Akte Asien

Die Angst wächst. Wie stark ist Essen in Japan radioaktiv belastet?

In Deutschland, dem Land, das weltweit mit Abstand mit der größten Panik auf die atomare Katastrophe in Fukushima reagiert hat, ist das Interesse an Japan nach kurzer Zeit bereits fast gänzlich wieder verloren gegangen. Der eigene Atomausstieg ist ja beschlossen, die Angst, die Ereignisse in Fukushima könnten das eigene Wohlergehen gefährden, wich – weil für Deutschland vom ersten Tag an unbegründet – schnell neuen Sorgen und Ängsten. Wer weiter in Japan lebt, kann es sich so leicht nicht machen. Ich habe in diesen Tagen einen dichten Terminkalender. Nicht nur, weil Japaner gern einladen zum „Bonenkai”, dem geselligen Zusammensein zum Jahresende. Freunde aus Deutschland, aus Italien, auch aus den Vereinigten Staaten verabschieden sich in diesen Tage scharenweise nach Hause mit der Begründung, von Fukushima und den anhaltenden Beben gehe einfach zu viel Gefahr für ihre Familien aus.

Es stimmt, die Erde bebt immer wieder in Japan. Das war hier immer so, aber vor dem 11. März hat es außerhalb Japans kaum jemanden interessiert. Der 11. März hat das für die Japaner und die Menschen, die hier leben, verändert. Im fernen Deutschland interessiert ein Beben der Stärke 3 oder 4 niemanden, solange es nicht im Rheingraben ist. Die Furcht, das lange erwartete Beben direkt in der Bucht von Tokio könne Wirklichkeit werden, lässt in Japan dagegen viele Menschen seit dem 11. März nachts aufschrecken, wenn die Wände mal wieder wackeln. Bedrohlicher als mögliche Beben empfinden viele Menschen aber die verdeckte, die nicht spür- und schmeckbare Gefahr durch radioaktiv belastetes Essen. Mütter vor allem sorgen sich, wenn man in Supermärkten in Tokio mit Frauen spricht. Gemüse aus Fukushima, aus den Nachbarpräfekturen Miyagi oder Ibaraki? Nein, das bleibt in den Regalen liegen

Zum Leidwesen der Landwirte, denn nicht alles, was aus aus Tohoku, dem Norden Japans, geliefert wird, ist unsicher. 80 Prozent der Verbraucher vertrauen den offiziellen Angaben der Regierung Tokio über ie Sicherheit der Lebensmittel nicht. Aus guten Grund, denn Vertuschung unangenehmer Tatsachen hat in Japan Tradition. Die Antwort der Bauern in Tohoku: Sie messen selber, wie die Butai-Farm bei Sendai zum Beispiel. Hironao Mori streift sich in den Lagerhallen der Farm jeden Morgen den weißen Kittel über. Dann nimmt er ein kleines gelbes Messgerät in die Hand, schaltet es ein und untersucht einen Stapel Kisten mit gerade angeliefertem Salat. „Das ist unser erster Kontrolldurchgang”, sagt er. „24 cpm” zeigt das Gerät. „Das ist niedrig, der Salat ist nicht radioaktiv belastet”, meint der Kontrolleur. Die nächste Kiste. „6 cpm”, Mori nickt zufrieden. Die Ware kann ohne jedes Problem in den Handel, der Salat ist nicht radioaktiv belastet. Wäre der Wert höher, käme ein zweiter, aufwendigerer Test, berichtet Mori. Er arbeitet auf der Butai-Farm, einem der größten landwirtschaftlichen Betriebe in Miyagi, einer Nachbarpräfektur von Fukushima, die besonders unter den Folgen der Atomkatastrophe in Japan leidet. Nobuo Haryu, Präsident des Unternehmens, lässt alles, was hier verarbeitet wird, auf Radioaktivität testen. 40 Hektar bewirtschaftete er bis zum März, 70 Prozent sind vom Tsunami überflutet worden. Es wird drei Jahre dauern, bis dort überall wieder Reis angebaut werden kann. Haryu ist aber nicht nur in 15. Generation einer der einflussreichsten Großbauern in der Präfektur Miyagi. Die Butai-Farm ist auch einer der größten Lebensmittelproduzenten im Nordosten Japans. „Wir vermarkten unsere Produkte selbst”, berichtet Haryu. Zudem liefern Landwirte aus den beachbarten Präfekturen. Deswegen hat Haryu die Kontrollen auf mögliche radioaktive Belastungen angeordnet.

Wie die Verbraucher ist auch der Unternehmer nicht sonderlich gut auf die amtlichen Kontrollen zu sprechen. zu sprechen. Auch heute, neun Monate nach der Atomkatastrophe im gut 100 Kilometer südlich gelegenen Fukushima, empfinden viele Japaner die Kontrollen als unzureichend. Gerade erst hat die Regierung angekündigt, die Grenzwerte von 500 Bequerel für Cäsium 134 und 137 in Gemüse, Getreide und anderen Lebensmittel zu prüfen – und zu senken. Seit Wochen gibt es immer wieder Meldungen, dass radioaktiv belastete Lebensmittel in den Handel gekommen sind, weil die Behörden nur wenige Stichproben nehmen. „Die sollten alles testen”, fordert Haryu, das wäre das Beste.

Dass Behörden und Unternehmen die Ängste der Verbraucher immer noch nicht richtig ernst nehmen, zeigt ein Beispiel vom Wochenende- Da berichteten japanische Medien in großer Aufmachung, dass ausgerechnet bei Milchpulver für Babynahrung Spuren erhöhter Cäsium 137 und Cäsium 134-Werte entdeckt worden seien. Finanzanalysten wie Nomura reduzierten umgehend ihr Rating des betroffenen Unternehmens Meiji von „Kaufen” auf „Neutral”. 400000 Dosen mit dem Milchpulver, die im April verpackt und im Mai ausgeliefert wurden, rief das Unternehmen zurück. Dabei lagen die Werte durchaus noch unter den derzeit zulässigen Grenzwerten. Ob diese Grenzwerte jedoch ausreichend Schutz bieten, ist unter Wissenschaftler umstritten. Es gibt Mediziner die meinen, jede erhöhte Aufnahme sei „zu viel” und erhöhe das Krebsrisiko.

Meiji und einige seiner Wettbewerber kündigten umgehend an, von nun an Tests für alle ihre Produkte durchführen zu wollen. Das Unternehmen hatte nach der Atomkatastrophe in Fukushima am 21. März zwar Stichproben genommen, dem Tag mit der höchsten radioaktiven Belastung in der Luft. Die Ergebnisse gaben damals auch Entwarnung, offenkundig war die Belastung an den folgenden Tagen in den betroffenen Regionen aber höher. „Warum kontrollieren die erst jetzt alles?”, fragt Miyuki Takanashi, selber Mutter von zwei Kindern, empört. „Wenn es möglich ist, alles zu testen, warum wird es bei Reis, bei Gemüse und Milch nicht gemacht?” Dann lacht sie und schimpft wie viele Japaner lauthals auf die enge Verflechtung japanischer Politik und Bürokratie mit der Wirtschaft.

Landwirt Haryu aus Wakabayashi nahe der Präfekturhauptstadt Sendai verarbeitet mit der Butai-Farm im Jahr 3000 Tonnen Reis. Er ist damit einer der größten Produzenten in Japan, auf 700 Hektar Fläche wird der Reis angebaut, den er von anderen Bauern bekommt und verarbeitet. Auch Reis aus Ibaraki, der südlichen Nachbarprovinz von Fukushima, ist dabei. Nach der Atomkatastrophe in Fukushima seien die Landwirte viel zu spät über die Risiken informiert worden, beklagt er. „Damals kannten wir solche Messgeräte nicht”, berichtet er und zeigt auf einen Geigerzähler. Angefangen hat die Butai-Farm ihre Tests dann mit alten Geräten aus russischer Produktion. Die waren günstig, aber ungenau. „Die mögliche radioaktive Belastung der Lebensmittel hat uns wirklich Kopfschmerzen bereitet”, sagt Haryu. Landesweit mieden die Verbraucher plötzlich Waren aus Tohoku. „Wir haben gelernt, was Bequerel ist, wir haben uns mit dem Problem auseinander gesetzt”, sagt er. Und weil die Behörden versagten, hat Haryu Universitätsprofessoren eingeladen, um seine Leute zu schulen. Für 700000 Yen (6735 Euro) wurde schließlich ein Messgerät aus Deutschland angeschafft. „Damit konnten wir zuverlässig messen”, sagt er. Insgesamt hat die Butai-Farm 3 Millionen Yen in den Aufbau ihres eigenen Kontrollnetzes investiert. Finanzielle Unterstützung vom Staat? Haryu lacht bei solchen Fragen nur. Meine deutschen Freunde, die Japan wegen der anhaltenden Gefahr verlassen, steigen derweil gerade in ihr Flugzeug, das sie zurück nach Deutschland bringt.

 

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