Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Letzter Eintrag: Beschneidung, ein Nachtrag

| 17 Lesermeinungen

Vielleicht habe ich unlängst nicht deutlich genug gemacht, was die Geschichte der Beschneidung im antiken Judentum für die aktuelle Debatte nun ‘positiv‘ bedeuten könnte. Eines sollte aber deutlich geworden sein: Eine simple Gegenüberstellung von Innen und Außen, Widerstand und Druck, die Juden und die Umwelt verfehlt die Komplexität der Dinge. Denn auch innerjüdisch gab es eben stark differierende Positionen und gab es zugleich Dynamiken, die von „außen“ stark beeinflußt waren – nach dem Makkabäeraufstand und der Bar-Kochbah-Katastrophe in die Richtung eines Festhaltens an der Säuglingsbeschneidung als einem Kern der Gesetzesobservanz und des Bundesgedankens. Es erscheint mir allerdings nicht geboten, von außen in einem solchen innerreligiösen und innerkulturellen Disput Partei zu ergreifen und etwa zu sagen, es sei besser, wenn sich eine bestimmte Richtung durchsetze, die zum Beispiel die Beschneidung aus der Perspektive einer kritischen Historisierung für nicht-essenziell hält – ein Argument, das sich bekanntlich auch gegen das Zölibat in der Katholischen Kirche oder gegen viele dominierende Ansichten im gegenwärtigen Islam in Anspruch nehmen ließe. Nietzsche hat in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben das Argument treffend zugespitzt (wenn auch wohl nicht in erster Linie mit Blick auf Religionen):

„Mit­unter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeit­weilige Ver­nich­tung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privile­giums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang ver­dient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg. (…) (Aber) da wir nun einmal die Resul­tate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verir­rungen, Leiden­schaften und Irrthümer, ja Ver­brechen; es ist nicht mög­lich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrun­gen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen. Wir bringen es im besten Falle zu einem Wider­streite der ererbten, angestammten Natur und unserer Erkenntniss, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von Alters her Angezogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich gleich­sam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stam­men möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt – immer ein gefährli­cher Ver­such, weil es so schwer ist eine Grenze im Ver­neinen des Ver­gangenen zu finden.“

Gegen einen solchen kritischen Umgang mit Geschichte ist an sich gar nichts zu sagen. Aber Aufklärung sollte meines Erachtens in erster Linie Selbstaufklärung sein. Gegenüber Anderen („Nun holt endlich unsere Aufklärung nach!“) wirkt sie leicht pharisäerhaft.

Allerdings bietet der innerjüdische Beschneidungsdiskurs nun in der Tat interessante Varianten. Eine fand ich in den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus, die in der Übersetzung von Heinrich Clementz im Marixverlag wieder preiswert greifbar sind. Josephus berichtet (20,2,1ff.) von Izates, im 1. Jahrhundert n.Chr. Herrscher in der Adiabene (um die Stadt Arbela in Assyrien). Dieser neigte zusammen mit seiner Mutter Helena dem Judentum zu. Josephus berichtet:

„Sobald Izates erfuhr, wie sehr seine Mutter den jüdischen Gebräuchen zugetan sei, wollte auch er selbst sich vollständig dazu bekennen, und da er sich für keinen rechten und vollkommenen Juden hielt, wenn er sich nicht beschneiden ließe, war er auch hierzu bereit. Seine Mutter aber, der dies zu Ohren kam, suchte ihn von seinem Vorhaben abzubringen, indem sie ihm zu bedenken gab, in wie große Gefahr er dadurch geraten würde. Es müsse ja bei seinen Untertanen lebhaften Unwillen erregen, wenn sie vernähmen, daß er sich zu fremden und ihnen ganz widerwärtigen Gebräuchen beken­ne, und sie würden gewiß nicht zugeben, daß ein echter Jude über sie herrsche. Durch solche Vorstellungen suchte sie ihm seine Absicht zu verlei­den. Izates aber teilte ihre Äußerungen dem Ananias (einem jüdischen Kaufmann und lt. Jos. Werber für das Judentum – ‘Proselytenmacher‘ – U.W.) mit, der wider Erwarten die Ansicht der Helena billigte und ihm zugleich ankündigte, er werde seinen Hof verlassen, wenn er nicht gehorche. Er, Ananias, müsse ja selbst Gefahr für sein Leben befürchten, wenn die Sache in die Öffentlichkeit käme, weil man ihm dann gleich den Vorwurf machen würde, den König dazu verleitet und ihn in solchen, ihm so wenig anstehenden Dingen unter­wiesen zu haben. Izates, fuhr er fort, könne Gott auch ohne Beschneidung verehren, wenn er nur die gottesdienstlichen Gebräuche der Juden befol­gen wolle, die viel wichtiger als die Beschneidung seien. Dann fügte er noch hinzu, Gott selbst werde ihm wohl gern nachsehen, daß er von der Be­schneidung Abstand nehme, weil er sich in einer Zwangslage befinde und Rücksicht auf seine Untertanen nehmen müsse. Durch diese Worte ließ der König sich einstweilen bereden. Einige Zeit nachher aber machte ein aus Galiläa gekommener Jude mit Namen Eleazar, der für besonders gesetzes­kundig galt, sein Verlangen nach der Beschneidung wieder rege. Als dieser nämlich beim Könige Einlaß erlangt hatte und ihn bei der Lesung des moysaischen Gesetzes antraf, sprach er zu ihm: »Du weißt nicht, o König, wie sehr du dich gegen das Gesetz und demnach auch gegen Gott verfehlst. Es ist nämlich nicht genug, das Gesetz zu lesen, sondern du mußt auch alle seine Vorschriften befolgen. Wie lange willst du denn noch ohne Beschneidung bleiben? Hast du die Bestimmungen über dieselbe noch nicht gele­sen, so tu das gleich, damit du einsiehst, wie weit du noch von wahrer Fröm­migkeit entfernt bist.« Als der König ihn so reden hörte, war er sogleich entschlossen, nicht länger zu säumen. Er begab sich daher in ein anderes Gemach und ließ durch einen Arzt die Vorschrift des Gesetzes an sich voll­ziehen, worauf er seine Mutter und seinen Lehrer Ananias rufen ließ und ihnen mitteilte, was er getan habe. Diese ängstigten sich hierüber beide nicht wenig und fürchteten, der König möchte, sobald die Sache ruchbar würde, Gefahr laufen, seinen Thron zu verlieren, weil die Untertanen gewiß keinen Herrscher über sich dulden würden, der ausländische Sitten angenommen habe. Obendrein beschlich sie auch noch die Besorgnis, sie möchten als der Urheberschaft verdächtig in gleiche Gefahr geraten. Gott aber ließ ihre Befürchtungen sich nicht verwirklichen. Denn aus all den Gefahren, in denen Izates schwebte, rettete er ihn und seine Kinder, indem er ihnen, als sie schon fast verzweifelten, den Weg zum Heile wies und ihnen zeigte, daß die, welche zu Gott aufschauen und auf ihn allein ihr Vertrauen setzen, den Lohn ihrer Frömmigkeit sicher erwarten dürfen. Doch hiervon später.“

Differenzen in der Auslegung des Gesetzes in einer so zentralen Frage, Beschneidung durch einen Arzt – die innerjüdische Diskussion könnte noch spannend werden.

 

postscriptum in eigener Sache: Dies ist der 244. und zugleich letzte Eintrag an dieser Stelle. Die Redaktion hat mich soeben informiert, daß „Antike und Abendland“ zum Monatsende eingestellt wird.


17 Lesermeinungen

  1. Helcaraxe sagt:

    Sehr geehrter Herr Walter,
    als...

    Sehr geehrter Herr Walter,
    als stiller Mitleser über mehrere Jahre darf ich Ihnen an dieser Stelle mein Beileid ausdrücken. Diese Entscheidung der Redaktion ist offenbar nur ein weiterer Schritt auf dem Weg der FAZ weg vom Qualitätsjournalismus. Wieso wundert mich das nicht? Bei keiner Zeitung (und ihrem Onlineangebot) hat der Verlust der Qualität in den letzten Jahren so viel System angenommen, wie bei der FAZ. Politische Ignoranz und der fehlende Mut, gegen den Zeitgeist zu schwimmen, hat aus dem einstigen Flaggschiff der deutschen Medienlandschaft ein Durchschnittsblatt werden lassen. Statt Meinungsbildung zu betreiben wird überwiegend nur noch politische Mainstreaminformation produziert und verkauft – der Journalismus in Deutschland hat sich zum Gefangenen der politischen (Un)kultur in Deutschland gemacht. Dass der Entscheid der Redaktion sich nicht einmal mehr ein Feigenblatt abendländischer Kultur (oder freundlicher ausgedrückt: eine Nische) leisten zu wollen, gerade jetzt kommt, dürfte angesichts Ihrer Diskussionsbeiträge kein Zufall sein. Es ist mehr als schade. Es ist eine Schande. Im Übrigen ist es nicht das erste Mal: Auch der sehr lesenswerte Blog „Zur Sicherheit“ wurde ohne weitere Kommentare zuerst eingestellt und dann komplett aus dem Netz gelöscht. Kritische Geister sind bei der FAZ wohl nicht mehr gefragt. Es wundert einen nicht.
    Mit freundlichen Grüßen, Ihr M. S.

  2. Vielen Dank, Herr Walter, für...
    Vielen Dank, Herr Walter, für all Ihre Arbeit an diesem Blog: Er war immer wieder eine Überraschung, was Sie zutage gefördert haben, und eine Herausforderung, sich mit Niveau mit diesem oder jenem zu befassen. Für einen Blog war es absolute Spitzenklasse.
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    Leider scheint es zu wenige Freunde der Antike zu geben, die sich um diesen Blog hätten versammeln können. Vielleicht aber war der Blog auch einfach zu unbekannt. Die Bionade- und Zeitgeist-Blogs der FAZ laufen ohne Frage besser. Aber Klugheit, Maß etc. findet man dort nicht, sondern ein Tempo, das jeden vernünftigen Gedanken auf der Strecke bleiben lässt. Diese Beschneidung meines Intellekts tue ich mir nicht an.
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    Ein nächster Versuch müsste mehr Vernetzung mit der Internet-Sphäre zur Antike pflegen, die Leser aktiver einbinden, und über Kanäle gehen, die breiter sind als die FAZ Blog-Schiene. Eher ein Blog mit einem Portal, als „nur“ ein Blog, getragen von allen möglichen in der Antike aktiven Internet-Seiten. Vielleicht auch eine Staffelung des Tiefgangs, je nach Gusto der Leser, in Haupt- und Vertiefungsartikeln. Das mit dem Bilderverbot war auch unglücklich. — Ein solches Blog-Portal kann natürlich keiner alleine machen.
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    Jedenfalls bleibt auch von diesem Blog etwas, keine Frage. Es ist gar nicht absehbar, wohin all die Anregungen noch führen werden. Letzte Wasserstandsmeldung: Ich bin in Gomperz Band II Mitte angelangt (Platons Symposion). Interessant zu sehen, wie man Platons Mythen und Gleichnisse um 1900 einschätzte. Und die wissenschaftliche Meinung ist ja bis heute keineswegs auf einen gemeinsamen Nenner konvergiert. Das kann sie auch gar nicht, weil hinter fast jeder Platon-Interpretation die Sekundärmotivation einer gewissen geisteswissenschaftlichen „Mafia“ steht. Davon muss man sich lösen. Und dann kommt man auch zu Ergebnissen, die sich sehen lassen können.
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    Alternative Antike-Blogs u.a. bei KIRKE (alles natürlich kein Vergleich):
    https://www.kirke.hu-berlin.de/ressourc/blogs.html
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    Dieser Blog erscheint interessant, soeben erst entdeckt:
    „Altertum im Cyberspace“ https://blog.computus-druck.com/category/archaologie/

  3. erichnabokov sagt:

    Das ist extrem schade. Ihre...
    Das ist extrem schade. Ihre Beiträge waren mir immer eine wohltuende Oase im Einerlei des wichtigtuerisch aufbereiteten Polit-Nonsense. Ich erinnere mich an einen Beitrag, in dem Sie in Ihrem sachlich-dichten Stil die Aussage eines bedeutungslosen Politkers zu „spätrömischer Dekadenz“ mit den historischen Fakten in Beziehung gesetzt haben, während in einem anderen Blog das gleiche Thema im Sinne einer trash-talkshow in Schriftform ausgeschlachtet wurde. Dabei ist mir klargeworden, wo die reine Werbefinanzierung hinführt. Die „content-Lieferanten“ schreiben bewußt einseitig polarisierend, um so clicks und Kommentare zu generieren. Eine in sich geschlossene, wohlausgewogene Darstellung, die man hochkonzentriert ließt und danach vielleicht im guten Sinne so geistig gesättigt ist, dass man lieber für sich im Stillen weiterdenkt, anstatt sich durch die eitle Geschwätzigkeit zu klicken, sorgt einfach nicht für genügend „traffic“. Ich hoffe, Sie bleiben wenigstens als FAZ-Autor für archäologische Themen erhalten. Ansonsten gibt es ja nur Dieter Bartetzko, der hin und wieder in schöner Sprache über ärchäologische Ausstellungen oder Pompeji/Herkulaneum berichtet.

  4. nutrix sagt:

    Kein Verständnis für eine...
    Kein Verständnis für eine derartige Maßnahme „von oben herab“!
    Eine spricht hier für 10 000 und übt
    Widerstand: Wir wollen weiter Urs Walters Freimütigkeit gewürdigt wissen,
    eine Fülle von anregenden Hinweisen à la Walter lesen!

  5. Schade. Aber vielen Dank aus...
    Schade. Aber vielen Dank aus Dänemark Herr Walter. Ich habe mich über ihre Einträge sehr gefreut. Vielen Glückwunsch für die Zukunft!

  6. nutrix sagt:

    Uwe Walter - bleibe...
    Uwe Walter – bleibe selbstverständlich!

  7. mikerol sagt:

    Schoenmit diesem historischen...
    Schoenmit diesem historischen Hintergrund bekanntschaft zu machen, auch an dem Nietzche Zitat ist nichts auszusetzen, aber medizisch gibt es Fortschrittleres
    Die Tabuisierung jeglichen Vergleichs von männlicher mit weiblicher Genitalverstümmelung ist der große Skandal der Debatte. In beiden Fällen wird der empfindsamste und erogenste Teil des menschlichen Körpers amputiert oder schwer beschädigt. In beiden Fällen geht es in erster Linie um die Beschneidung menschlicher Sexualität.
    https://evidentist.wordpress.com/2012/09/11/beschneidung-ignoranz-und-sexismus/
    Auch sollten andere Juedischen Ansichten nicht in Vergessenheit geraten
    https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/article108847257/Die-Vorhaut-des-Herzens.html

  8. harrismc sagt:

    "Gegenüber Anderen („Nun...
    „Gegenüber Anderen („Nun holt endlich unsere Aufklärung nach!“) wirkt sie leicht pharisäerhaft“
    Sweet lord! Sie schreiben für ein Millionenpublikum

  9. Kalchas sagt:

    Auch das noch an diesem...
    Auch das noch an diesem nebeligen Mittwoch! Aber hinter diesen ganzen Wolken leuchtet der Stern der Antike, und er wird niemals untergehen. Im Ernst, Ihre Artikel haben mich erfreut, ich habe viel aus ihnen gelernt und bin zu eigenem Lesen und Nachdenken angeregt worden. Wie hieß es früher:>>Dahinter steckt immer ein kluger Kopf.<< Die Märkte fordern jetzt anscheinend anderes. Vale K'

  10. Savall sagt:

    Lieber Herr Walter,

    auch von...
    Lieber Herr Walter,
    auch von mir vielen Dank für die erhellenden Beiträge. Es ist so selten, daß die Wissenschaft unterhaltsam und im besten Sinne belehrend wirkt. Ich verstehe nicht, was derzeit bei der FAZ los ist. Torschlußpanik, Ahnungslosigkeit, Inkompetenz? I’m not amused.
    Es wäre sehr erfreulich, wenn Sie das Blog an anderer Stelle weiterführen könnten, Herr Walter. Vielleicht Blogspot oder Blogger.de oder etwas ähnliches? Es würde mich sehr freuen.

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