Der internationale Kongreß der Forscher auf dem Gebiet der griechischen und lateinischen Inschriften in Berlin bot Gelegenheit, vergangene Woche gleich drei bemerkenswerte Ausstellungen zu besuchen. „Jenseits des Horizonts. Raum und Wissen in den Kulturen der Alten Welt“ gehört zu einem neuen Typus von Präsentationen. Die Schau lebt nicht davon, spektakuläre Exponate zusammenzuführen, die zu sehen man ansonsten in der halben Welt herumreisen müßte. Sie lebt von einem Konzept, einer Idee. Zugleich – und prosaischer – bildet sie den Versuch, Programm und Ergebnisse eines großen Verbundforschungsprojektes, des Berliner Exzellenzclusters (so heißt das tatsächlich!) TOPOI, in Anschauung umzusetzen. Berlin ist mit seinem Reichtum an „kleinen Fächern“, mit seinen Museen und als Sitz der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts wie keine zweite Stadt in Deutschland geeignet, ein solches Unternehmen zu beherbergen. Zahlreiche Exponate, wohl gar die Mehrzahl, stammt aus den Beständen der Berliner Museen. Die „Alte Welt“ kann hier weit gefaßt werden, mit dem Alten Orient, Ägypten und den schriftlosen Randzonen im Norden, letztere seit der Jungsteinzeit. Die Breite legt zugleich eine eher typologische als genetische Perspektive nahe: nicht ex oriente lux, sondern die Frage, wie in der verschiedenen Kulturen der Raum wahrgenommen, vermessen, dargestellt wurde. Dabei wird – ganz modern – ein weiter, zum Teil sogar metaphorischer Raumbegriff zugrundegelegt; so kommt unter der Überschrift „Körperräume, Seelenräume“ auch die antike Medizin zur Anschauung. Didaktisch geschickt gewählt ist der Einstieg: der Palatin in Rom und seine Geschichte von der Hüttensiedlung bis zum Palastkomplex der Spätantike, für Kaiser, die sich zuletzt kaum mehr in Rom aufhielten. Es wird also an eher Vertrautes angeknüpft. Dann weitet sich die Perspektive auf die zum Kulturraum gestaltete Landschaft insgesamt, ihre Gestaltung und Veränderungen sowie ihre Beherrschung durch Schrift und Verwaltung. Wie früh den Menschen das Unerreichbare und zugleich magisch Anziehende, der Himmel und die Bewegungen seiner sichtbaren Körper, ein Anliegen war, zeigt die eindrucksvoll vergegenwärtigte Rotunde der Kreisgrabenanlage von Ippesheim, die ins 5. vorchristliche Jahrtausend gehört. In der Astronomie wie auch bei der Vermessung der Erde und der Ordnung der Zeit durch Kalender und Zeitrechnung nehmen die Babylonier eine maßgebliche Stellung ein (ihnen wir verdanken den hohen Rang der Zahl 60 in der Zeitmessung wie in der Geometrie). Daß die gedankliche Beherrschung dieser Dinge auch Instrument der politischen Beherrschung sein konnte, zeigen die Römer – mit ihren Feldmessern, Straßen und Meilensteinen. Das Land symbolisch zu repräsentieren konnte mindestens ebenso wichtig sein wie es praktisch zu beherrschen: Die Schau zeigt die bekannte Tabula Peutingeriana und den weniger bekannten Stadiasmos von Patara, eine inschriftliche Liste von Städten und Straßenverbindungen der römischen Provinz Lykien und Pamphylien. Im Begleitbuch heißt es dazu: „Statt eines Wegweisers dominiert der Herrschaftsaspekt. Das Imperium präsentiert sich in der Summe seiner positiven Eigenschaften und im Stolz auf seine zivilisatorische Leistung. Nicht auf banale praktische Anwendung, sondern auf Bewunderung hin war der Stadiasmos konzipiert.“ Ähnliches gilt für die Peutingeriana, die trotz ihrer gewaltigen Länge von fast sieben Metern für eine konkrete Routenplanung viel zu ungenau und überdies veraltet war. Das Begleitbuch ist übrigens kein herkömmlicher Katalog, sondern wurde von dem fachlich ausgewiesenen Sachbuchautor Ralf-Peter Märtin auf der Grundlage von Besuchen bei und langen Gesprächen mit TOPOI-Forscherinnen und Forschern geschrieben – auch dies eine innovative Idee. Es gibt viel zu entdecken in dieser lichten und großzügigen Schau im Obergeschoß des Pergamonmuseums, die noch bis zum 30. September zu sehen ist – danach wird das ganze Museum für eine grundlegende Sanierung, Neugestaltung und Erweiterung auf viele Jahre geschlossen sein.
Die Ausstellung „Mythos Olympia. Kult und Spiele„, letzten Donnerstag eröffnet und bis zum 7. Januar 2013 im Gropius-Bau zu sehen, folgt einer anderen Logik. Das Thema kann – jedenfalls auf den ersten Blick – als eher traditionell gelten; die Schau ist in erster Linie deshalb sehenswert, weil sie Exponate aus zahlreichen Museen und Sammlungen zusammenbringt, die zu sehen man ansonsten weit reisen müßte. Selbstverständlich lebt das ganze Unternehmen nicht zuletzt aus dem Interesse an den modernen Olympischen Spielen, und die Zugehörigkeit Griechenlands zu Europa wie die besondere Verbindung des Landes zu Deutschland wurden in den Grußworten der hochrangigen Griechen bei der Eröffnung mehrfach beschworen. Mehr als 500 Leihgaben stammen allein aus den Sammlungen dieses Landes, und ein Redner merkt ironisch an, er sei stolz, hier einmal nicht als Schuldner auftreten zu müssen. Schirmherren sind keine Geringeren als die Präsidenten beider Länder. Aber die „Macher“, allen voran der frühere Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts, Hans-Joachim Gehrke, haben dafür gesorgt, daß eine wissenschaftlich einwandfrei präsentierte, höchst reflektierte und differenzierte Zusammenschau auf aktuellem Kenntnisstand erarbeitet wurde. Man interessiert sich heute für den weiteren Kontext des Heiligtums von Olympia in der Landschaft Elis, der Peloponnes und der gesamten griechischen Welt; folgerichtig heißt die erste Abteilung „Das Heiligtum, sein Umfeld und seine historische Einbindung“. „Götter und Kulte im antiken Olympia“, damit ist bezeichnet, daß es längst nicht mehr nur um den Zeuskult und -tempel geht. Ein griechisches Heiligtum, noch dazu eines, das von so vielen Delegationen und Besuchern aus ganz Hellas frequentiert wurde, stellte eine hochdifferenzierte und vielgestaltige Einrichtung dar, und die Macher haben die Gelegenheit genutzt zu zeigen, wie eng die Kultpraxis in nahezu alle Handlungen in Olympia eingebunden war. Der wissenschaftliche Ansatz der Schau kommt auch in der dritten Abteilung zum Ausdruck, wo „Die Erforschung Olympias“ vorgestellt und zugleich historisiert wird. In diesem Rahmen sind ganz neue Funde zu sehen, darunter ein bemalter Traufziegel mit Löwenkopf-Wasserspeier von der Vorhalle des Ratsgebäudes oder das kleine Ensemble eines bronzenen Kessels mit einem Hoplitenhelm und Knochenresten, gefunden in der Füllung eines spätarchaischen Brunnens. Erst in der vierten und letzten Abteilung werden „Der antike Sport und seine soziale Bedeutung“ thematisiert, die Rezeptionsgeschichte nur am Rande. Im Zentrum der Ausstellung, dem Lichthof des Martin-Gropius-Baus, da, wo 1981 in der richtungweisenden Preußenausstellung die deutsche Präsentation auf einer Weltausstellung mit einer mächtigen Krupp-Kanone zu sehen war, bilden Gipsabgüsse aller Skulpturen vom Giebel des Zeustempels den auffälligsten Schauwert. Der gut drei Kilo schwere Katalog mit fast 600 Seiten verbindet – ganz traditionell – lehrreiche Essays und Einträge zu allen Objekten. Er ist mit 25 Euro (in der Ausstellung) unfaßbar preiswert und gehört in jede Bibliothek von an der Antike Interessierten. Man kann, so bemerkt der Berichterstatter im Tagesspiegel, „Griechenland nicht auf alle Zeit auf sein antikes Erbe festlegen, aber es hat nun einmal der Welt unendlich viel gesagt und gegeben“.
Auf der Rückfahrt mitgenommen habe ich noch „Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelater“ in Magdeburg, am späteren Freitagnachmittag mit (für mich) erfreulich wenigen Besuchern. Die Schau illustriert die Geschichte der Idee und Praxis von Kaiserherrschaft und Reich, die sich zwischen Augustus und dem Sachsen Otto teils genetisch, teils dialektisch oder in bewußten Rückgriffen entwickelten. Eine Evolution vom augusteischen Modell über die spätantik-christliche Umbildung hin zur byzantinischen Version (der im russischen Zarentum wiederum vielfach Reverenz erwiesen wurde), daneben im Westen zunächst der karolingische Rückgriff auf das römische Modell – oder, wie der Mediävist Bernd Schneidmüller im Katalog formuliert: „Das Mittelalter erlernt das römische Kaisertum“ -, verstetigt in den folgenden Dynastien und raffiniert durch die Heirat Ottos (II.) mit der byzantinischen Kaisertochter Theophanu i.J. 972.
Nach Imperium in Haltern (2009) schon wieder ein Fest der Schaulust. Schon im ersten Raum nehmen der Clipeus Virtutis aus Arles (mit einer Liste der von Augustus gewählten zentralen kaiserlichen Tugenden) und die bezaubernde sog. „Victoria von Fossombrone“ aus Kassel gefangen. Ein 1935 entdecktes Architekturrelief aus der späten Republik fesselt, weil es den imperialen Erfolg Roms und dessen Selbstdeutung sichtbar macht. Im Mittelpunkt steht ein Feldherr – immer wieder fanden sich in der römischen Aristokratie Männer, die diese Rolle mit mehr oder weniger Geschick, aber immer mit viel Ehrgeiz annahmen. Rechts daneben ein sog. Tropaion, ein Siegesmal aus erbeuteten Waffen, darunter besiegte Gegner im Trauergestus, wie später auf den Münzen der xxx CAPTA-Ikonograpgie. Eine geflügelte Victoria bekränzt den Sieger – stets sahen sich die Römer mit den Göttern im Bunde. Aber der Erfolg kam nicht von selbst, er bedurfte der Anstrengung (labor). Dafür stehen zwei angedeutete Steinmauern ganz außen und dazu zwei Hebemaschinen für schwere Blöcke, betätigt von je einem klein dargestellten Arbeiter. Man denkt unwillkürlich an die zahlreichen Bauszenen auf der Traianssäule, aber auch den Entfernungsmeßwagen und die Groma (zur Anlage rechtwinklig sich schneidender Straßen) in der TOPOI-Ausstellung. Die Infrastruktur der Römer – Straßen, Lager, Thermen, Amphitheater, Wasserleitungen und Limesmauern – war zugleich ein imperialer Gestus: Hier bleiben wir und hier gestalten wir!
Zu den auf den allerersten Blick etwas unscheinbaren Sensationen der Schau gehören die erst 2005 bei Grabungen am Palatin gefundenen Reste der Herrschaftsinsignien des Maxentius, des letzten ganz auf die Stadt Rom fixierten Kaisers der Römer. Er unterlag am 28. Oktober 312, also vor ziemlich genau 1700 Jahren, an der Milvischen Brücke seinem Rivalen Konstantin. Kaiserliche Herrscherinsignien sind von Münzen und Reliefs wohlbekannt, aber Originale wurden zuvor noch keine gefunden. Es liegt nahe, das Vergraben der Stücke mit der eben geschlagenen Schlacht zusammenzubringen.
Die Liste der Leihgeber im wiederum superben Katalog füllt neun Spalten im Kleindruck. In Magdeburg ist für die Dauer dieser Schau (bis zum 9. Dezember) „tatsächlich ein ansehnlicher Teil des abendländischen Tafelsilbers versammelt“ (E. Fuhr, DIE WELT). Man kann versuchen, alles zu erfassen – das dauert mehr als einen Tag -; man kann sich eine der fünf Abteilungen vornehmen, oder ganz flaneurhaft-eklektisch einzelnen Klassen von Artefakten folgen. Sinnfällig wird die gestiftete Kontinuität dann in den Kameen, die in der Antike als Schmuck und wertvolle Geschenke dienten, im Mittelalter dann prachtvoll geschmückte Buchdeckel zierten. Überhaupt: die Meisterung und Gestaltung der Schrift, in Inschriften, Urkunden und Handschriftencodices – diese Imperien waren auch Gebilde aus wirkenden, sichtbaren Worten. Ein A und O: Objekt I.1 der Tugendschild für Augustus aus Arles, V.81 eine Handschrift der Fuldaer Totenannalen, irgendwo dazwischen Prachtstücke wie das purpurgefärbte Pergament des Privilegium Ottonianum von 962 und die noch prachtvollere Heiratsurkunde der Kaiserin Theophanu (V.39), „die schönste Urkunde des Mittelalters“. Oder die symbolberstenden Elfenbeindiptychen, die es in der Spätantike gab und dann wieder im Mittelalter. Oder … oder … oder …!
Eine Tour durch die drei Ausstellungen sättigt die Schaulust auf lange Zeit – und gibt Anregungen, die Antike immer wieder neu zu durchdenken.