In einer Suchmaschine für antiquarische Bücher stoße ich durch Zufall auf ein schmales Bändchen: Ulrich von Hassell, Pyrrhus (München 1947). Sollte das der 1937 aus dem diplomatischen Dienst ausgeschiedene Ulrich von Hassell sein, der im (bürgerlich-militärischen) Widerstand gegen Hitler eine wichtige Rolle spielte und am 8. September 1944, heute vor 68 Jahren, hingerichtet wurde?
Für zentrale Akteure dieser Richtung des Widerstandes stellte schon durch ihren Bildungshintergrund die Antike eine vertraute Größe dar. Claus Schenk Graf von Stauffenberg war überdies bekanntlich Georgianer (dazu, freilich zu distanzlos, Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln 2006). Im Georgekreis wurde die griechische Antike in einer sehr prägnanten Weise hochgehalten: als Vorbild einer von Geist erfüllten Welt, in der noch Natur und Götter geehrt wurden und angeblich wenige große Individuen statt der Masse Politik und Kultur bestimmten – daher die Nähe zu Platon. Noch als Offizier im Zweiten Weltkrieg las Claus, sofern die Zeit es ihm erlaubte, antike Texte. Dem Bruder, dem Althistoriker und Künstler-Humanisten Alexander, hat Karl Christ vor ein paar Jahren sein letztes Buch gewidmet (Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg, München 2008).
Wenig später liegt das Büchlein im Briefkasten. Erstes bis viertes Tausend, 1947 publiziert mit Genehmigung der amerikanischen Militärregierung. Laut Vorwort hat von Hassell das Ostern 1944 fertiggestellte Manuskript persönlich dem Verlag anvertraut; er „hatte sich mit dieser Arbeit herausheben wollen aus den schweren Sorgen jener Tage, aus der dauernden Anspannung des Kampfes gegen Hitler und der Versuche, das deutsche Schicksal zu wenden“. Das Büchlein – es umfaßt gut siebzig Seiten Text – stehe „als Ausdruck der weiten, wirklich europäischen Bildung, die Botschafter Ulrich v. Hassell verkörperte“.
Aber warum Pyrrhus? Dazu eine kurze Erläuterung. Ulrich von Hassell (geb. 1881) kam nicht über den humanistischen Weg zu diesem Thema. Er studierte die Rechte, lernte intensiv neuere Sprachen und schlug eine diplomatische Karriere ein. Der Schulunterricht, zuletzt in Berlin, scheint ihn nicht übermäßig für die Antike begeistert zu haben. Was in den autobiographischen Aufzeichnungen aus der Haftzeit darüber zu lesen ist, entspricht eher dem Figuren- und Skurrilitätenkabinett der Feuerzangenbowle. Der Schuldirektor Otto Richter, Verfasser einer Topographie des antiken Rom, „war ein gefürchteter Tyrann, der sich nicht scheute, die Lehrer vor den Schülern zusammenzudonnern, und der bis in die oberen Klassen sich Ohrfeigen erlaubte“; indes „genoß er bei aller von ihm eingeflößten Furcht eine hohe Achtung bei den Schülern, ja eine Art Sympathie. Er war ein großer Humanist und wirklicher Kenner des Altertums.“ Der Lateinlehrer der Klasse hingegen mit dem Spitznamen „Ajax“ war ein „eitler, unaufrichtiger Geselle, der wenig innere Autorität bei uns hatte“. Eine Lachgestalt gab der Professor Lehmann ab, „wenn er mit Grabesstimme Horaz als triefäugig mit Schmerbauch und Fusselbart beschrieb, nicht ahnend, daß er sein eigenes Konterfei lieferte“. Sehr beliebt war der Griechischlehrer, der an Ausgrabungen teilgenommen hatte und im Unterricht Bilder von seinen Reisen zeigte. „Leider lernten wir dabei kein Griechisch, so daß der Direx dazwischenfuhr und die Stunde zu unserm tiefen Leidwesen selbst übernahm.“ Natürlich fehlte es auch nicht an „Nullen, die von ihrem eigenen Fach, z.B. Geschichte und Geographie, nichts verstanden“. (Dies übrigens eine Warnung, den fachlichen Anteil in der Lehrerausbildung immer weiter zurückzufahren!)
Warum also, noch einmal, Pyrrhus? Neigung und die Diplomatenlaufbahn hatten es mit sich gebracht, daß sich von Hassell mit der politischen Geschichte der Staaten und Räume in Europa befaßte. Geopolitisches Denken war um und nach 1900 en vogue, und von Hassell entwickelte die Überzeugung, daß der Mittelmeerraum und hier besonders die Adria und Südosteuropa als Berührungszone zwischen Ost und West eine entscheidende Rolle spielten – und als Einflußraum deutscher Großmachtpolitik! 1940 publizierte er ein Buch mit dem Titel Das Drama des Mittelmeeres, einen historischen Abriß, der just mit Pyrrhus‘ Landung in Tarent begann; im gleichen Jahr erschien in der Zeitschrift Weiße Blätter der Aufsatz Pyrrhus. Ein Vorspiel der Mittelmeerpolitik, eine erweiterte Fassung des Einleitungskapitels; das Büchlein stellt wiederum eine Erweiterung dieses Aufsatzes dar.
Macht plus Raum gleich Imperium, von diesem Grundaxiom einer realistischen Politikgeschichte klassischen Zuschnitts ist auch von Hassells Pyrrusbild tief geprägt: „Die politische Grundtatsache der europäischen Geschichte ist das römische Imperium. Indem sich dieses Reich um die Zeit von Christi Geburt vollendete, gipfelte politisch nicht nur die antike Welt in ihm, sondern es wurde unserm Erdteil auf viele Jahrhunderte die Bahn vorgezeichnet. Vorerst war und blieb das Mittelmeer die Stätte allen politischen Geschehens.“ So beginnt das kleine Werk (S. 5). Akteure sind Machtkollektive: Alexander, die Diadochenreiche, Karthago, Rom. Dem geschichtlichen Prozeß unterliegt eine höhere (oder tiefere) Notwendigkeit (ebd.): „Betrachtet man die Geschichte mit der zweifelnden Frage im Herzen, ob eine Vorsehung darin unmittelbar walte, so wird man geneigt sein, sie jedenfalls für jene Entwicklung zu bejahen, die den Römern den endgültigen politischen Sieg über alle Völker des Mittelmeerraumes bescherte: so folgerichtig, fast möchte man sagen unausweichlich, vollzieht sie sich.“. Es ringen Abstraktionen miteinander: Europa vs. Afrika, Ost vs. West. Oder, etwas faßbarer (S. 55) „auf der einen Seite eine schwungvolle Führerpersönlichkeit, auf der anderen ein täglich mehr zum Staate gehämmertes, d.h. politisches Volk: Ein Grieche gegen Rom!“ Die handelnden Einheiten unterliegen einem Lebenszyklus: Das Griechentum trug schon bei Alexanders Thronbesteigung „Zeichen des Verfalls“, der große Makedone brachte nochmals die Hoffnung auf Wiedergeburt, sein letztliches Scheitern ließ ihn „als die letzte Blüte, die eine zum Tode verurteilte Pflanze hervortrieb“, erscheinen. Diese Konstellation wiederholte sich in Pyrrhus, den von Hassell als einen großen Führer zeichnet. Nicht zufällig zitiert er Ranke (S. 24f.): „So geschah es, daß Rom mit der mazedonischhellenistischen Weltmacht, wie sie sich in einem ihrer vornehmsten Führer repräsentierte, plötzlich in Kampf geriet. Beide Systeme – das römische, das in der Überwältigung von Italien begriffen war, und das griechisch-mazedonische, das von jeher nach Westen vorzudringen gestrebt hatte, – stießen aufeinander. Nicht als Söldner ging Pyrrhus nach Italien über, sondern als ein großer Fürst, der einen Krieg in eigenem Interesse und in einem allgemeinen unternahm.“ Das Interesse, das war zunächst die Option, vom machtpolitisch überdeterminierten Osten auszuweichen – ließ sich nicht „ein westgriechisches Reich entwickeln“? Doch von Hassell griff geopolitisch und welthistorisch weiter aus (S. 32): „Mit Pyrrhus kristallisierte sich die adriatische Frage als erster Zusammenstoß der östlich-hellenistischen mit der westlich-römischen Welt. Entweder es gelang ihm, ein der Geschichte neue Bahnen vorzeichnendes griechisches Reich aus Epirus, Unteritalien und Sizilien zu gründen, alsdann womöglich ausgreifend nach Nordafrika, oder das unteritalisch-sizilische Griechentum geriet endgültig in eine hoffnungslose Lage zwischen den Mühlsteinen Rom und Karthago. In der Tat, eine weltgeschichtliche Entscheidung!“
Wie von Hassell die politischen Rochaden des Pyrrhus, die Kämpfe mit den Römern und das wenig heroische Ende schildert, mögen Interessierte selbst nachlesen. Was er seinem Pyrrhus als Bilanz mit auf den Weg gab – ein großer „Gescheiterter in der Geschichte“ -, kann wer will mit dem Hassell-Biographen Gregor Schöllgen auf den Autor dieser Prägung beziehen. Vor allem aber zeigt eine nüchterne Lektüre, wie vollständig der Abgrund von 1945 auch den Glauben an die zuvor so unerschütterlich stehenden Geschichtsmechanismen verschlungen hat (S. 74-76):
„Von dem Manne, der so mitten aus der Bahn gerissen wurde, hat man mit Recht gesagt, daß er in der Weltgeschichte niemals vergessen werden könnte, weil es ihm als Exponenten des Hellenismus gelang, die beiden Großmächte des Westens, Rom und Karthago, ernstlich zu gefährden. Wenn man Pyrrhus den ‘Ersten Griechen‘ genannt hat, der Rom im Kampfe gegenübertrat, so kann man auch in gewissem Sinne sagen: ‘Der Letzte‘, insofern man nämlich eine Offensive gegen Rom im Auge hat. Und hierin, in dem Zusammentreffen des ‘Ersten‘ mit dem ‘Letzten‘, liegt die politische Tragik des Griechentums, das zur Zeit des Pyrrhus nicht mehr die Kraft besaß, Rom ein ebenbürtiger oder gar überlegener Gegner im Kampfe um die Herrschaft über das Mittelmeer zu sein.
Die Gestalt des Pyrrhus erinnert in seiner ritterlichen Unbekümmertheit und in seiner in den Schlachten, aber nicht im Kriegsergebnis bewährten Sieghaftigkeit (magis in proelio quam in bello bonus, sagte schon ein alter Schriftsteller von ihm) am meisten an Karl XII. von Schweden. Auch dieser ging mit unzureichenden Mitteln ein großes Ziel stürmisch, aber schließlich erfolglos an. Es ist falsch zu sagen, daß dieser, gewiß etwas abenteuerliche Wittelsbacher Schweden zugrunde gerichtet hätte. Vielmehr bestieg er den Thron in einem Augenblick, in dem die Kräfte Schwedens schon nicht mehr ausreichten, seine Großmachtstellung zu behaupten. Karl XII. war es nur noch beschieden, den unvermeidlichen Sturz mit dem Glänze hohen Ruhmes zu verklären. Auch das hellenistische Griechentum war nicht das Instrument, dessen man bedurfte, wenn man Rom bezwingen wollte. Sicherlich erschien, wenn jemand, so Pyrrhus zum Exponenten des Hellenismus vorbestimmt, er, der Vetter Alexanders von Mazedonien, der Neffe Alexanders von Epirus, Schwager des Demetrius Antigonus, Stiefschwiegersohn des Ptolemaeus Soter von Ägypten und Schwiegersohn des Agathokles von Syrakus; der Mann, der in vollem Bewußtsein dieser Zusammenhänge einen Sohn Ptolemaeus, einen zweiten nach dem großen Alexander, einen dritten als Symbol seines Griechentums Hellenus genannt hatte. Und niemand kann bestreiten, daß seine Taten ihn nahe an das große Ziel herangeführt haben. Es kann aber ebensowenig geleugnet werden, daß ihm persönlich manche Eigenschaften mangelten, die Voraussetzung seines Enderfolgs gewesen wären. Im Vergleich mit seinem großen Vetter Alexander fehlte ihm vor allem das wirklich Geniale und die Größe eines umfassenden Geistes. Dazu kam, daß er als einer der ersten Kriegsmänner einer abenteuerlichen Zeit selbst etwas Abenteuerliches hatte und die Kunst der Politik weder richtig einschätzte noch als Meister beherrschte. Endlich zeigte er gelegentlich einen verhängnisvollen Mangel an zielklarer Konsequenz im Fassen und Durchführen seiner Entschlüsse. So gehört er zu den großen Gescheiterten der Geschichte.
Seine Fehler hängen mit seinen Tugenden zusammen. Pyrrhus war nicht der Mann von Eisen, der mitleidlos und bedenkenlos, ohne nach rechts und links zu schauen, in den Mitteln nicht wählerisch, auf sein Ziel losging. Eben darauf beruht aber auch der wunderbare Zauber seiner ritterlichen, wahrhaft königlichen Persönlichkeit. Von niedrigen Gedanken unbefleckt leuchtete er in einer Zeit, in der die griechische Welt im Chaos zu versinken drohte, als eine helle Gestalt, die auch für uns noch nicht ihren Schimmer verloren hat.“
Gregor Schöllgen, Ulrich von Hassell. Ein Konservativer in der Opposition. München 1990.
Danke, sehr schön! Bliebe...
Danke, sehr schön! Bliebe evtl. noch für sich selbst festzuhalten, dass eine Erstauflage von 4.000 Stück im Jahre 1947, bedenkt man die Verhältnisse, sicherlich als außergewöhnlich hoch einzuschätzen wäre.
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Offensichtlich, so ist man desweiteren geneigt anzunehmen, hatten sich auch die Allierten Militärmissionen, die gfls. Werk- u. Druckauftrag, resp. Freigabe zu geben hatten, von der Publikation erzieherische, gestalterische Wirkung für/auf die direkte Nachkriegsgegenwart versprochen. Das klassische Motiv: „Seht her, es war nicht alles schlecht!“
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Und man musste damals, wie bekannt, sicherlich durchaus schon suchen gehen nach dem verblieben Guten in Deutschland. Längst nicht jeder hatte so etwas in der Schublade. (Darf man es sagen: Schon aus Feigheit nicht?)
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v. H., wenn man so will, ein Vertreter der Inneren Emigration auch mit, zumindest, was die Abfassung und Bewahrung der besprochenen Schrift angeht.
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Nochmals also unser Dank!
Wir hatten kurz nochmals...
Wir hatten kurz nochmals Google bemüht und waren u.a. auf die für uns bisher unbekannten „Ullrich v.Hassell-Diaries“ gestoßen. Was es alles gibt!
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https://www.theulrichvonhasselldiaries.com/index.html
Wo wäre ein Fehler in großem...
Wo wäre ein Fehler in großem Scheitern? Der letzte der großen Griechen ist für mich übrigens Mithridates und nicht Pyrrhus. Vielleicht wäre es mit der okzidentalen Kultur doch besser ausgegangen, wären die beiden nicht gescheitert? Ich für meinen Teil halte das „von niedrigen Gedanken unbefleckt“ für ein wahrhaft königliches Zeugnis. Oder wie Henning v. Tresckow es ausdrückte (man kann es gar nicht oft genug wiederholen):
„Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“
Dixit.
"Vor allem aber zeigt eine...
„Vor allem aber zeigt eine nüchterne Lektüre, wie vollständig der Abgrund von 1945 auch den Glauben an die zuvor so unerschütterlich stehenden Geschichtsmechanismen verschlungen hat…“
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Über diesen Satz musste ich länger nachdenken und weiss immer noch nicht genau, wie er gemeint ist.
Soll das heissen, dass der Glaubensverlust der Nachkriegszeit in den weiter unten stehenden Textbeispielen bereits zum Ausdruck kommt? Oder eher andersrum, dass dieses Buch (obwohl schon kurz nach dem Krieg erschienen) immer noch eine Haltung der Vorkriegszeit zum Ausdruck bringt, und das die heutige Lektüre solcher Passagen uns deutlich macht, wie weit wir uns von solchem Denken längst entfernt haben? Vermutlich eher letzteres. Das wäre wirklich ein interessante Beobachtung!
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Allerdings würde ich nicht sagen, dass das, was in solchen Texten zum Ausdruck kommt, wirklich der „Glaube an unerschütterlich stehende Geschichtsmechanismen“ war, sondern der Habitus eines Gelehrten, sich eben nicht als Wissenschaftler versteht, sondern als Zivilprediger, als Literat und Bildungsonkel, der seine Gymnasialkinder und deren bildungsphiliströse Eltern mit seinem Schwurbel zu beeidrucken gelernt hat.
Man kann die Unfähigkeit, die Geschichte offen zu denken, und den Zwang, das dürre Schulbuchwissen mit philosophischem Salbader krampfhaft philosophisch überhöhen und jeder Episode einen „weltgeschichtlichen Sinn“ zuschreiben zu müssen, auch auf andere Haltungen zurückführen als auf den „Glauben an Mechanismen“: Zum Beispiel auf hohle Prätention, Bildungsdünkel und satte Denkfaulheit.
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Daher auch herzlichen Dank für die kurzen autobiographischen Einschübe, sie passen hier wirklich hin. Wer so übers Altertum schrieb wurde von den Schulkindern zu Recht nicht ernst genommen.