Aufbruchstimmung sieht anders aus. Mit Yoshihiko Noda, dem früheren Finanzminister, hat Japan in dieser Woche wieder einmal einen neuen Regierungschef bekommen – den sechsten in fünf Jahren. „Na und”, sagen viele Japaner. „Es ändert sich ja doch nichts.” Und doch gibt es eine unterschwellige Hoffnung. Wird vielleicht doch alles besser? Wagt Japan endlich entschlossen die Reformen, über die in Tokio seit nahezu 20 Jahren geredet wird? Miwa Sato, 24 Jahre alt, Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft, lacht. „Von unseren Politikern erwarte ich gar nichts”, sagt die junge Frau. Kazuo Tsuboi, ein Informatiker, gibt sich ebenfalls pessimistisch. „Noda ist im Frühjahr 2012 wieder weg” sagt er. „Hier ändert sich nichts. Japan ist auf dem absteigenden Ast.” Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Japaner mindestens genauso verdrossen ist mit der japanischen Politik wie Miwa oder Kazuo. „Das größte Problem für den Aufschwung der japanischen Wirtschaft ist die politische Klasse in Tokio”, das sagen auch die meisten Analysten in Tokio – und das nicht nur in vertraulicher Runde beim Bier.
Dabei wissen Japans Politiker eigentlich, was sie ändern müssten. Wo die Probleme des Landes liegen, das trotz aller Probleme immer noch eine der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt ist, ist in klugen wissenschaftlichen Anhandlungen schon oft dargelegt worden. Das Land muss sich stärker dem Wettbewerb öffnen. Es muss den Weg in den Schuldenstaat stoppen – mit mehr als dem Doppelten seiner jährlichen Wirtschaftsleistung ist Japan bereits verschuldet. Das Bildungssystem hat Schwächen, selbst an den Universitäten sprechen junge Japaner kaum Fremdsprachen. Der Arbeitsmarkt ist gespalten; einem überregulierten Arbeitsmarkt für die Gewinner, der lebenslange Beschäftigung ohne Risiko verheißt, stehen immer mehr Verlierer gegenüber, die kaum von ihrer Arbeit leben können. Die japanische Gesellschaft altert schneller als jede andere in der Welt, gleichzeitig zerfallen die alten Familienstrukturen. Die Industrie steht unter wachsendem Wettbewerbsdruck ihrer Konkurrenten – vor allem aus den Nachbarländern Südkorea und Taiwan. Der starke Yen schwächt zudem die japanische Exportindustrie. Die Liste der Themen ist lang, mit denen sich Noda und sein neues Kabinett, das er an diesem Freitag vorstellen wird, beschäftigen muss.
Die Frage ist, ob Noda das Durchsetzungsvermögen hat, die notwendigen Veränderungen in Japan auf den Weg zu bringen? An die Macht ist er nur gekommen, weil er eher ein Mann ohne Eigenschaften ist. Ein Moderator, kein Macher. Seine ersten Entscheidungen wecken Zweifel an seiner Führungsstärke. Die regierende Demokratische Partei Japans (DPJ) ist tief gespalten. Auf der einen Seite stehen die Anhänger des gerade von innerparteilichen Feinden, der Opposition und der Mehrheit der japanischen Medien mit Schmähungen aus dem Amt gejagten früheren Regierungschefs Naoto Kan. Kan war angetreten, Japans Staatsschuld zu begrenzen (leider sagte er offen, dass er deswegen die Konsumsteuern erhöhen müsse, und verlor im Sommer 2010 die Mehrheit im Oberhaus, der zweiten Kammer des japanischen Parlaments, an die Opposition). Japans Staatshaushalt wird derzeit zu mehr als 50 Prozent über neue Schulden finanziert. Noch liegen 95 Prozent der Staatsschuld Japans in den Händen heimischer Investoren, was dem Land Turbulenzen erspart, wie sie die Euro-Zone gerade erlebt. Doch spätestens 2015 muss Japan – wenn es nicht auf die Schuldenbremse tritt – auf die internationalen Finanzmärkte ausweichen. Dann, fürchtete Kan, könnte Tokio schnell in die Rolle geraten, die Athen, Rom und Madrid heute haben. Der frühere Regierungschef wollte eine „dritte Öffnung Japans” – nach der Öffnung des Landes in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts und der amerikanischen Besatzungsherrschaft nach 1945 – , und damit mehr Wettbewerb für Japans Wirtschaft. Der Londoner „Economist” hat ihn deswegen als größten Reformer Japans seit langem gelobt – im Lande gab es am Ende kaum noch jemanden, der ein gutes Wort über ihn fand.
Auf der anderen Seite steht eine starke Minderheit in der DPJ, die jeden Wandel zu mehr Wettbewerb und einer Abkehr von der Schuldenpolitik ablehnt. Noda, der wirtschafts- und finanzpolitische Kontinuität zugesichert hat, will als Regierungschef sowohl seine innerparteilichen Gegner wie die Opposition stärker einbinden. Warum aber, fragen viele Japaner sich, sollten die dem freundlichen Herrn Noda nun zugestehen, was sie seinem Vorgänger verweigerten? Noda, fürchten viele, bedeutet das Ende des Versprechens der DPJ, das Land zu ändern. Tatsächlich war es eine der ersten Amtshandlungen des neuen Regierungschefs, das eigene Kabinett zu entmachten und Entscheidungsmacht in Parteigremien zu verlagern, in denen seit dieser Woche die Gegner jeder Veränderung stark vertreten sind. Hoffnung macht das nicht.
Mecha, mecha desu, sagen japanische Unternehmer und Bürger auf der Straße immer wieder, wenn man sie auf die wirtschaftliche Lage ihres Landes anspricht. Alles sei schwierig, eine Katastrophe. Wer auf die neuen starken Mächte in Asien schaut, auf das boomende China, auf Indien, auf Südkorea oder Vietnam, der sollte Japan aber nicht unterschätzen. Technisch sind japanische Ingenieure nach wie vor führend. Apples iPhone zum Beispiel hat mehr japanische Komponenten denn je. Ohne japanische Technik wäre auch Chinas Aufstieg nicht so erfolgreich, wie er jetzt ist. Unabhängig von der Politik bringen sich Japans Unternehmen in Position, in Asien weiter die Nummer eins zu sein. Es ist der Flexibilität der japanischen Unternehmen zu danken, dass sich das Land wirtschaftlich viel schneller von den Folgen des verheerenden Erd- und Seebebens vom 11. März und der Atomkatastrophe in Fukushima erholt hat, als alle Experten erwartet hatten. Im Kalenderjahr 2010 ist Japans Wirtschaft stärker gewachsen als die deutsche. Noda mag in einem Jahr wieder Geschichte sein – länger dauert die Amtszeit eines japanischen Regierungschefs wegen der Selbstbespiegelung der Politiker in Tokio ja nicht mehr -, Japans Wirtschaft wird dennoch ihre Stärke zeigen. Und sollte Noda es entgegen der Erwartungen der meisten Japaner dennoch schaffen, länger im Amt zu bleiben und die notwendigen Veränderungen durchzusetzen, könnten sich auch die Blicke aus Washington, Peking, Paris, London und Berlin schon bald wieder voller Aufmerksamkeit nach Tokio richten.