Formal Ehrung der Gefallenen am Ende des ersten Kriegsjahres, ist dieser Epitaphios tatsächlich ein Elogium auf die Polis Athen, die sich auf dem Gipfel ihres Gedeihens befand, bevor mit dem Ausbruch der verheerenden Seuche im Folgejahr zwar nicht die Macht, wohl aber das gelassene Selbst- und Kraftgefühl der Athener zuschanden wurde.
Mit einer gesuchten Wendung (oikein es) nennt Thukydides die politische Ordnung Athens nun nicht etwa deshalb Demokratie, weil dort eine Mehrheit der Bürger (und nicht eine kleine Gruppe von Besitzenden) herrsche, sondern „weil die Angelegenheiten nicht im Interesse Weniger, sondern der Mehrheit gehandhabt werden“. Die Spur der philologisch korrekten und historisch spannenden Interpretation kann von dem englischen Thukydideserklärer E. Bentham im achtzehnten Jahrhundert über George Grotes monumentale History of Greece bis in die Studie über die Selbsterschaffung der Athener aus der Feder von Nicole Loraux verfolgt werden.
Der EU-Thukydides nun ließ die demokratietheoretisch wie -praktisch nicht ganz belanglose Entscheidung, ob von einer Regierung des Volkes oder einer Regierung für das Volk die Rede sein soll, unbewußt oder mit Hintersinn offen, indem er den Begriff Demokratie – wider den in der Antike unmißverständlichen Wortsinn – sibyllinisch als „Ausrichtung“ des Staates auf die Mehrheit seiner Bürger übersetzt. (Wohl wegen der Mehrdeutuigkeit wurde der Satz im Verlauf der Regierungskonferenz zur weiteren Ausarbeitung des Verfassungsvertrages gestrichen.) Bezogen auf sein Verweisobjekt, die athenische Demokratie in klassischer Zeit und ihre Interpretation durch den historischen Thukydides, sitzt er aber zugleich zwischen allen Stühlen. Denn einerseits zielten alle institutionellen Mechanismen und Sicherungen dieser speziellen bürgerstaatlichen Ordnung, ihre ganze Praxis und das Bewußtsein der Bürger eindeutig auf die vollständige und ohne Rücksicht auf mögliche Nachteile durchgeführte, unmittelbare Regierung durch das hochpolitisierte Volk. In Sachfragen gab nach breiter öffentlicher Beratung die Mehrheit den Ausschlag, bei der Auswahl von Funktionspersonal für Ämter und Gerichtshöfe entschied meist das Los, was nichts ausmachte, weil fast alle Funktionsträger eine schwache Position hatten und beständig scharf kontrolliert wurden. Politische Führung durch einzelne Aristokraten wie Perikles gab es natürlich, aber diese hatte keine Chance, sich nach dem „Ehernen Gesetz der Oligarchie“ zu verselbständigen und zu verfestigen; vielmehr sahen sich die Angehörigen der Elite stets darauf verwiesen, im öffentlichen Wettbewerb vor der Bürgerschaft um Vertrauen und Zustimmung zu ringen. Daß die Demokratie die Dinge im schnöden Interesse der breiten Mehrheit handhabe, war hingegen ein Hauptargument ihrer Kritiker aus der Oberschicht, die in der Herrschaft der Masse Geist und Kompetenz vertrieben wähnten und eine egoistische Klassenherrschaft der weniger Begüterten am Werke sahen.
Thukydides teilte diese extreme Sicht sicher nicht, aber ein moderner Kommentator notierte mit Recht, „Thucydides does not make Pericles speak like an enthusiast for democratic doctrine“. In der Tat fällt auf, daß sein Perikles die politische Realität der direkten Volksherrschaft hier fast völlig übergeht und dafür ein einzigartiges Lebensgefühl beschreibt, das sich aus Aktivität und Wettbewerb, Wohlstand und Wehrhaftigkeit, aber auch Gelassenheit, Liberalität, Offenheit, Muße und Sinn für das Schöne speise – alles Werte des Adels, die hier auf das große „wir“, auf die gesamte Bürgergemeinde übertragen werden. Es ist dies eine aristokratische Lesung der Demokratie. Ein antiker Kommentator hat sie vergröbert: Thukydides habe Athen als Demokratie nur dem Namen nach bezeichnet, in Wirklichkeit aber als Aristokratie gesehen. Ein ähnliches, ebenfalls scheinbar von Thukydides gedecktes Mißverständnis geistert noch heute durch viele Schulbücher und noch mehr Köpfe: Weil die Athener Perikles immer wieder folgten, ja bisweilen zu gehorchen schienen, sei die angebliche Demokratie in Wahrheit eine Herrschaft des ersten Mannes gewesen.
Die Stilisierung des Perikles also schon durch den etwas jüngeren Zeitgenossen Thukydides, der in den 429 an der Seuche gestorbenen Volksführer zum Helden einer ungeschehenen Geschichte machte: wie Athen den Krieg hätte gewinnen können. Danach war von ihm nur wenig die Rede, und wenn, dann meistens von dem Redner. Erst Plutarch entwarf mehr als fünf Jahrhunderte später in seiner Biographie das Bild eines (mit Einschränkungen) nahezu vollkommenen Politikers und Anführers, um zu demonstrieren, daß einst auch die Griechen fähige Häupter besaßen.
Wolfgang Will hat nimmermüde und mit eindringlicher Quellenkritik den großen Anführer der Demokratie und das ‘perikleïsche Zeitalter‘ als Konstruktion erwiesen – letzteres geht wesentlich auf Voltaire und Winckelmann zurück, die sich für den Kontext der athenischen Kulturleistungen des 5. Jahrhunderts interessierten und das erste Goldene Zeitalter der Weltkultur eben als perikleïsches ansprachen. Will pointiert, was nach Abzug der Wünsche übrigbleibt: „Perikles war kein Lehrer, Visionär, Erzieher, Demokrat, Friedensstifter oder Kulturheros, er war (vielleicht) ein genialer Redner, der das Volk in der Ekklesia für sich zu gewinnen verstand, und ein (zunächst) sehr erfolgreicher Außenpolitiker und Militär, aus der Sicht der gegnerischen Griechen ein Tyrann. Erst die Moderne suchte Politik und Kunst zu versöhnen und schuf ein Bild frommer Erbaulichkeit. Inmitten eines Kranzes von Dichtern und Sängern, Bildhauern und Malern, Historikern und Philosophen steht Perikles auf dem ersten der drei Hügel – Akropolis, Capitol, Golgotha -, auf denen das Abendland ruht.“ Und: „Der Perikles, der heute in den Geschichtsbüchern, Lexika und wissenschaftlichen Biographien spukt, ist das alte Phantasiegebilde, eine Mixtur aus Demokrat, Kulturheros, weitsichtigem (Verteidigungs-)Kriegsplaner und Friedensstifter in einem. War Perikles einst dazu berufen, dem neuen Staat Adolf Hitlers antike Leitfigur zu sein, so ernennt ihn nun (1991) der amerikanische Historiker Donald Kagan in einer von den bundesrepublikanischen Feuilletons mit Überschwang begrüßten Biographie zum Idol für die neuen Staaten jenseits des einstmals Eisernen Vorhangs.“
Mit den alten und neuen Mythisierungen, deren Verbreitung und Verankerung im geschichtlichen Wissen man inzwischen auch bezweifeln kann, hält sich die Leipziger Althistorikerin Charlotte Schubert nicht lange auf. Ihr Darstellung bereichert die relativ neue Reihe „Reclam Sachbuch“. Ziemlich konsequent verzichtet der Autorin auf die biographische Illusion, die sich aus einer chronologischen Schilderung ergibt. Statt dessen skizziert sie die Familiengeschichte, den intellektuellen Hintergrund sowie die Entwicklung der Demokratie in Athen. Seinen ersten wirklichen Auftritt als Akteur hat Perikles dann in dem Zusammenhang, der sich mit einiger Sicherheit erkennen läßt: als Außenpolitiker und Kriegsherr. Deutlicher als andere hebt Schubert hervor, daß der dem Perikles von Thukydides zugeschriebene, angeblich defensive Plan für den großen Krieg gegen Sparta so gar nicht existierte. Auf die jährliche Invasion der Spartaner in Attika zeigte man sich schlecht vorbereitet, und die eigene Kriegführung zeigte deutlich offensive Züge. Ein weiteres, ausführliches Kapitel gilt dem Bauprogramm und dem darin eingeschriebenen „Streit um Symbole, um Geld, um Politik“.
Was bleibt? Auch Schubert hebt den Konstruktcharakter des Perikles- wie des Klassik-Bildes der Moderne hervor, zieht aber aus den ‘facts on the ground‘ eine subtile Wendung. Denn nicht alles ist Imagination (208f.): „Die Rekonstruktion der Bauten (auf der Akropolis) ist vollständig an einem Klassik-Bild orientiert, das alle historische Entwicklung des Ortes in nachklassischen, nachantiken mittelalterlich-byzantinischen und frühneuzeitlichen Epochen eliminiert hat. Das Diktum Plutarchs gilt offenbar immer noch, dass diese Bauten »Athens Freude und Schmuck« seien, der bewunderungswürdige Gegenstand aller Menschen. Denn: »Auch deshalb verdienen die perikleischen Bauten Bewunderung, weil sie in kurzer Zeit für ewige Zeit geschaffen sind. Nach Schönheit war jeder von ihnen alsbald antik, nach blühender Kraft aber noch heute von jugendlicher Frische. So strahlen die Bauten wie neu, wie von der Zeit nicht berührt, als trügen sie in sich den lebendigen Hauch einer nicht alternden Seele.« Die Akropolisbauten haben eine quasi sakrale Aura erhalten, die sie zeitlos und unberührbar werden lässt.
Gleichwohl sind die Akropolisbauten der perikleischen Zeit nicht nur eine immaterielle Konstruktion, nicht nur Symbol und Repräsentation, sondern materiell und räumlich seit zweieinhalb Jahrtausenden fassbare und ergreifbare Orte und Dinge, die jedes Jahr tausende ehrfurchtsvoller Bewunderer anziehen. Und auch die Demokratie Athens hat erstmals und in nach heutigen Maßstäben auch unglaublich stabiler Weise Teilhabe und Anteilmechanismen verwirklicht, die heute höchstens in lokal abgegrenzten, kleinsten und vor allem direkten Demokratien praktiziert werden können.
Insofern ist es berechtigt, denjenigen, der maßgeblich an der Verwirklichung dieser Ereignisse beteiligt war, in sein verdientes Licht zu rücken. Dies muss nicht in unkritischer Bewunderung sein, sollte aber eine Annäherung an die Figur ermöglichen.“
– U. Walter, Was Volkes Wille erstrebt. Wir hören, aber mach’s kurz: Giscard halbiert Thukydides, in: FAZ Nr. 289 v. 12.12.2003, 35 (hier z.T. wiederholt).
– S. Hornblower, A Commentary on Thucydides, vol. I: books I-III. Oxford 1991
– Nicole Loraux, The Invention of Athens. The funeral oration in the classical city. Cambridge (Mass.) 1986, Kap. IV
– W. Will, Perikles (rowohlts monographien). Hamburg 1995
= Charlotte Schubert, Perikles. Tyrann oder Demokrat? (Reclam Sachbuch). Stuttgart 2012. 238 S., kart., € 6,80.
Dieser Beitrag über Perikles...
Dieser Beitrag über Perikles passt n.m.M. genial in die aktuelle EU-Krisen- und Diskussionslandschaft, u.a.auch wg. Martin Walsers Beitrag ‚Das richtige Europa‘. Müssen wir die Reihe ‚Akropolis, Capitol, Golgatha‘ mit einem weltschichtlichen Kraftakt um einen weiteren Ort ergänzen, um ins ‚richtige Europa‘ jenseits der Crash-Wiederholungsgeschichte zu gelangen?
Ich frage: Kommt vom Solon-Perikleischen Zeitalter – analog modelliert – die krisenbeendende Ordnungs- und Zukunftsperspektive für Europa, ja, für eine Perestoika des sich nicht-nachhaltig, sondern auf einen Crash zusteuernden Industriesystems?
Systemdenker wie der Norweger Jorgen Randers kommen zu dem Schluß, dass nur eine zeitweilige, staatliche Verfassung mit einem ‚guten Diktator‘ an der Spitze, den ungesteuerten Absturz des Fortschrittssystems ‚Industriegesellschaft‘ verhindern kann.
Wo also wartet die wahre Erkenntnis, die Europa und der Welt sicher und bald hilft? Wo wartet nach Hölderlin der ’nahe Gott‘, der nur schwer zu fassen ist, d.h. schwer zu erkennen ist?
Aus meiner Sicht als evolutionsprozess-kybernetisch Informierter drängt die Euro- und Europa-Krise in eine emergente, nur auf evolutionsprozess-logischer Grundlage zu Erkennende und im Konsens aller zu gestaltende Ordnung des Industriesystems. Sie ist als Ordnung-des-KREATIVEN-Evolutionspfades steuerungssystemisch erkannt, die immer in Konkurrenz zum konflikt- und machtkämpferisch gewachsenen, auf Absturz organisierte Gesellschaftsordnung steht.
Diese KREATIVE Evolutionspfadordnung realisiert die Walsersche Vorstellung, vom ‚Das richtige Europa‘ – und sie wird der Idealvorstellung eines ‚Reich der Freiheit und der KREATIVEN‘, einschl. der PERIKLEISCHEN VERFASSUNG Athens, einen großen Schritt näher kommen.
Alle hochproduktiven Kulturepochen waren Phasen, in denen sich die KREATIVE Evolutionspfad-Verfassung kreativ-umfassender ausgestaltet hat. Die PERIKLEISCHE Phase in Athen ist nur e i n e von vielen Ereignissen – wie oben schon gesagt, mit ‚Akropolis, Capitol, Golgatha‘.
Die Lage heute könnte zum alles-umfassenden, logisch-letzten Entwicklungsschritt in der Geschichte der Gesellschaft- und Kulturordnungen werden. Und das nicht nur, weil die Industriekultur auf einen globalen Absturz zusteuert, sondern auch, weil eine hinreichende Evolutionsprozess- und Chaosphysik-Theorie uns die Erkennnisse über den krisenbeendenden, steuerungssystemischen Werkzeugkasten liefert.
Wir benötigen also nicht mehr e i n e Person, die aus ihrem umfassenderen Erfahrungswissen mutig und erfolgreich in der Krise handelt, und einen Ort zum geschichtsträchtigen Symbol des menschlichen Fortschritts macht, sondern wir haben das Evolutionsprojektwissen zur Verfügung, das alle Machtwiderstände und Irrtümer in dem Moment überwinden wird, sobald dieser Wissensstand auf den Tisch kommt. Das nennt man Selbststeuerung. Die Reihe der geschichtlichen Innovationsorte ‚Akropolis, Capitol, Golgatha‘ muß also n u r durch ein hinreichendes Evolutionsprojekt-Wissen ergänzt werden. Analog zur Öffnung der Berliner Mauer benötigt dieses Evolutionsprojektwissen nur die Öffnung der Wissens- und Medienmauer. Und das scheint mir schon mal ein krisenpolitisch relevanter Fortschritt zu sein.
Er passt als erneuter Versuch in die Aussage von Herrn Uwe Walter: „Erst die Moderne suchte Politik und Kunst zu versöhnen und schuf ein Bild frommer Erbaulichkeit. Inmitten eines Kranzes von Dichtern und Sängern, Bildhauern und Malern, Historikern und Philosophen steht Perikles auf dem ersten der drei Hügel – Akropolis, Capitol, Golgotha -, auf denen das Abendland ruht.“