Von CHRISTIAN GEINITZ
Sind die Mitglieder der EU in der Krise noch gute Europäer? Sich in ruhigen Zeiten zur Gemeinschaft zu bekennen, fällt leicht, aber in der Schuldenmisere? Manchmal hilft ein Blick von außen, um solche Fragen zu beantworten, zum Beispiel aus China. Wer in Peking die Botschaften der Mitgliedsstaaten besucht, begreift schnell, wer das nationale Wohl über das des Kontinents stellt. Dazu muss man nur die Längen der Fahnenmasten vergleichen.
Nehmen wir die Franzosen: Präsident Nicolas Sarkozy versucht das Bild zu vermitteln, seine Vorstöße in Sachen Transaktionssteuer dienten einer größeren, nämlich der europäischen Sache. Tatsächlich aber, sagen Kritiker, verfolge er kleinliche nationale Interessen, vor allem die, wiedergewählt zu werden. Ist den Franzosen das eigene Wohl also wichtiger als das europäische? Von der Länge der Fahnenmasten her kann man das glauben.
Vor der nagelneuen Botschaft mit ihrem imposanten Lamellenturm im Nordosten Pekings wehen die Trikolore und der EU-Sternenkreis im kalten Wind. Wer davorsteht, merkt schnell: Der französische Fahnenmast ist etwas länger als der europäische. Gleiches gilt, mit ähnlicher Farbgebung, für die niederländische Vertretung. Auch bei den Dänen, die immerhin die Ratspräsidentschaft innehaben, sieht es verdammt so aus, als ob Rot-Weiß ein bisschen herabschaut auf Blau-Gelb. Von weitem scheint das auch bei den Italienern der Fall zu sein. Verifizieren lässt sich das nicht, denn die Zufahrtsstraße darf man nur mit Erlaubnis passieren.
Überhaupt sind die chinesischen Wachsoldaten nicht erbaut über jemanden, der sich vor dem Eingang Notizen macht oder mit dem Fotoapparat hantiert. Weggescheucht werde ich ausgerechnet bei den guten Europäern: Die spanische Fahne flattert genauso hoch wie die europäische, auch vor der belgischen Botschaft befindet sich die Gemeinschaftsflagge, wie man heute sagt, „auf Augenhöhe” mit der nationalen. Übrigens erweisen sich die neuen Mitgliedsländer als vorbildlich. Mancher in Brüssel mag derzeit an Ungarns Treue zweifeln, aus Pekinger Sicht ist das völlig unbegründet: Rot-weiß-grün weht in loyaler Eintracht und auf gleichem Niveau wie das Europasymbol.
Und bei den Deutschen? Unsere Nachbarn können ganz beruhigt sein, von Hegemonieanspruch keine Spur. Nicht im Traum würde es der Dreifarb wagen, sich über das europäische Tuch zu erheben! Beide Hoheitszeichen baumeln zwar gerade etwas schlapp herab, als ich vorbeikomme, aber immerhin durchleben sie ihre Flaute in paralleler Hängung.
In der französischen Botschaft weist man den Verdacht, Europa klein zu halten, weit von sich. Die Masten seien gleich hoch, versichert ein Pressemitarbeiter, eher scheine ihm der europäische etwas länger zu sein als der französische. Überhaupt sollten sich die Deutschen bitteschön an die eigene Nase fassen, sagt der freundliche Attaché glucksend. Aus seinem Fenster sehe er, dass vor der deutschen Botschaftsschule zwar die chinesische und die deutsche Fahne aufgezogen seien, nicht aber die europäische.
Flaggenfragen seien knifflig, erzählt der altgediente Diplomat noch. Zu seiner Zeit in Japan gefiel es dem japanische Kaiser, der Pariser Vertretung einen Besuch abzustatten. Das war das erste Mal, dass der Tenno eine europäische Botschaft beehrte; Grund war der erste Staatsbesuch eines französischen Präsidenten. „Leider hatten wir nur einen Fahnenmast. Also stellten wir extra für den Kaiserbesuch einen zweiten auf, der später wieder demontiert wurde.”
Sehr kooperativ bei der Ermittlung der Flaggenhöhe zeigt sich auch die litauische Botschaft. Dort reichen die beiden Masten bis hinauf zum Balkon vor dem Büro der Botschafterin. „Kommen Sie rauf, wie schauen zusammen nach”, sagt Ihre Exzellenz zuvorkommend. Die Villa ist geräumig, aber nicht pompös, eine geschwungene Freitreppe führt in den ersten Stock.
Die Botschafterin öffnet die Balkontür, wir treten in die Wintersonne hinaus. Furchtlos beugt sich die Diplomatin über das Geländer, um besser sehen zu können. „Gleich hoch, oder nicht?” fragt sie. Tatsächlich. Dabei hätte ich von unten schwören können, dass auch hier die nationale Präsentation etwas höher hinauswill als die europäische. So kann man sich irren… Offenbar gilt auch in Fragen vaterländischer Ambitionen: Größe ist eine Frage der Perspektive.
Fotos itz. Die Bilder zeigen von oben nach unten die Botschaften: Frankreichs (1,2), der EU (3), Spaniens (4), Deutschlands (5,6), Belgiens (7), Ungarns (8), Litauens (9).
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