Nochmals die Gescheiterten und Besiegten, als Supplement zum vorigen Eintrag. Für einen Vortrag im Rahmen einer Lehrerfortbildung war vor ein paar Wochen über Livius zu sprechen. Die ersten zehn Bücher von Ab urbe condita sind demnächst Gegenstand des Lateinabiturs in Niedersachsen. Suche nach einem Einstieg in den Vortrag. Beliebt ist die Rezeptionsgeschichte, um die Bedeutung des Gegenstandes herauszustreichen. Aber die Zeit, als aus Livius Funken für die eigene Gegenwart geschlagen wurden, liegen schon lange zurück: Machiavellis Herrschaftslehre und der Republikanismus der Französischen Revolution. Es müßte also viel erläutert und ein Kontext hergestellt werden; Demonstration durch ein Explanandum sozusagen, nicht sehr attraktiv. Oder man hebt die Superlative des livianischen Werkes hervor: ein Mammutwerk, dessen Autor jedes Jahr im Schnitt drei lange Buchrollen vollgeschrieben haben muß und das die gesamte ältere Tradition im doppelten Sinne in sich aufhob – als Synthese und als Grund, die Vorgänger zu vergessen. Aber die amplificatio wirkt auch irgendwie schal.
Ich entschließe mich zu einer Irritation der gängigen Vorstellung, anknüpfend an die auch hier schon einmal skizzierte Frage, ob Niederlage und bessere historische Erkenntnis miteinander korrelieren. Reinhart Koselleck hat Herodot, Thukydides und Polybios genannt, die der Historiographie (auch) deshalb neue Dimensionen erschließen konnten, weil ihnen als Exilierten ein Perspektivwechsel und ein audiatur et altera pars nahegelegt wurden. Auch die Römer Sallust und Tacitus lassen sich gedanklich dieser Gruppe zuordnen: Zwar gehörten beide äußerlich zu den Etablierten – Sallust nach Caesars Ermordung als schwerreicher, politisch offenbar ungefährdeter Privatier, Tacitus gar als gewesener Konsul und Mitglied der politischen Elite. Aber beide pflegten einen oppositionellen Gestus; ihre Historiographie hatte gegenüber den Zeitläuften und der Entwicklung, die Rom genommen hatte, einen anklagenden, ja denuntiatorischen Ton; sie gaben sich geistig zerfallen mit den Verhältnissen, in denen es ihnen persönlich gutging. Livius wird von Koselleck nicht erwähnt, wohl weil er vollends als Etablierter gilt. Etwas jünger als Augustus (geb. wohl 59, dem Jahr von Caesars Konsulat), aus einer wohlhabenden munizipalen Familie in Padua stammend, damit Nutznießer der Wiederherstellung der res publica seit 30 v.Chr., zuvor von der schrecklichen Triumviratszeit (43-32) – anders als etwa Vergil – offenbar nicht betroffen, unternimmt er es, noch einmal die gesamte Geschichte Roms seit den Anfängen zu erzählen und bis in die eigene Zeit zu führen. Ohne politischen Ehrgeiz und in gesicherten Verhältnissen lebend, begleitet von Wohlwollen und Bewunderung, beginnt er mit Ende zwanzig – wohl noch vor der Schlacht von Actium (31 v.Chr.) – mit dem Werk und schreibt, so hat man ausgerechnet, jedes Jahr etwa drei Bücher nieder. Livius stirbt wohl 17 n.Chr., drei Jahre nach Augustus. War Livius also ein ‘offiziöser‘ Geschichtsschreiber? Ronald Syme hat ihn in seinem berühmten Buch The Roman Revolution (1939) so gezeichnet: „Wie die andere von der Regierung geförderte Literatur war auch das Geschichtswerk des Livius patriotisch, moralisierend und erzieherisch. (…) (D)ie Historie … konnte dazu verwandt werden, um – wie die Dichtkunst – das Andenken alter Tapferkeit zu ehren, den Stolz der Nation wieder zu heben und kommende Generationen zu bürgerlicher Tugend zu erziehen. (…) Vergil, Horaz und Livius sind der dauernde Ruhm des Prinzipats. Alle drei verkehrten mit Augustus in einer Art persönlicher Freundschaft. Die Klasse, der sie angehörten, hatte von der Neuen Ordnung alles zu gewinnen.“ Doch wie immer in einer komplexen Wirklichkeit finden sich auch in einem komplexen Geschichtswerk wie dem livianischen Passagen, die den Befund zu konterkarieren scheinen. Es folgt ein solches Beispiel – der Einstieg ist gefunden, das Interesse der Zuhörer/innen (hoffentlich) geweckt.
Die Koselleck’sche Frage nach Siegern, Besiegten und Historikern ist auch Gegenstand eines Aufsatzes von Marian Nebelin, erschienen in einem Sammelband, der epochenübergreifend Eliten nach dem Machtverlust oder nach anderen einschneidenden Umwälzungen behandelt. Es gibt Studien zu Thersites in der Ilias, zu Macht und Legitimation im frühen Hellenismus und zur (Ohn-)Macht spätantiker Hofeliten, außerdem eine Reihe von Studien zu sehr speziellen, meist randständigen Fällen in der Moderne und der Gegenwart, darunter zu Carl Schmitt.
Der Autor geht in dem genannten Aufsatz von dem Bericht aus, den Livius von der Eroberung Roms durch Gallier Anfang des 4. Jahrhunderts v.Chr. gibt. Aus diesem Zusammenhang stammt das bekannte Vae victis / „Wehe den Besiegten!“ – ein frühes Zeugnis des Nachdenkens über das Verhältnis von Siegern und Unterlegenen. Die römische Pointe: Aus den victi wurden victuri, und von Anfang an (denn die Kelten hatten keine Geschichtsschreibung) bestimmte eine Seite allein die Erinnerung an das römisch-gallische Verhältnis. Der Sieger schreibt die Geschichte – das war auch die Überzeugung Walter Benjamins, dem Nebelin schon ein ganzes Buch gewidmet hat. Es ist dies aber auch das verdruckste Credo von ‘rechten‘ Geschichtsrevisionisten, die ihr Bild etwa von der Auslösung des 2. Weltkriegs in der Historiographie der Sieger und der angepaßten Besiegten nicht wiederfinden und sich als Opfer eines Macht- und Gedächtnisdiktatkartells stilisieren. Man sieht: Das Gefechtsfeld birgt Fallen.
Nebelin ist umsichtig und fragt zunächst nach den Begriffen. Was bedeutet eigentlich ‘Besiegtsein‘ und ‘Gescheitertsein‘? Sofern der Zustand nicht absolut gemeint, der Unterlegene also nicht tot ist, gibt es viele Optionen: Revanche, erfolgreiches Einrichten in neuen Verhältnissen, Kampf um die Deutungsmacht. Die Rede von Siegern und Besiegten ist überdies gar nicht selbstverständlich; in auf Konsens und Kompromiß angelegten Institutionen und Konstellationen kann man sie semantisch ganz zum Verschwinden bringen, wie jetzt gerade wieder in den Verhandlungen der diversen europäischen Gremien zu sehen ist. Ja, eine Konzeptualisierung der Welt, wie sie von Herodots Hellenen-Barbaren-Dichotomie bis hin zu Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung ganz selbstverständlich erschien (und das Denken von Marx wie von Nietzsche prägte), ist grundsätzlich stark unter Verdacht gekommen, Konflikte erst auszulösen oder mindestens zu verlängern.
Doch Benjamin würde den Kompromiß, ins Gedächtnis umgeprägt, wahrscheinlich als ein Instrument des Stärkeren, den es doch immer gebe, ablehnen. Er schreibt dem Historiker vielmehr die Aufgabe zu, den toten Besiegten eine Stimme zu verleihen. Man kann das auch aus der Konfliktsituation, in der es formuliert wurde – die drohende Überwältigung ganz Europas durch den Nationalsozialismus -, herauslösen und anthropologisch universalisieren: Alle Toten, alle vergangenen Generationen gehören zu den Besiegten, denn was sie taten und schufen, mußte notwendig in der einen oder anderen Weise überwunden, abgetan, reformiert, überholt und vor allem: einer Deutung unterworfen werden, die nicht die ihre, sondern die der Nachgeborenen (also auch: unsere) ist und gegen die sie selbst sich nicht wehren können. Hierin liegt eine tiefe Weisheit von Rankes Wort, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott – in ihm ist sie besser aufgehoben als in der Relation zu ‘uns‘.
Doch ich schweife ab. Nebelin rekonstruiert Benjamins Argument in diesem Punkt: Markant sei dessen „Betonung der Bedeutung des ‘Augenblickes‘, in dem in der ‘Jetztzeit‘ das ‘Kontinuum der Geschichte‘ aufgesprengt werden soll. Dahinter verbirgt sich zunächst ein Impuls der Kritik: Benjamin wandte sich gleichzeitig gegen eine auf einem technizistischen Fortschrittsdenken beruhende Vorstellung von geschichtlicher Kontinuität und gegen den Konformismus, den er ja mit dem historistischen Konzept einer identifikatorischen ‘Einfühlung in die Sieger‘ verbunden hatte. Zum anderen versuchte Benjamin, Perspektive und methodische Zugriffsweise der Historiographie der Besiegten zu umreißen. Auch diese soll an eine sich in einem besonderen Augenblick eröffnende ‘Chance‘ gebunden sein; der benjaminsche Historiker muss ‘das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens‘ erkennen. (…) In der sog. These B aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte gebrauchte er dafür das dem Judentum entlehnte Bild, jede Gegenwart sei ‘die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten konnte‘, um seine Ansicht zu unterstreichen, dass in jedem Augenblick ein grundlegender Wandel der Verhältnisse eintreten könne.“
Koselleck verweist dagegen auf die Dimension der Kontingenz: Während die ‘Sieger‘ zu teleologisch ausgerichteten Meistererzählungen neigten („Es kam am Ende notwendig so, wie es im Entwicklungsprozeß angelegt war.“), haben Besiegte die authentische und „nicht austauschbare Urerfahrung aller Geschichten gemacht, daß sie anders zu verlaufen pflegen als von den Betroffenen intendiert“. Das schärft den Sinn für komplexe Ursachenanalysen.
Bleibt der Historiker selbst. Er kann unter günstigen Umständen eine dritte, unabhängige Position einnehmen. Etwa wie Thukydides Niederlage und Verdrängung zu erleben, aber doch materielle und politische Unabhängigkeit zu besitzen – und dazu die Kraft der überzeugenden Rede, der zugehört wird. Oder wie Tacitus sozial zu den Siegern gehören, ohne sich und anderen jedoch über die Voraussetzungen und Kosten der neuen Verhältnisse Sand in die Augen zu streuen. Nebelin schließt (ziemlich optimistisch): „Letztlich ist Tacitus‘ Werk durchzogen von einer Kritik der zeitgenössischen Machtverhältnisse, an denen er selbst teilhatte, denen in bestimmten Punkten zu widersprechen jedoch die eigene Teilhabe zu gefährden bedeuten konnte. Tacitus‘ Lavieren belegt ebenso wie seine klaren Stellungnahmen in Bereichen fern der Tagespolitik, dass es Historikern offensichtlich nicht in erster Linie um Macht, sondern um Wahrheit und um Ästhetik geht. Erst über lange Sicht mögen diese beiden Eigenschaften einer historischen Erzählung wiederum jene Kraft zu verleihen, der auch die vormals Mächtigen nichts entgegenzusetzen haben; erst dann kann vielleicht sogar ein Thukydides-Faktor gegenüber einem Brennus-Faktor nachhaltig Wirkung entfalten. In dem Versuch, historiographisch zwischen diesen beiden perspektivischen wie erzählerischen Einflusspolen zu vermitteln, besteht die kritische Funktion der Geschichtswissenschaft, ihre gesellschaftliche Aufgabe, die sie nicht preisgeben darf, deren Einforderung aber gerade eine moderne demokratische Gesellschaft ihrerseits ebenso wenig aufgegeben darf wie die Ermöglichung ihrer Einlösung.“
Michael Meißner, Katarina Nebelin, Marian Nebelin (Hgg.), Eliten nach dem Machtverlust? Fallstudien zu Transformationen von Eliten in Krisenzeiten (= Impulse. Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft, Bd. 3). Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2012, 323 S., kart., € 39,-
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19). Herausgegeben von Gérard Raulet. Berlin 2010.
Wie die wahren Sieger die...
Wie die wahren Sieger die Geschichte fortschreiben
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Dabei auf Ihren letzten Beitrag rekurrierend: Am Beispiel Stauffenberg sieht es so aus, als wäre Benjamin widerlegt. Denn zeigt sich doch, dass es gerade die Niederlage der Gruppe um Stauffenberg war, die die Besiegten posthum zu Siegern machte. Und wie der Mythos die Geschichte zu besiegen drohte. Tatkräftig hierbei offenbar unterstützt durch – die Sieger. Doch so wenig es einen preußischen Widerstand vor oder mit Stauffenberg gegeben hat, der ein antifaschistischer gewesen wäre, sowenig war auch ein Nachkriegsdeutschland ein antifaschistisches. Und darin liegt vermutlich der geheime Grund für den allzu bereitwillig unterstützten Mythos um den Grafen Stauffenberg seitens der Sieger wie der Besiegten. Der Geldadel um Stauffenberg und die Schwerindustrie um Hitler bildeten die zwei Seiten in jener gewissermaßen „dialektischen Einheit“ zwischen preußischen Junkern und deutsch-nationalem Bürgertum. Während der deutsche Geldadel (incl. nicht unwesentlicher Teile des preußisch-deutschen Offizierscorps) vom Preußischen Dünkel beseelt blieb, radikalisierte sich die deutsche Schwerindustrie (samt dem Rest des deutschen Staatsapparats) in Richtung faschistischen Rassismus. Doch endgültig Feinde wurden sie erst als sie beide gleichermaßen vor der Geschichte blamiert dastanden. Doch zeigt sich dahinter auch die List der Besiegten.
Es wundert mich dennoch nicht, dass die alte DDR, Gott hab sie selig, gerade infolge ihres Versuchs den preußischen Nationalismus noch mal auszubeuten, dann eben nicht gewissen Neugroßdeutschen Kreisen – von Strauß bis Herrhausen – zum Opfer fiel, sondern dass dabei beide deutsche Teilstaaten unwiderruflich Geschichte wurden. Nach Ackermanns saloppen Eingeständnis‘ lässt sich der Mord an Herrhausen (resp. der Siegeszug von Goldman-Sachs in Europa) als sichtbares Zeichen für einen offenbar notwendig gewordenen 2. Waffengang interpretieren. Der Mythos ist besiegt. Und ein Benjamin behält Recht. Zeigt sich doch gerade an diesem komplexen Bild der dennoch relativ konstanten Machtverhältnisse innerhalb wie außerhalb der atlantischen Achse wie die wahren Sieger die Geschichte fortschreiben.
Danke für den sehr schönen...
Danke für den sehr schönen Bogen, den der Blogger von Livius zu Walter Benjamin schlägt!
„Über den Begriff der Geschichte“ ist seit vielen Jahren meine geschichtsphilosophische Leib- und Magenlektüre, bei jedem Wiederlesen eröffnen sich für mich neue Bedeutungen, wird der unterirdische Strom, der sich durch die verhältnismäßig wenigen Seiten zieht, an Stellen sichtbar, die bislang von mir überlesen wurden. Aber natürlich ist anziehend auch das herklitisch Dunkle des Textes aus der Feder des sonst zwar komplex, aber kristallklar formulierenden Benjamins.
„Doch Benjamin würde den Kompromiß, ins Gedächtnis umgeprägt, wahrscheinlich als ein Instrument des Stärkeren, den es doch immer gebe, ablehnen. Er schreibt dem Historiker vielmehr die Aufgabe zu, den toten Besiegten eine Stimme zu verleihen.“
Ich glaube nicht, dass Benjamin dem Kompromiss abgeneigt gewesen ist. Verblendung war seine Sache nicht, er verstand sich als Marxist, hatte aber anders als Marx einen Vaible für jüdische Mystik. Er gab überhaupt einen schlechten Ideologen ab: dazu war sein poetischer Sinn zu ausgeprägt und seine Beobachtungsgabe zu scharf. So jemand kann seine Einsichten nicht auf dem Altar kämpferischer Vereinfachungen opfern.
Die Überwindung des Glaubens an die alten Deutungsmuster scheint mir zu den wichtigsten Aufgaben des Historikers zu zählen. Dass kann, muss aber nicht bedeuten, „den toten Besiegten eine Stimme zu verleihen“. Gegen alte Deutungen aufzutreten geschieht dabei natürlich nicht aus Selbstzweck oder borniertem Oppositionsgeist gegen herrschende Narrative, sondern als Formulierung begründeter Zweifel, die sich anhand von Quellen belegen lassen. Jüngstes Beispiel ist die vorzügliche Studie von Thomas Weber „Hitlers erster Krieg“ über die Dienstzeit Adolf Hitlers im bayerischen Regiment List während des Ersten Weltkriegs.
Althergebrachte Auffassungen in Frage zu stellen, das ist auch Götz Aly gelungen. Einer seiner schärfsten Kritiker ist Hans-Ulrich Wehler. Und dieser hitzige Anti-Benjamin kommt dabei seltsam argumentationslos daher.
Vor vielen Jahren – lange vor der Krise – habe ich in München eine Veranstaltung besucht, in der Wolfgang Schäuble, Cem Özdemir und Hans-Ulrich Wehler über Wohl und Wehe eines prospektiven Beitritts der Türkei zur EU debattierten.
Schäuble klug, ironisch und witzig, Cem Özdemir desgleichen und Wehler als Statler-und- Waldorf- Karikatur in unsachlichster Weise Theaterdonner produzierend (und tatsächlich sieht er Waldorf verblüffend ähnlich, es fehlt ihm nur der Schnurrbart der Krawallschachtel aus der Muppet-Show!).
Er sprach sich gegen eine Aufnahme der Türkei in die EU aus. Ich werfe ihm nicht seine Meinung vor, sondern das, was ich für die Todsünde eines Historikers halte: Zeugnis abzulegen wider eigenen besseren Geschichtswissens. Oder kann es sein, dass der Emeritus wirklich der Meinung war, der Islam sei nicht Bestandteil der europäischen Geschichte? Sprach hier ein Politiker, der den Historiker in sich instrumentalisierte, um seinem Argument eine falsche Autorität zu verleihen?
An die Adresse des Bloggers gerichtet frage ich nach bei einem Satz, der sich in seiner Unklarheit deutlich abhebt von allen anderen des ausgezeichneten Beitrags: „Die Rede von Siegern und Besiegten ist überdies gar nicht selbstverständlich; in auf Konsens und Kompromiß angelegten Institutionen und Konstellationen kann man sie semantisch ganz zum Verschwinden bringen, wie jetzt gerade wieder in den Verhandlungen der diversen europäischen Gremien zu sehen ist.“ Dieser Satz ist mir völlig unverständlich. Wer wäre in gegebener Konstellation als „Sieger“, wer als „Besiegter“ zu bezeichnen?
Mit Koselleck stimme ich überein, wenn er von der augenöffnenden Wirkung spricht, die eine Niederlage haben kann. Dem Blogger gebe ich recht, wenn er über den Historiker schreibt:
„Er kann unter günstigen Umständen eine dritte, unabhängige Position einnehmen. Etwa wie Thukydides Niederlage und Verdrängung zu erleben, aber doch materielle und politische Unabhängigkeit zu besitzen – und dazu die Kraft der überzeugenden Rede, der zugehört wird. Oder wie Tacitus sozial zu den Siegern gehören, ohne sich und anderen jedoch über die Voraussetzungen und Kosten der neuen Verhältnisse Sand in die Augen zu streuen.“
@Devin 08:
Es ist an der Zeit, sich vom Mythos zu befreien, Hitler sei ein spezielles Hätschelkind oder gar Produkt der Großindustrie gewesen. Die Wahrheit scheint mir viel banaler zu sein: Die Industrie nimmt´s wie´s kommt! Heute werden Schützenpanzer produziert, morgen Marzipankartoffeln, ganz wie es Absatzmärkte und konjunkturelle Zyklen diktieren. Die Persönlichkeit politischer Entscheidungsträger oder Sachzwangverwalter ist zweitrangig. Gleichgültig auch, woher die Arbeitskräfte rekrutiert werden: Fünf Etagen tief unter dem Flughafen Tempelhof funktionierte die Produktion von Flugzeugen bis in die letzten Tage des Krieges, ob mit Sklaven, Zwangsarbeitern, unter- oder übertariflich bezahlten Arbeitnehmern spielte damals so wenig eine Rolle wie heute. Solange keine ewige Verdammnis oder ein weltlicher Richter drohen, wird produziert unter ausschließlicher Abwägung von Kosten und Nutzen. Der Unternehmer weiß sich dabei stets von der Gesellschaft gedeckt, die ums goldene Kalb der Vollbeschäftigung tanzt und dabei fast jede Art von Kollateralschaden in Kauf nimmt.
An der Produktionsfront schlug man sich – wie schon im Ersten Weltkrieg – tapfer. Versagt hat die Generalität: von Hitler geschmiert und zum Komplizen im Handwerk des Völkermords gemacht, kämpfte sie ohne Rücksicht auf Mannschaften und Bevölkerung nur ums eigene nackte Überleben, was den Krieg sinnlos verlängerte. Kurz: ein Abgrund von Unprofessionalität, denn einem vernunftbegabten Schlachtenlenker sollte klar sein, wann ein Krieg verloren ist. Stauffenberg und mit ihm Teilen der mittleren Führungsebene der Wehrmacht ging es um Ehrenrettung, ein atavistisches Verlangen angesichts der Zeitumstände. Aber der Bundesrepublik lieferte er damit ein perfektes Feigenblatt zur Kaschierung der Kontinuität ihrer Geschichte mit Hitlers Reich.
„Hart wie...
„Hart wie Kruppstahl“
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@Der Mersch: „Heute werden Schützenpanzer produziert, morgen Marzipankartoffeln…“ Dieser Aussage kann man im Prinzip nicht widersprechen, doch bedeutet das mitnichten, dass das Kapital blind seiner Bestimmung folgt. Eben getrieben von der Notwendigkeit in jeder Situation zu überleben, sich zu reproduzieren, herrscht innerhalb der Klasse auch Klassenkampf. Nicht unwesentliche Teile der deutschen Industrie, besonders die die auf den Export ihrer Produkte in den damals brodelnden europäischen Osten angewiesen waren, waren ebenso wie die exportorientierten Teile der Landwirtschaft, völlig abhängig geworden von der „Eroberung des Ostens“, wie Hitler ihnen das versprach. Die Subventionspolitik, Nachtigall ick hör dir trapsen, führte nicht zum Erfolg, sondern nur zur Verarmung der deutschen Bauern (welche diese zur Hauptmacht Hitlers werden ließ) und zu nationalistischen Aufständen unter den Völkern des Ostens. Die bolschewistische Revolution brannte dem Kapital in den Eingeweiden. Und die Kemalistische (Konter-)Revolution in der Türkei änderte nichts an der Sympathie der meuternden Bauern und Arbeitern mit dem Bolschewismus. Im Balkan herrschte permanenter Bürgerkrieg, in Ungarn die Konterrevolution, in Griechenland die Korruption (!). Die Schwerindustrie, stellvertretend sei hier mal nur Krupp genannt, lieferte nicht nur das Stahl für die landwirtschaftlichen Maschinen (für den Osten), sondern eben auch und vor allem für die Waffen – gegen den Osten. Und sie lieferte den Geist, den ein Hitler so beseelte („Hart wie Kruppstahl“). Ergo: Das Kapital bleibt dabei nicht unschuldig, es macht sich schmutzig.
@Devin 08:
Sie haben...
@Devin 08:
Sie haben vollkommen Recht, natürlich gab es branchenspezifisch Interessensunterschiede in der deutschen Industrie, die sich auch ansatzweise in politischen Vorlieben äußerten. Und dass ihr summa summarum Hitler lieber war als Stalin, liegt einfach daran, dass Hiltler den linken Flügel seiner Partei amputierte und Stalin partout keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln dulden wollte. Rote Fahnen allein schrecken die Bosse nicht, siehe das heutige China. Bei der Eroberung des Ostens war mehr zu verdienen als bei den Kompensationsgeschäften mit einer verbündeten Sowjetunion.
Ihr Bild von der politischen Orientierung und der Interessen der deutschen Bauern gilt nicht für den Süden Deutschlands (von einzelnen „braunen“ Inseln abgesehen) und für vorwiegend katholische Gegenden. Die kruppstahlkernige Werbung für den „Wehrbauern“ im menschenleergeräumten Osten war für den Landmann im Westen vollkommen unattraktiv, entsprechend gering war der Zuspruch für die projektierte Zuweisung von Latifundien im eroberten Gebiet.
Das Kapital habe ich übrigens nicht für unschuldig erklärt, sondern für vollkommen blind in Fragen der Moral. Erklärt sich auch ganz gut aus der dualistischen Tradition des Westens, die sich in wandelnder Gestalt an Begriffen wie Zwei-Welten-Theorie, Zwei-Schwerter-Theorie und Zwei-Reiche-Lehre ablesen lässt, und die meines Erachtens die westliche Welt wohl auf allen Gebieten am nachhaltigsten geprägt hat.
Ein entfesselter Liberalismus aber ist selbstmörderisch für eine Gesellschaft, seltsam nur, dass dies immer wieder vergessen wird, während sich schon Adam Smith über diesen Punkt vollkommen im Klaren war.
Wohl eher ein...
Wohl eher ein Hinterwäldler
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@DerMersch: Auch wenn das jetzt vom eigentlichen Thema etwas abweicht, aber mich beschäftigt das auch aus persönlichen Gründen. Ich komme nämlich aus dem katholischen Bayern. Doch obwohl auch in dem Werk eines Ludwig Thoma Platz für Aufsässigkeit zu sein scheint, allerdings weniger der eigenen Obrigkeit gegenüber als der „fremden“, ist mein Favorit unter den bayrischen Literaten doch, sie dürften es ahnen, Oskar Maria Graf. Und genau dieser hat den katholischen Bauern, so liebevoll wie kritisch, beäugt wie beschrieben. Ja, ein Nazi will er nicht sein, der katholische Bauer, aber ein Menschenfreund ist er deswegen noch lange nicht. Ihm blieb der Nazi fremd, wohl auch, weil dieser sich antiklerikal schmückte, bzw. ganz offen den lokalen Machthaber okkupierte, und damit eines Gottes Ordnung auf den Kopf stellte. Der Schuldirektor, der Pfaffe, nicht selten der Arzt, auf jeden Fall aber der Polizist, nicht selten immer schon verhasste Fremde, das waren dann die wenigen lokalen Renegaten.
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Die Nazis waren diesbezüglich dennoch so wenig erfolgreich, denn auch ein Bürgermeister durfte den Stammtischen nicht den Respekt verweigern, und mal fürchteten sie, mal bewunderten sie diesen „keltischen“ Querkopf, sodass sie selbst den Graf, den Oskar Maria, lange schonten. Sie hofften ihn gar zu gewinnen, jenen Prototypen von einem bayrischen Anarchisten. Solange, bis dieser die Nazis endlich anflehte, ihn auch „zu verbrennen“.
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Ich vermute jetzt mehr als ich darüber was weiß, nämlich, dass die bayrischen Kleinbauern damals noch mehr Selbstversorger als Exporteure waren, somit auf den Handel in Richtung Osten nicht so angewiesen, bzw. sich diesen – den Großgrundbesitz jetzt mal ausnehmend – nicht leisten konnten. Und Bayern war ja zu dieser Zeit noch selber so was wie ein deutsches Entwicklungsland, ein deutscher Südosten quasi. Seit mehr als 1000 Jahren von Raubrittern beherrscht. Manche nannten sich auch „von und zu Guttenberg“.
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Die künstlich niedrig gehaltenen Milchpreise, wohl zugunsten eines notorisch unterernährten Proletariats, dürften aber auch diesen Schaden zugefügt haben, und somit den Hass geschürt auf die „preußischen Sozialisten“. Und dass die Nazis sich frech Nationalsozialisten nannten, dürfte die Verachtung noch gesteigert haben. Der Erfolg eines Franz Josef Strauß in Bayern, lange nach dem Krieg, ist jedenfalls in der Hauptsache dieser (dann durch Strauß demagisch genutzten) Gleichsetzung von Rot und Braun geschuldet. Dennoch: Eier, Käse und Butter waren in Bayern immer schon so teuer, dass gerade die armen Bauern, welche die bayrische Masse repräsentierten, solche Kostbarkeiten in die Städte lieferten, als selber zu verzehren. Auf den Märkten dort begegneten ihnen aber weniger der Proletarier als der städtische Bourgeois, der ihnen ihre Produkte billigst abhandelte. So nichtsahnend ein bisschen sozialistisches Bewusstsein nebenbei auch in diese sture Köpfe pflanzend. So zumindest berichtete man mir bzgl. meiner Oma, väterlicherseits, die täglich Eier und Butter (für Käse war der Hof zu klein) – auf dem Kopf tragend, 11 Kilometer weiter – ins hessische Gelnhausen exportiert habe. Und die viel weltoffener gewesen sein soll als zum Beispiel der Opa. Sie starb auch erst nach ihm, obwohl er sie nie geschont hatte. Bildung scheint doch der Gesundheit zuträglicher zu sein als der fette Schinken den mein Opa, diesbezüglich privilegiert, allzu gerne genoss. Die Leute werden dort nicht sonderlich alt, vor allem nicht die Männer.
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Doch als die Nazis den Bauern die ersten russischen Kriegsgefangenen andienten, verloren die wohl ihre Zurückhaltung. Meine Mutter, die selber Tochter auf einem nicht gerade kleinen Bauernhof war (hauptsächlich lebte man dort aber von der Schmiede), wusste mir von den geradezu kannibalischen Exzessen auf den Höfen zu berichten.
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Sie wären wohl verhungert, diese armen Geschöpfe, wenn sie sich nicht mit den Schweinen um die Gemüseabfälle hätten streiten dürfen. Allerdings schwört meine Mutter, dass i h r e Kriegsgefangenen anständig behandelt worden seien, angeblich wegen des Altruismus ihrer Großmutter, bzw. des ihres Vaters (den Vater beschrieb sie mir quasi als Philosophen, den das Schmiedehandwerk wohl zugrunde gerichtet hat, und der daher als Kriegsuntauglicher zuhause bleiben durfte – und seinen Kriegsgefangenen das Überleben sichern). Ich kann es nicht widerlegen. Ich glaube aber, dass das Schmiedehandwerk, wozu diese Gefangenen auch herangezogen wurden, wirklich ein zu hartes Handwerk war, sodass man diesen Sklaven einfach was zu essen geben musste. Und den einfachen Leuten dort dürfte die industriemäßige Vernichtung von Menschen durch die Kombination von Arbeit und Hunger doch unbekannt gewesen sein. Dazu fehlte ihnen auch die Phantasie. Doch all das macht noch lange keinen Antinazi, denn wohl eher einen Hinterwäldler.
Zu einer Passage im Kommentar...
Zu einer Passage im Kommentar von Der Mersch
„An die Adresse des Bloggers gerichtet frage ich nach bei einem Satz, der sich in seiner Unklarheit deutlich abhebt von allen anderen des ausgezeichneten Beitrags: „Die Rede von Siegern und Besiegten ist überdies gar nicht selbstverständlich; in auf Konsens und Kompromiß angelegten Institutionen und Konstellationen kann man sie semantisch ganz zum Verschwinden bringen, wie jetzt gerade wieder in den Verhandlungen der diversen europäischen Gremien zu sehen ist.“ Dieser Satz ist mir völlig unverständlich. Wer wäre in gegebener Konstellation als „Sieger“, wer als „Besiegter“ zu bezeichnen?“
Man kann Entscheidungen zwischen mindestens zwei ‚Parteien‘ sehr unterschiedlich inszenieren oder eben auch camouflieren. Das eine Extrem ist das Duell, die äußerste Zuspitzung – er oder ich. Auf der anderen Seite der Skala die von mir skizzierte Situation: Draghis Bazooka wird von einem Verantwortlichen in der politischen Klasse nie als Sieg der Italiener, Greichen etc., also als Niederlage der Deutschen bezeichnet werden, sondern als weiterer konsensualer Schritt in einem irreversiblen Prozeß usw. usf. Die Duellschlagzeilen dazu produzieren hingegen Zeitungen und nicht in der Verantwortung stehende Politiker.
Vielen Dank für die...
Vielen Dank für die Erläuterung! Nun ist es mir klar.
Sind Sie sicher, dass in Fragen der Währungsunion Sieger und Besiegte so klar voneinander zu scheiden sind? Ich bin es nicht.
Anders als seriöse Historiker, die sich des Vorläufigen ihrer Aussagen in der Regel bewusst sind, neigen Volkswirte dazu, ihre Theoriegebäude in der Art von Glaubenssätzen zu formulieren und folglich Anathema auszurufen. Das ist wenig sachdienlich, verhilft aber dazu, Laien und politische Entscheidungsträger zu beeinflussen.
Nein, sicher sein kann da im...
Nein, sicher sein kann da im Moment niemand; es ging mir nur um die Inszenierung oder eben Nicht-Inszenierung des Sieges oder der Niederlage. Ob es später klarer sein wird, muß sich zeigen. In der Tat wissen Historiker sehr gut: Voraussagen sind schwierig, besonders wenn Sie die Zukunft betreffen.
Über die Frage nach Platon in...
Über die Frage nach Platon in Syrakus (Atlantis?!) bin ich u.a. auf den Bruder von Stauffenberg gestoßen, der ein Werk über die Griechen auf Sizilien verfasst hat, und auch auf das Büchlein „Plato und Dionys“ des Philosophen Ludwig Marcuse und damit auf diesen selbst und seine unbequemen Anfragen an vielgefeierte Denker. Schon seltsam, dass solche Leute und Werke vergessen werden, und statt dessen ganz andere Charaktere und Machwerke die Bühne betreten.
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Manche Sieger schreiben die Geschichte, indem sie nichts schreiben.
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Der Marxismus jedenfalls scheint sich nicht zu den Besiegten zu zählen, denn wenn ich mich hier im Kommentarbereich so umschaue, so sehe ich von marxistischer Seite keine Differenzierung, Einsicht und Kritikfähigkeit, die laut Blog-Artikel (Koselleck) ja angeblich gerade beim Besiegten zu entstehen pflegt. Da wird dann undifferenziert auf Stauffenberg & Co. eingedroschen und klüglich theoretisch geschwafelt, wie wenn kein einziger Mensch unter kommunistischem Zwingjoch elendiglich verreckt wäre. So reden Sieger.
@thorwald_franke:
Danke für...
@thorwald_franke:
Danke für den Hinweis auf Ludwig Marcuse, dessen Werk in der Tat größere Beachtung verdiente!
Das Wort „Machwerk“ missfällt mir jedoch sehr. Es erinnert an Lenin, dessen literarische Hauptbeschäftigung im Anschreiben gegen tatsächliche und eingebildete Feinde bestand, die entsprechend verbal herabgewürdigt wurden, bevor es ihnen dann auch noch im buchstäblichen Sinne an den Kragen ging. Es fehlt dessen Schriften – wie übrigens auch denen Mao Zedongs – an Weisheit selbst in homöopathischster Dosierung. Die Philosophen, die Marcuse kritisiert, haben durchaus ein Werk hinterlassen und es steht jedem frei, dieses Werk zu schätzen, zu kritisieren oder auch in Bausch und Bogen abzulehnen, ein Werk bleibt es dennoch.
Mit der Frage nach dem „Weiter-so-Denken oder Umdenken“ der Marxisten greifen Sie einen interessanten Aspekt auf, der auf das Thema des Blogbeitrags ein neues Licht wirft, und der auch mich seit Langem beschäftigt, auch wenn ich gar nicht mit einem „mea culpa“ desillusionierter Marxisten gerechnet hätte. Das widerspräche meines Erachtens auch der Natur des Menschen, was ganz klar wird, wenn wir einmal n i c h t die Funktionsträger des Dritten Reiches betrachten, die wohl überwiegend reine Opportunisten gewesen sind, sondern sogenannte „Meisterdenker“ vom Schlage eines Heideggers oder Carl Schmitts. Die haben post festum das Dritte Reich und ihre Rolle darin zu rechtfertigen versucht oder beschwiegen (selbst das mit Spannung erwartete, posthum veröffentlichte Interview Heideggers mit Rudolf Augstein hat nichts Klärendes zu diesem Fragenkomplex beigetragen). Ich wüsste nicht, was eingefleischte Marxisten dazu bewegen sollte, sich in dieser Frage anders zu benehmen.
Koselleck geht es in meinen Augen eher darum, die Erkenntnismöglichkeiten des Epochenbruchs für den Historiker aufzuzeigen, der aus der Bahn des Chronisten des Erwarteten und Etablierten – gewissermaßen des Hofberichterstatters – geworfen wurde. Und hier gibt es für den von den Zeitläuften gezeichneten Historiker tatsächlich einiges in neuem Lichte zu betrachten, auch wenn es für den institutionell eingebundenen Akademiker naturgemäß nicht leicht ist, aus den althergebrachten Denkkategorien und liebgewonnenen Ideologien auszubrechen.
In der Logik des Kalten Krieges lässt sich durchaus von Siegern und Besiegten des Jahres 1989 sprechen, und Moskau und Washington mögen das wohl so empfunden haben, für Europa ließen sich die Fragen, die die neue Zeit stellten, aber nicht im Rahmen einer Kriegsrhetorik schlüssig beantworten. Dass wir noch heute, im Jahre 22 der Eingemeindung der DDR, einen „Solidaritätszuschlag“ zu entrichten haben, mag ein Hinweis auf die Komplexität der Ereignisse sein, die sich nun einmal nicht im Bilde eines Frontverlaufs fassen lassen.
Eine der großen Enttäuschungen meines Lebens auf politischem Gebiet war die Erkenntnis, dass Bush Vater in das Triumphgeheul einstimmte und Amerikas Vormachtstellung als Sieger des Kalten Krieges zu zementieren gedachte, anstatt die friedliche Lösung des Ost-West-Konflikts dazu zu nutzen, die Weltgemeinschaft bei der Lösung der drängsten internationalen Fragen anzuleiten und die freigewordenen Ressourcen zur Bewältigung der Existenzfragen der Menschheit zu verwenden. Hier hätte eine ehrliche Pax Americana tatsächlich Wunder wirken können. Die nächste Enttäuschung meines auch 2008 noch immer naiven politischen Denkens war dann die Regentschaft von Barack Obama.