Mit Perikles, von dem hier zuletzt ausführlich die Rede war, hat auch Gustav Adolf Lehmann sich befaßt, in Gestalt einer ausgewachsenen Biographie (s. F.A.Z. v. 8.9.2008, Nr. 210). Sein Perikles ist weder Übermensch noch Quasi-Monarch, sondern ein „erster Mann“, der es für eine gewisse Zeit verstand, gestützt auf die immer wieder gewonnene Zustimmung des Volkes, die Politik Athens „ebenso maßvoll wie kohärent und insgesamt mit beachtlichem Erfolg“ zu führen. Der naheliegenden Versuchung, Perikles als Akteur einzusetzen, wo besser „die Athener“ stünde, ist der Autor nicht entgangen; das biographische Modell der Neuzeit, eine Lebensgeschichte aufs engste mit der allgemeinen Geschichte zu verknüpfen, als von dieser geprägt oder sie ihrerseits gestaltend, übt eben eine starke suggestive Wirkung aus, zumal in einem Buch für das vielbeschworene breitere Publikum. Die Antike hatte es da einfacher; sie sah den Bios / die Vita lediglich als Entfaltung von Anlagen und Aufweis von Tugenden; die Umstände und Ereignisse bildeten nur mehr Gelegenheiten dazu.
Auch eine von warmer Begeisterung getragene Demosthenes-Biographie stammt aus Lehmanns Feder. Doch wäre es ganz falsch, ihn deswegen einen ‘Klassizisten‘ zu nennen. Der in Dortmund geborene Lehmann sieht sich vielmehr in einer universalhistorischen Tradition, wie sie hierzulande von Eduard Meyer (1855-1930) begründet und von Lehmanns akademischem Lehrer Hans-Erich Stier (1903-1979) fortgeführt wurde: Die – in ihrem außerordentlichen Rang selbstverständlich ungeschmälerte – Geschichte der Griechen und Römer sei, so das Credo dieser Schule, in einen zeitlich und räumlich weiterreichenden Zusammenhang zu rücken. Von dieser Weite und von einer schier allumfassenden Kenntnis zeugen auch die beiden Bände gesammelter Schriften, die nach Meyers Vorbild den Titel „Forschungen zur Alten Geschichte“ tragen (hgg. von Bruno Bleckmann und Boris Dreyer, Stuttgart 2012, 2 Bde., zus. 1074 S., geb., € 124,-). Schon die hier wieder abgedruckte Braunschweiger Antrittsvorlesung des Dreißigjährigen zum Thema „Weltherrschaft und Weltfriedensgedanke im Altertum“ bereicherte die gewiß staunenden Hörer mit einer großen Zahl von zungenbrecherischen Namen aus Akkade und Assyrien, bevor die Darstellung mit den Achämeniden, Griechen und Römern vertrautere Gefilde erreichte. Vor nicht langer Zeit (2009) schloß sich auf diesem Feld sozusagen ein Kreis, als Lehmann den zweiten Band der nunmehr abgeschlossenen WBG-Weltgeschichte mitherausgab und mitverfaßte.
In Münster wurde er mit 23 promoviert und habilitierte sich mit 29 – heute würde man wohl von einem shooting star sprechen. In einer Expansionsphase der Universitäten kam Lehmann anfangs viel herum (von Münster nach Braunschweig, von da nach Berlin), ehe er 1975 nach Köln berufen wurde. Das traditionsreiche Althistorische Seminar der Universität Göttingen bildete seine letzte Station (seit 1993). Von 2002 bis 2006 diente er der Göttinger Akademie als Vizepräsident und Vorsitzender der Philologisch-Historischen Klasse.
Schüler und Vertraute rühmen das enzyklopädische Wissen, das es dem Meister gestattete, im Oberseminar, auf Exkursionen oder bei anderen Gelegenheiten aus dem Stegreif ganze Abhandlungen zu formulieren und dabei entlegenstes Material einzubeziehen, in welcher der vielen antiken Sprachen und Schriften es auch immer niedergelegt worden war. Die daraus erwachsene Autorität eines Gelehrten alter Schule ist außerhalb des akademischen, präziser: geisteswissenschaftlichen Betriebs, in einer Welt, in der ganz andere ‘Qualitäten‘ Aufmerksamkeit und Gewicht verleihen, kaum mehr zu vermitteln – doch gilt dies im Zeitalter der Exzellenzanträge und der paradigmenschwangeren Verbundforschungsprojekte mehr und mehr auch intra muros. Der Umwandlung der Georg August-Universität Göttingen in eine Stiftungsuniversität und den damit verbundenen Verschiebungen der Binnenarchitektur wie auch des Selbstverständnisses der akademischen Forschung und Lehre hat Lehmann energisch widersprochen, gewiß in der Überzeugung, daß auch die Universität des 21. Jahrhunderts verschiedene Typen von Forschung und von Gelehrten nicht nur aushalten muß, sondern sie auch braucht.
Lehmann bildete in den verschiedenen Troia-Kontroversen der jüngeren Zeit stets eine unabhängige Stimme und hat immer wieder die sog. Seevölker-Invasionen um und nach 1200 als geschichtsmächtigen Prozeß erwiesen. Zu allen Großepochen der Alten Geschichte (mit Ausnahme der Spätantike) hat er umfangreich publiziert, außerdem intensiv zur griechischen Historiographie. Ein erhellender, in die genannte Sammlung aufgenommener Aufsatz gilt der Rezeption der achaiischen Bundesverfassung in der Verfassung der USA. Vier Abhandlungen behandeln die Varusschlacht in ihrem weiteren historischen Kontext.
Wissenschaftspragmatisch ist sich Lehmann seiner Sache sicher: Der Gegenstand ist wichtig, die Quellen müssen erschlossen werden; sie weisen den Fragen die Richtung, und die Hoffnung auf Neufunde gibt einer alten Disziplin den Zukunftsoptimismus einer ganz neuen. Oder, wie es im Nachwort zu Perikles. Staatsmann und Stratege im klassischen Athen heißt: Es „gebietet die schlechthin welthistorische Bedeutung der hier zu behandelnden Vorgänge und Entwicklungen eine eingehende Befragung der Quellenzeugnisse und ihrer Interpretationen in der Forschungsdiskussion. Der genaue Blick auf die Quellenbasis eröffnet nicht nur immer wieder neue Aspekte zur Geschichte Athens und der perikleischen vita, er vermittelt darüber hinaus dem historischen Betrachter auch eine Vorstellung von der Lebenskraft, mit der das perikleische Erbe in der attischen Demokratie die große Krise am Ende des Peloponnesischen Krieges schließlich gemeistert und Athen im vierten Jahrhundert zu neuer Blüte gebracht hat. Zugleich belebt sich im prüfenden Blick auf unsere Materialbasis, die in den letzten Jahrzehnten beträchtlich erweitert worden ist, immer auch die hoffnungsfrohe Erwartung, daß unser Geschichtsbild von der perikleischen Epoche weiterhin durch neue Zeugnisse auf Stein, Papyrus und Tonscherben bereichert und vertieft werden wird.“
Am heutigen 28. August 2012 begeht Gustav Adolf Lehmann seinen siebzigsten Geburtstag.
Veröffentlichungen Lehmanns...
Veröffentlichungen Lehmanns zu den Seevölkern:
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Lehmann (1977): Gustav Adolf Lehmann, Die „Seevölker“-Herrschaften an der Levanteküste, in: H. Müller-Karpe (Hrsg.), Jahresbericht des Instituts für Vorgeschichte der Universität Frankfurt am Main 1976, München 1977; S. 78-111.
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Lehmann (1979): Gustav Adolf Lehmann, Die Sikalaju — ein neues Zeugnis zu den „Seevölker“-Heerfahrten im späten 13. Jh. v. Chr. (RS 34.129), in: Ugarit-Forschungen Band 11 / 1979; S. 481-494.
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Lehmann (1983): Gustav Adolf Lehmann, Zum Auftreten von „Seevölker“-Gruppen im östlichen Mittelmeerraum — eine Zwischenbilanz, in: S. Deger-Jalkotzy (Hrsg.), Griechenland, die Ägäis und die Levante während der „Dark Ages“ vom 12. bis zum 9.Jahrhundert v. Chr., Akten des Symposions von Stift Zwettl / Niederösterreich 11.-14. Oktober 1980, Sitzungsberichte Band 418 der Philologisch-Historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1983, mit Diskussion; S. 79-92 und 92-97.
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Lehmann (1985): Gustav Adolf Lehmann, Die mykenisch-frühgriechische Welt und der östliche Mittelmeerraum in der Zeit der „Seevölker“-Invasionen um 1200 v. Chr., Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge Geisteswissenschaften Nr. 276, Westdeutscher Verlag, Opladen 1985; Umfang: 74 Seiten.
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Lehmann (1996): Gustav Adolf Lehmann, Umbrüche und Zäsuren im östlichen Mittelmeerraum und Vorderasien zur Zeit der „Seevölker“-Invasionen um und nach 1200 v. Chr. — Neue Quellenzeugnisse und Befunde, in: Historische Zeitschrift HZ Nr. 262 / 1996; S. 1-38.
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Lehmann (2001): Gustav Adolf Lehmann, „Seevölkerwanderung“, in: Der Neue Pauly, Bd. 10, 2001.