Kuhglockengeläut mitten in einer chinesischen Millionenstadt. Mit dem Gebimmel macht ein Mitarbeiter des Weltwirtschaftsforums in Dalian die Teilnehmer auf den Beginn der nächsten Sitzung aufmerksam. Die Tagungsräume heißen „Zermatt”, „Basel” oder „Lugano”, auch das Veranstaltungsformat, der Aufbau der Stände und einige Gäste sind die gleichen wie beim Originaltreffen im Schweizer Luftkurort Davos. Ansonsten aber könnten die Unterschiede größer kaum sein.
Dort der entwickelte, aber noch immer beschauliche Wintersportort, eingebettet in sein malerisches Alpenpanorama. Hier die laute Hafen- und Industriestadt an der Bohai-Buch östlich von Peking, wo sich kürzlich die schwersten Ölkatastrophen Chinas ereigneten. Dalian, eine der dynamischsten Sonderentwicklungszonen der Welt, hat fast 7 Millionen Einwohner. Das Umlands eingerechnet, wohnen hier mehr Menschen als in der gesamten Schweiz.
Vor dem glitzernden Konferenzzentrum liegt ein riesiges unbebautes Rund, Xinghai genannt, „Meer der Sterne”. Es wird durchschnitten von Fußgängerwegen, die so lang und breit wirken wie Landebahnen. Die monströse Fläche wurde angelegt, um die Rückgabe Hongkongs an China zu feiern. Die Lokalregierung behauptet, in ihrer neuesten Ausbaustufe sei sie doppelt so groß wie der Platz des Himmlischen Friedens in Peking. Damit wäre der Xinghai der größte Stadtplatz der Welt.
Rekorde wie diese beeindrucken die Teilnehmer des „Sommer-Davos”, vor allem, wenn sie aus den zurückfallenden Regionen dieser Welt stammen – aus Amerika etwa oder aus Europa. Aber mit Protzen allein ist es derzeit nicht getan, selbst in China nicht. So wirkt denn auch das Motto der Veranstaltung recht deplaziert in einer Zeit, in der Rezessionsängste umgehen: Mastering Quality Growth. Die 1700 Gäste des ziemlich angeschwollenen Stelldicheins der Führungskräfte wissen genau, dass es im Moment weniger darum geht, die Qualität des Wachstums beherrschen zu können. Sondern darum, überhaupt welches zu erzeugen.
Dabei steht das Gastgeberland noch gut da. Hier kann von einer Stagnation oder gar einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts nicht entfernt die Rede sein. Aber auch China spürt den schärfer wehenden Wind. Nach mehr als 10 Prozent jährlichem Wachstum in den vergangenen Dekaden werden für dieses und das kommende Jahr 9 und 8 Prozent erwartet. Die Zentralregierung sieht bis 2015 sogar nur eine jährliche Zunahme um 7 Prozent voraus. Das klingt in westlichen Ohren viel. Aber Skeptiker wenden ein, dass allein 6 bis 8 Prozent nötig sind, um genügend Arbeitsplätze für die Landflüchtigen und für die zunehmend qualifizierten Schul- und Universitätsabgänger zu schaffen.
Es ist ein großer Nachteil von Massentreffen wie dem Weltwirtschaftsforum, dass sie lange im voraus bis ins Detail hinein geplant werden müssen. Dadurch zielen selbst die wolkigsten Themen und die polyvalentesten Referenten am aktuellen Diskussionsbedarf oft vorbei. Wer will schon etwas über „Die Wiederbelebung der Wissenschaft in der Gesellschaft” erfahren, wenn draußen die Welt brennt? Natürlich ist es nett, mit Haakon, dem schmucken Kronprinzen von Norwegen, zum Essen anzustehen. Aber bringt uns der Plausch bei gefüllten Teigtaschen einer Lösung der drängenden Probleme wirklich näher?
Tatsächlich haben die in Dalian versammelte Macht und Intelligenz kaum Impulse liefern können, wie es weitergehen muss in Amerika, Europa, aber auch in Asien, damit die ausufernden Staatsschulden nicht die Banken, die Finanzmärkte und die Realwirtschaft vergiften. In Dalian herrscht eine ebenso große Ratlosigkeit wie an den Stammtischen und Börsen, in den Regierungszentralen oder Notenbanken. Wohl deshalb greifen die Zuhörer nach jedem Strohhalm und sehen darin schon einen Rettungsring in der aufgewühlten See.
Dazu gehörte die Ankündigung des chinesischen Regierungschefs Wen Jiabao, weiter in Europa zu investieren. Dabei haben selbst die reichen Chinesen kein Geld zu verschenken, und sie besitzen auch gar nicht genug Flüssiges, um die Wackelländer zu retten. Allein Italiens Schulden würden mehr als die Hälfte der chinesischen Devisenreserven verschlingen – und diese sind schon die höchsten der Welt.
Mancher gute Ansatz ist in Dalian im Keim erstickt. Solcherlei kam nicht unbedingt von den „Young Leaders” oder den „New Champions”, um die sich das Forum wie jede andere Plattform so sehr reißt, sondern von den alten Hasen. Zu Beginn der Tagung regte William R. Rhodes, ein Urgestein der amerikanischen Bankenwelt, einen Appell an, den die versammelten Hochkaräter an die Staats- und Regierungschefs schreiben sollten. Der Brief sollte die Mächtigen auffordern, die unkoordinierten Rettungstreffen dieser Wochen zusammenzulegen, etwa die Zusammenkünfte der Finanzminister, Notenbank- und Regierungschefs im Rahmen von G7, EU oder IWF.
Denn darüber immerhin herrscht in Dalian Einigkeit: Wir haben keine Zeit, und deshalb sollten wir sie nutzen! Doch falls das das einzige Ergebnis des teuren Visitenkartenaustauschs bleiben sollte, gilt auch für das Weltwirtschaftsforum im Vorreiterland China: Außer Spesen nichts gewesen, oder: viel Kuhgeläut um nichts.