Auf die Anfrage einer Zeitschrift nach empfehlenswerter Lektüre nannte Sigmund Freud 1906 unter drei Sachbüchern auch Griechische Denker von Theodor Gomperz. Er stehe zu diesem Werk „wie mit den ‘guten‘ Freunden, denen man ein Stück seiner Lebenskenntnis und Weltanschauung verdankt, die man selbst gewonnen hat und anderen gerne anpreist, ohne daß aber in dieser Beziehung das Moment der scheuen Ehrfurcht, die Empfindung der eigenen Kleinheit vor deren Größe, besonders hervorträte“.
Einen Gegenstand wie die griechische Philosophie gehaltvoll zugänglich zu machen ist auch heute keine Allerweltsaufgabe. Den Freud hier lobt ist eine leider in Vergessenheit geratene Gestalt. Theodor Gomperz wurde 1832, dem Todesjahr Goethes, als jüngstes von acht Kindern in Brünn geboren. Der Vater war Bankier, die Mutter gehörte einem Clan von Textilfabrikanten an. Der großbürgerliche Hintergrund des deutsch-jüdischen Elternhauses ist aus autobiographischen Texten und Briefen gut rekonstruierbar. Für die Eltern bestand keine Notwendigkeit, Theodor in eine praktische Geschäftskarriere zu drängen. Er heiratete günstig und wandte sich zusammen mit seiner Frau Elise von der Geschäftswelt ab und der Kultur zu. Das Studium der Klassischen Philologie verband der grundliberale Theodor Gomperz mit zahlreichen Reisen; man hatte Muße, viele Freundschaften zu knüpfen und briefliche Kontakte zu pflegen. Durch den Tod des Vaters erbte Theodor ein kleines Vermögen, das er durch geschickte Anlagen – heute würde man ihn als einen gierigen Spekulanten beschimpfen – zu einem großen machte (u.a. durch Erwerb von US-Staatsanleihen vor dem Bürgerkrieg). 1853 entdeckte Gomperz für sich das Werk von John Stuart Mill (1806-1873) für sich. Das Werk des pragmatischen Philosophen machte starken Eindruck auf ihn, und er setzte eine zwölfbändige deutsche Ausgabe von dessen Schriften ins Werk – für die Übersetzung des letzten Bandes „Über Frauenemancipation. Plato. Arbeiterfrage. Socialismus“ gewann er den jungen Sigmund Freud. In seinen philologischen Studien griff Gomperz weit aus, doch erst in der Beschäftigung mit den verkohlten und schwer zu edierenden Papyri philosophischen Inhalts aus Herculaneum gewann er einer erfolgversprechenden Gegenstand. Die Herculanischen Studien (2 Bde., 1865) begründeten seinen Ruf als Philologe. 1867 wurde Gomperz in Wien ohne Doktorprüfung habilitiert. Nach einiger Wartezeit erhielt er 1873 durch eine „allerhöchste Entschließung“ von Kaiser Franz Joseph die Ernennung zum Ordentlichen Professor in Wien – Gomperz war damit der erste jüdische Inhaber eines Lehrstuhl für Klassische Philologie im deutschen Sprachraum.
Zeittypisch auch außerhalb Preußens: die enorme Produktivität. Das Schriftenverzeichnis nennt u.a.: Neue Bruchstücke Epikurs (1876); Über ein bisher unbekanntes griechisches Schriftsystem (1884); Zu Philodems Büchern von der Musik (1885); Zu Heraklits Lehre und den Überresten seines Werkes (1886); Apologie der Heilkunst, Sophistenrede (1890); Philodem und die ästhetischen Schriften der herkulanischen Bibliothek (1891); außerhalb der griechischen Philosophie: Herodoteische Studien (1883); Über den Abschluß des Herodoteischen Geschichtswerkes (1886); Platonische Aufsätze (1887-1902); Die jüngst entdeckten Überreste einer den Platonischen Phädon enthaltenden Papyrusrolle (1892); Zu Aristoteles‘ Poetik (1888 u. 1896); Die Schrift vom Staatswesen der Athener und ihr neuester Beurteiler (1891); Beiträge zur Kritik und Erklärung griechischer Schriftsteller (1875-1900, 7 Hefte).
Doch Gomperz war nicht ausschließlich Gelehrter. Der Hofrat und Angehörige des österreichischen Herrenhauses trat für dieselbe Politik ein wie der politische Publizist: für einen gemäßigten und fortschrittlichen Kurs, gegen nationalistischen Chauvinismus, Rassismus und Fremdenhaß. Das ethnisch, kulturell und religiös so vielfältige Konglomerat Österreich-Ungarn könne nur unter der überparteilich agierenden Monarchie der Habsburger existieren und in einem starken Staat, der gegen Mißstände vorsichtig zu intervenieren bereit und in der Lage war. Für Theodor Herzls Idee eines Judenstaates zeigte Gomperz 1896 keinerlei Verständnis; es erschien ihm als ein historischer Rückschritt zu den Uranfängen, die Juden wieder zu einem Volk zu erklären und ihre jedenfalls in den fortschrittlichen Ländern Europas beginnende Integration aufzugeben. Alle Menschen seien Individuen und als solche verschieden; wer uralte Sonderungen wiederbelebe, errichte „völlig entbehrliche, keinem heilsamen Zwecke dienende Trennungszeichen innerhalb der Gesellschaft“.
Griechische Denker begann 1893 in Lieferungen zu erscheinen und wurde im Publikum rasch zu einem großen Erfolg. Es gab Übersetzungen in alle großen europäischen Sprachen sowie (1931) ins Hebräische. In der deutschen Fachwelt wurde das Werk mit größerer Zurückhaltung aufgenommen. Gomperz hatte sich sozusagen zwischen alle Stühle gesetzt. Nicht nur hielten sich die Philologen um Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zumal in Berlin ohnehin für die Allergrößten und den Österreicher gleichgar für einen Außenseiter; sie waren auch irritiert, daß hier die großen Linien und die Interpretation im Vordergrund standen und nicht die philologischen Kleinst- und Streitfragen – die Gomperz natürlich beherrschte, aber eben in die Anmerkungen verbannte, wenn er sie überhaupt nannte. „Er besitzt“, so ein Wiener Kritiker bei Erscheinen der ersten Lieferungen des Werkes, „das Geheimnis, schwere Gedanken leicht zu machen, ohne sie zu entstellen.“ Das war natürlich den Granden im Norden zu wenig, bloße ‘Instruktion‘, keine Forschung. Hinzu kam die Perspektive. Die Abneigung der vom Hegelianismus beeinflußten reichsdeutschen Kollegen mag durch den pragmatischen Standpunkt des Verfassers noch verstärkt worden sein, auch durch seine Nähe zum Erbe der Aufklärung, seine gedankliche Klarheit und seine Abneigung gegen verfremdenden Tiefsinn. Das schadete dem Ansehen von Griechische Denker zumal nach dem 1. Weltkrieg, als in der Universitätsphilosophie ganz andere Paradigmen ihren Siegeszug antraten. Im auch sonst höchst informativen Vorwort zum Nachdruck finden sich die Fronten skizziert: „Daß die Rezeption in den 30er Jahren im deutschen Sprachraum praktisch aufhörte, steht gewiß im Zusammenhang mit dem politischen wie philosophischen Paradigmenwechsel. Aufklärung und Liberalismus gerieten ebenso in Verruf wie Empirismus und Pragmatismus. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Zeichen für eine Wiederentdeckung nicht gut. Hermeneutik und Ontologie sollten bis zur Hegel- und Marxrenaissance der 70er Jahre die Diskussion bestimmen. Für die dann tonangebenden Anhänger der Frankfurter Schule wiederum war ‘Pragmatismus‘ bestenfalls ein Synonym für geistige Prostitution, viel eher aber eine Erscheinungsform des Belzebubs, des Common Sense. Die Philosophiehistoriker unter neufranzösischem und postmodernem Einfluß, die die intellektuelle Mode seither bestimmen, adoptierten das ethnologische Paradigma und betrachteten Heraklit, Platon und Aristoteles wie Phänomene des Wilden Denkens, das man als Angehöriger einer anderen Kultur bestaunen, aber nicht für eigene Theoriebildung nutzbar machen kann. Das Werk Theodor Gomperz‘, dieses dezidierten Antimetaphysikers, steht für den entgegengesetzten Weg. Für ihn waren die antiken Denker Diskussionspartner, die er nach ihrem Beitrag zur Wahrheit befragte.“
Gomperz verfolgt insgesamt ein evolutionistisches Modell der geistigen Entwicklung der Griechen, ohne jedoch der simplem Mär eines Schrittes vom Mythos zum Logos anzuhängen. Mit sicherem Gespür bezieht er die Naturlehren, die Geschichtsschreiber und die Medizin in das Bild ein, weil auch sie – auf verschiedene Weise – Erfahrung in Denken umsetzten. Den Höhepunkt des ersten Bandes bilden die Abschnitte über die Sophisten, die Gomperz treffend so charakterisiert: „Fragt man uns nunmehr, was den verschiedensten Sophisten in Wahrheit gemeinsam war, so antworten wir: nichts anderes als der Lehrberuf und die aus allgemeinen Zeitverhältnissen sich ergebenden Bedingungen seiner Ausübung. Was sie sonst untereinander verband, war lediglich das, was sie mit vielen Nichtsophisten verknüpfte, die Teilnahme an den geistigen Strömungen des Zeitalters. Es ist unstatthaft, ja ungereimt, von einer sophistischen Geistesart, von sophistischer Moral, sophistischer Skepsis u. dgl. zu sprechen. Oder welches Wunder sollte es bewirkt haben, daß die Sophisten, d. h. die Honorar empfangenden Jugendlehrer, im thrakischen Abdera und im peloponnesischen Elis, in Mittelgriechenland und in Sizilien in ihrer Denk- und Sinnesweise einander näherstanden als anderen Vertretern des damaligen Geisteslebens? Nur werden, soviel läßt sich von vornherein erwarten, die gefeierten Lehrer und Schriftsteller auch dieser Epoche in überwiegendem Maße den aufstrebenden und sieghaften, nicht den im Rückgang befindlichen Tendenzen gehuldigt haben. Und so steht es in der Tat. Die Sophisten, die von ihrem Publikum so sehr abhängig waren, mußten zu Organen der, wenn nicht schon herrschenden, so doch im Aufschwung begriffenen Geistesrichtung werden. Es entbehrt somit nicht aller und jeder Begründung, wenn man die Mitglieder dieses Standes im großen und ganzen als Träger der Aufklärung betrachtet, während freilich keineswegs alle Sophisten Aufklärer und noch viel weniger alle Aufklärer Sophisten waren. Auch werden wir die meisten von ihnen, vielleicht auf Grund eben jener Abhängigkeit, eine überwiegend maßvolle Haltung bewahren und keinen einzigen von ihnen zu jenem sozialen und politischen Radikalismus vorschreiten sehen, welchen Platon und die Kyniker zu verkünden verwegen genug waren.“ Für die ‘Anerkennungsbilanz‘ der Sophisten fand Gomperz ein schönes Wort: „Eine kurze Stunde rauschenden Erfolgs ward erkauft durch Jahrtausende des Unglimpfs.“ Gomperz‘ Sohn Heinrich (1873-1942), ebenfalls Professor für Philosophie, sollte später in Gestalt von Sophistik und Rhetorik (1912) ein ebenfalls noch heute wertvolles Standardwerk vorlegen.
Der zweite Band hatte Sokrates und Platon zum Inhalt, dessen Schriften einzeln besprochen werden, aus der Sicht eines Philologen, der Widersprüche und ‘dünne Stellen‘ aushält, während die philosophischen Interpretationen dazu neigen, das platonische Werk ganz und gar unter einen einzigen Gedanken (etwa die Ideenlehre) zu stellen. Karl Poppers Platonbuch verdankt Gomperz viel. Aristoteles hingegen wird im dritten Band nach der Systematik seiner Philosophie auseinandergelegt. Ein geplanter Band über die nacharistotelische Philosophie blieb ungeschrieben.
Wer ein wenig im Hauptwerk gelesen hat, sollte auch einen Blick in die 1905 publizierten Essays und Erinnerungen werfen, die als pdf-Datei leicht zugänglich sind (daraus auch das von Lenbach geschaffene Porträt o.). Hier findet sich neben einem langen autobiographischen Text u.a. ein publizierter Vortrag über Traumdeutung und Zauberei (1866), der Freud wichtige Anregungen gab. In der peroratio des Vortrages gibt Gomperz das eindrucksvolle Dokument eines intellektuellen Optimismus, der es im Rückblick als Glücksfügung und Gnade der frühen Geburt erscheinen läßt, daß sein Verfasser das Zerbrechen seiner Lebenswelt und seiner Erwartungen 1914/18 und 1933/38 nicht mehr erleben mußte:
„Die allverbreiteten, verjährten Irrtümer der Menschheit gleichen Gespenstern, die ruhelos umherirren, bis wir ihren Leib – ihre historische Urgestalt – ergriffen und zu ewiger Ruhe gebracht haben. Nun, wir gönnen ihnen ein ehrliches und mitunter auch ein stattliches Grab. Wir setzen sie bei im Dom der Geschichte. Und wir kehren aus diesem immer wieder gekräftigten und erfrischten Mutes zurück zur Arbeit der Gegenwart, zur Vorbereitung einer lichteren, von geistigen Banden freieren Zukunft.
Denn man besiegt im Reich der Geister endgültig nur die Mächte, deren innerstes Wesen und vornehmlich deren Ursprung man vollständig begriffen hat. Man widerlegt nur, was man erklärt hat. Und wir Spätgeborenen können uns von dem übermächtigen Einfluß der Vergangenheit nur befreien, wenn wir sie gründlich erkennen.“
Theodor Gomperz starb heute vor einhundert Jahren, am 29. August 1912 im niederösterreichischen Baden, genau achtzig Jahre und fünf Monate alt.
Theodort Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie. 3 Bände, 1896-1909 vierte Auflage/Ausgabe letzter Hand besorgt von Heinrich Gomperz, 1922-1931 (Bd. 3 in 1./2. Aufl. als pdf hier). Nachdruck mit e. Vorwort von Alfred Sellner. Eichborn-Verlag, Frankfurt/M. 1996.
Die "Geschichte der...
Die „Geschichte der Griechischen Denker“ habe ich soeben bestellt, bei Amazon gibt es kostengünstig noch wenige gebrauchte Exemplare einer Eichborn-Edition (ein Verlag, der inzwischen auch nicht mehr ist). In jedem Fall ein hochinteressanter, differenzierter Querdenker, das ist immer ergiebig.
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Ein Zitat von Theodor Gomperz hatte ich 2010 in einen Beitrag für den „offenen“ Integrationsdialog der Stadt Frankfurt eingebaut. Der Beitrag versuchte, eine gemeinsame Grundlage aller Kulturen in Frankfurt durch die Kultur der Antike zu definieren. Das Zitat lautete: „Der Kreuzfahrer und der Moslem vergessen ihres Streites, wenn sie sich in Lobpreisungen des griechischen Weisen [Aristoteles] überbieten.“ — Der Beitrag wurde trotz Protest nie freigeschaltet. Integrationspolitik findet heute eben auf Kindergartenniveau statt. Das ist „alternativlos“, und Bildung „nicht hilfreich“.