Nochmals die Gescheiterten und Besiegten, als Supplement zum vorigen Eintrag. Für einen Vortrag im Rahmen einer Lehrerfortbildung war vor ein paar Wochen über Livius zu sprechen. Die ersten zehn Bücher von Ab urbe condita sind demnächst Gegenstand des Lateinabiturs in Niedersachsen. Suche nach einem Einstieg in den Vortrag. Beliebt ist die Rezeptionsgeschichte, um die Bedeutung des Gegenstandes herauszustreichen. Aber die Zeit, als aus Livius Funken für die eigene Gegenwart geschlagen wurden, liegen schon lange zurück: Machiavellis Herrschaftslehre und der Republikanismus der Französischen Revolution. Es müßte also viel erläutert und ein Kontext hergestellt werden; Demonstration durch ein Explanandum sozusagen, nicht sehr attraktiv. Oder man hebt die Superlative des livianischen Werkes hervor: ein Mammutwerk, dessen Autor jedes Jahr im Schnitt drei lange Buchrollen vollgeschrieben haben muß und das die gesamte ältere Tradition im doppelten Sinne in sich aufhob – als Synthese und als Grund, die Vorgänger zu vergessen. Aber die amplificatio wirkt auch irgendwie schal.
Ich entschließe mich zu einer Irritation der gängigen Vorstellung, anknüpfend an die auch hier schon einmal skizzierte Frage, ob Niederlage und bessere historische Erkenntnis miteinander korrelieren. Reinhart Koselleck hat Herodot, Thukydides und Polybios genannt, die der Historiographie (auch) deshalb neue Dimensionen erschließen konnten, weil ihnen als Exilierten ein Perspektivwechsel und ein audiatur et altera pars nahegelegt wurden. Auch die Römer Sallust und Tacitus lassen sich gedanklich dieser Gruppe zuordnen: Zwar gehörten beide äußerlich zu den Etablierten – Sallust nach Caesars Ermordung als schwerreicher, politisch offenbar ungefährdeter Privatier, Tacitus gar als gewesener Konsul und Mitglied der politischen Elite. Aber beide pflegten einen oppositionellen Gestus; ihre Historiographie hatte gegenüber den Zeitläuften und der Entwicklung, die Rom genommen hatte, einen anklagenden, ja denuntiatorischen Ton; sie gaben sich geistig zerfallen mit den Verhältnissen, in denen es ihnen persönlich gutging. Livius wird von Koselleck nicht erwähnt, wohl weil er vollends als Etablierter gilt. Etwas jünger als Augustus (geb. wohl 59, dem Jahr von Caesars Konsulat), aus einer wohlhabenden munizipalen Familie in Padua stammend, damit Nutznießer der Wiederherstellung der res publica seit 30 v.Chr., zuvor von der schrecklichen Triumviratszeit (43-32) – anders als etwa Vergil – offenbar nicht betroffen, unternimmt er es, noch einmal die gesamte Geschichte Roms seit den Anfängen zu erzählen und bis in die eigene Zeit zu führen. Ohne politischen Ehrgeiz und in gesicherten Verhältnissen lebend, begleitet von Wohlwollen und Bewunderung, beginnt er mit Ende zwanzig – wohl noch vor der Schlacht von Actium (31 v.Chr.) – mit dem Werk und schreibt, so hat man ausgerechnet, jedes Jahr etwa drei Bücher nieder. Livius stirbt wohl 17 n.Chr., drei Jahre nach Augustus. War Livius also ein ‘offiziöser‘ Geschichtsschreiber? Ronald Syme hat ihn in seinem berühmten Buch The Roman Revolution (1939) so gezeichnet: „Wie die andere von der Regierung geförderte Literatur war auch das Geschichtswerk des Livius patriotisch, moralisierend und erzieherisch. (…) (D)ie Historie … konnte dazu verwandt werden, um – wie die Dichtkunst – das Andenken alter Tapferkeit zu ehren, den Stolz der Nation wieder zu heben und kommende Generationen zu bürgerlicher Tugend zu erziehen. (…) Vergil, Horaz und Livius sind der dauernde Ruhm des Prinzipats. Alle drei verkehrten mit Augustus in einer Art persönlicher Freundschaft. Die Klasse, der sie angehörten, hatte von der Neuen Ordnung alles zu gewinnen.“ Doch wie immer in einer komplexen Wirklichkeit finden sich auch in einem komplexen Geschichtswerk wie dem livianischen Passagen, die den Befund zu konterkarieren scheinen. Es folgt ein solches Beispiel – der Einstieg ist gefunden, das Interesse der Zuhörer/innen (hoffentlich) geweckt.
Die Koselleck’sche Frage nach Siegern, Besiegten und Historikern ist auch Gegenstand eines Aufsatzes von Marian Nebelin, erschienen in einem Sammelband, der epochenübergreifend Eliten nach dem Machtverlust oder nach anderen einschneidenden Umwälzungen behandelt. Es gibt Studien zu Thersites in der Ilias, zu Macht und Legitimation im frühen Hellenismus und zur (Ohn-)Macht spätantiker Hofeliten, außerdem eine Reihe von Studien zu sehr speziellen, meist randständigen Fällen in der Moderne und der Gegenwart, darunter zu Carl Schmitt.
Der Autor geht in dem genannten Aufsatz von dem Bericht aus, den Livius von der Eroberung Roms durch Gallier Anfang des 4. Jahrhunderts v.Chr. gibt. Aus diesem Zusammenhang stammt das bekannte Vae victis / „Wehe den Besiegten!“ – ein frühes Zeugnis des Nachdenkens über das Verhältnis von Siegern und Unterlegenen. Die römische Pointe: Aus den victi wurden victuri, und von Anfang an (denn die Kelten hatten keine Geschichtsschreibung) bestimmte eine Seite allein die Erinnerung an das römisch-gallische Verhältnis. Der Sieger schreibt die Geschichte – das war auch die Überzeugung Walter Benjamins, dem Nebelin schon ein ganzes Buch gewidmet hat. Es ist dies aber auch das verdruckste Credo von ‘rechten‘ Geschichtsrevisionisten, die ihr Bild etwa von der Auslösung des 2. Weltkriegs in der Historiographie der Sieger und der angepaßten Besiegten nicht wiederfinden und sich als Opfer eines Macht- und Gedächtnisdiktatkartells stilisieren. Man sieht: Das Gefechtsfeld birgt Fallen.
Nebelin ist umsichtig und fragt zunächst nach den Begriffen. Was bedeutet eigentlich ‘Besiegtsein‘ und ‘Gescheitertsein‘? Sofern der Zustand nicht absolut gemeint, der Unterlegene also nicht tot ist, gibt es viele Optionen: Revanche, erfolgreiches Einrichten in neuen Verhältnissen, Kampf um die Deutungsmacht. Die Rede von Siegern und Besiegten ist überdies gar nicht selbstverständlich; in auf Konsens und Kompromiß angelegten Institutionen und Konstellationen kann man sie semantisch ganz zum Verschwinden bringen, wie jetzt gerade wieder in den Verhandlungen der diversen europäischen Gremien zu sehen ist. Ja, eine Konzeptualisierung der Welt, wie sie von Herodots Hellenen-Barbaren-Dichotomie bis hin zu Carl Schmitts Freund-Feind-Unterscheidung ganz selbstverständlich erschien (und das Denken von Marx wie von Nietzsche prägte), ist grundsätzlich stark unter Verdacht gekommen, Konflikte erst auszulösen oder mindestens zu verlängern.
Doch Benjamin würde den Kompromiß, ins Gedächtnis umgeprägt, wahrscheinlich als ein Instrument des Stärkeren, den es doch immer gebe, ablehnen. Er schreibt dem Historiker vielmehr die Aufgabe zu, den toten Besiegten eine Stimme zu verleihen. Man kann das auch aus der Konfliktsituation, in der es formuliert wurde – die drohende Überwältigung ganz Europas durch den Nationalsozialismus -, herauslösen und anthropologisch universalisieren: Alle Toten, alle vergangenen Generationen gehören zu den Besiegten, denn was sie taten und schufen, mußte notwendig in der einen oder anderen Weise überwunden, abgetan, reformiert, überholt und vor allem: einer Deutung unterworfen werden, die nicht die ihre, sondern die der Nachgeborenen (also auch: unsere) ist und gegen die sie selbst sich nicht wehren können. Hierin liegt eine tiefe Weisheit von Rankes Wort, jede Epoche sei unmittelbar zu Gott – in ihm ist sie besser aufgehoben als in der Relation zu ‘uns‘.
Doch ich schweife ab. Nebelin rekonstruiert Benjamins Argument in diesem Punkt: Markant sei dessen „Betonung der Bedeutung des ‘Augenblickes‘, in dem in der ‘Jetztzeit‘ das ‘Kontinuum der Geschichte‘ aufgesprengt werden soll. Dahinter verbirgt sich zunächst ein Impuls der Kritik: Benjamin wandte sich gleichzeitig gegen eine auf einem technizistischen Fortschrittsdenken beruhende Vorstellung von geschichtlicher Kontinuität und gegen den Konformismus, den er ja mit dem historistischen Konzept einer identifikatorischen ‘Einfühlung in die Sieger‘ verbunden hatte. Zum anderen versuchte Benjamin, Perspektive und methodische Zugriffsweise der Historiographie der Besiegten zu umreißen. Auch diese soll an eine sich in einem besonderen Augenblick eröffnende ‘Chance‘ gebunden sein; der benjaminsche Historiker muss ‘das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens‘ erkennen. (…) In der sog. These B aus den Thesen Über den Begriff der Geschichte gebrauchte er dafür das dem Judentum entlehnte Bild, jede Gegenwart sei ‘die kleine Pforte, durch die der Messias eintreten konnte‘, um seine Ansicht zu unterstreichen, dass in jedem Augenblick ein grundlegender Wandel der Verhältnisse eintreten könne.“
Koselleck verweist dagegen auf die Dimension der Kontingenz: Während die ‘Sieger‘ zu teleologisch ausgerichteten Meistererzählungen neigten („Es kam am Ende notwendig so, wie es im Entwicklungsprozeß angelegt war.“), haben Besiegte die authentische und „nicht austauschbare Urerfahrung aller Geschichten gemacht, daß sie anders zu verlaufen pflegen als von den Betroffenen intendiert“. Das schärft den Sinn für komplexe Ursachenanalysen.
Bleibt der Historiker selbst. Er kann unter günstigen Umständen eine dritte, unabhängige Position einnehmen. Etwa wie Thukydides Niederlage und Verdrängung zu erleben, aber doch materielle und politische Unabhängigkeit zu besitzen – und dazu die Kraft der überzeugenden Rede, der zugehört wird. Oder wie Tacitus sozial zu den Siegern gehören, ohne sich und anderen jedoch über die Voraussetzungen und Kosten der neuen Verhältnisse Sand in die Augen zu streuen. Nebelin schließt (ziemlich optimistisch): „Letztlich ist Tacitus‘ Werk durchzogen von einer Kritik der zeitgenössischen Machtverhältnisse, an denen er selbst teilhatte, denen in bestimmten Punkten zu widersprechen jedoch die eigene Teilhabe zu gefährden bedeuten konnte. Tacitus‘ Lavieren belegt ebenso wie seine klaren Stellungnahmen in Bereichen fern der Tagespolitik, dass es Historikern offensichtlich nicht in erster Linie um Macht, sondern um Wahrheit und um Ästhetik geht. Erst über lange Sicht mögen diese beiden Eigenschaften einer historischen Erzählung wiederum jene Kraft zu verleihen, der auch die vormals Mächtigen nichts entgegenzusetzen haben; erst dann kann vielleicht sogar ein Thukydides-Faktor gegenüber einem Brennus-Faktor nachhaltig Wirkung entfalten. In dem Versuch, historiographisch zwischen diesen beiden perspektivischen wie erzählerischen Einflusspolen zu vermitteln, besteht die kritische Funktion der Geschichtswissenschaft, ihre gesellschaftliche Aufgabe, die sie nicht preisgeben darf, deren Einforderung aber gerade eine moderne demokratische Gesellschaft ihrerseits ebenso wenig aufgegeben darf wie die Ermöglichung ihrer Einlösung.“
Michael Meißner, Katarina Nebelin, Marian Nebelin (Hgg.), Eliten nach dem Machtverlust? Fallstudien zu Transformationen von Eliten in Krisenzeiten (= Impulse. Studien zu Geschichte, Politik und Gesellschaft, Bd. 3). Wissenschaftlicher Verlag, Berlin 2012, 323 S., kart., € 39,-
Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (= Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19). Herausgegeben von Gérard Raulet. Berlin 2010.