Mehr als neun Monate sind vergangen seit dem verheerenden Tsunami am 11. März in Japan. An vielen Orten ist wenig passiert, Staat und Verwaltung geben oft kein gutes Bild ab. In Ogatsu zum Beispiel, einem kleinen Fischerstädtchen, warten die Menschen nicht mehr, dass der Staat ihnen hilft. Eindrücke einer Ortsbesichtigung:
Es ist kalt geworden in Ogatsu. Inmitten verlassener Häuser, die vom Tsunami am 11. März zerstört wurden, arbeitet ein gutes Dutzend Fischer in einer provisorischen Holzhütte. An vier Maschinen bereiten sie ihren Fang zur Weiterlieferung vor. Neben der Hütte steht – wie ein Blickfang der Hoffnung in diesem Meer der Verwüstung ein hellblaues Zelt. „P. R. China”, Volksrepublik China, prangt an den Seiten, darüber die chinesische Flagge. „Eine Spende”, erklärt Hiromitsu Ito. „Für den Wiederaufbau nehmen wir alles, was wir bekommen können.” Ito ist Fischer, Anfang 50 und hat durch den Tsunami fast sein ganzes Hab und Gut verloren. Erst vor wenigen Jahren ist er aus der Präfekturhauptstadt Sendai zurück nach Ogatsu gekommen. Sein Vater war zu alt geworden für die anstrengende Arbeit als Fischer. Ito wollte die Familientradition fortführen. Es sind kleine Familienbetriebe, die an den vom Tsunami zerstörten Küsten Miyagis und Iwates fischten. Nur wenige von ihnen haben es geschafft, wieder anzufangen.
In Ogatsu lag das Durchschnittsalter der aktiven Fischer über 60. „Viele waren schon über 70 und haben noch als Fischer gearbeitet”, berichtet Ito. „In dem Alter kriegen Sie doch keinen Kredit mehr, um noch einmal neu anzufangen”, sagt er. Neun Monate nach dem verheerenden Tsunami ist die Lage in Ogatsu, das in einer kleinen, engen Bucht liegt und zu der besonders stark verwüsteten Stadt Ishinomaki gehört, vom Wiederaufbau wenig zu sehen. „Es gibt hier keine Arbeit mehr”, sagt Itu. 4300 Menschen legten hier früher, 280 stehen auf den offiziellen Opferlisten des Tsunamis. 240 Fischer arbeiteten früher hier, 40 sind noch geblieben. 25 von ihnen arbeiten gemeinsam mit Ito in der neuen Gesellschaft „OH!Guts!”, mit der sie aus eigener Kraft den Neuanfang wagen wollen, weil sie sich von den Politikern im fernen Tokio verraten fühlen. Keiner der Fischer hat bislang einen Yen an staatlicher Unterstützung bekommen, weil Opposition und Regierung in der fernen Hauptstadt monatelang über die Finanzierung des Wiederaufbaus stritten.
Wie es vor dem 11. März 2011 war, wird es in Ogatsu nie wieder werden. Das weiß auch Ito, der nicht nur Fischer, sondern auch in der Bürgergruppe für den Wiederaufbau des Ortes aktiv ist. Noch heute sieht man dem Mann an, wie sehr es ihn mitnimmt, wenn er vom 11. März erzählt. Am Ortsausgang, am Ende des Tals gelegen, ragen heute noch die Ruinen des früheren Kulturzentrums und der Oberschule hervor. Auf dem Dach des Kulturzentrums steht ein Bus, vom Tsunami dorthin getragen. „Bis zum Dach stand die Schule unter Wasser”, sagt Ito. Tagelang war der Ort von der Außenwelt abgeschnitten. „Es kam nicht viel Hilfe”, erinnert er sich. Der Ort ist nach dem Beben fast zehn Meter näher an den Pazifik gerückt. Im Januar sollen die beiden Gebäude, die noch an die Zerstörung erinnern, abgerissen sein. Wie der Wiederaufbau dann aussehen soll, ist noch unklar. „Es gibt keinen Plan”, sagt Ito. Zu zerstritten seien die Bürger.
Auch deswegen will er wenigstens die Fischerei neu beleben. „Wir haben hier nichts mehr”, sagt er. Austern- und Jakobsmuschelnfarmen habe es gegeben, „alles vom Tsunami zerstört”, sagt der Fischer. 300 Boote lagen an den Kaimauern von Ogatsu früher. „Nur 10 sind uns nach dem 11. März geblieben”, berichtet Ito. Wie früher, das weiß der Mann, kann er deswegen nicht weiterarbeiten. Deswegen hat er sich mit Takashi Tachibana zusammengetan, einem 1969 geborenen Juristen, aufgewachsen in Ogatsu, dann nach Tokio gezogen, der Ideen hat und der etwas von Marketing versteht. „Wir wollen hier eine vollkommen neue Art von Fischerei aufbauen”, sagt Tachibana. Bislang haben die Fischer gefischt, dann an die Genossenschaften geliefert, die wiederum an Zwischenhändler verkauften. Großmärkte, Zwischenhändler; jeder habe gut verdient, nur beim Fischer sein wenig in der Kasse gelandet. Das von den beiden neu gegründete Unternehmen will die Verarbeitung, auch den Vertrieb nun selbst übernehmen. Noch stehen in der Holzhütte nur wenige Maschinen zur Fischverarbeitung, doch die Botschaft ihres Geschäftsplans ist klar: „Die Gewinne sollen über Direktverkauf wieder an die Fischer gehen.”
Leicht ist es nicht gewesen, die Männer in Ogatsu von diesem Modell zu überzeugen. Es sind vor allem die Jüngeren, die mitmachen. Das Durchschnittsalter liegt bei 50. „Es ist ein hartes Stück Arbeit, die Mentalität zu ändern”, sagt Ito. Es sei eben schwer für Fischer, sich einzugliedern und in einem Team zu arbeiten, wenn sie ihr Leben lang als Einzelkämpfer auf See zurecht kommen mussten. „Wir haben viele Diskussionen”, sagt Ito mit einem Seufzer. Menschen wie Tachibana, die von außen kommen, würden in Ogatsu heute als Berater leichter akzeptiert. Vor dem Tsunami sei jeder, der von außen zugezogen ist, immer ein Außenseiter in dem Fischerort geblieben, erzählt er. „Das ändert sich, wir sind auf Ideen von außen angewiesen.” Dann lächelt er zum ersten Mal an diesem Tag und meint: „So gesehen liegt in der Katastrophe des 11. März auch eine Chance.”
Die Idee, etwas Neues zu machen, kam Ito, weil er in den ersten Tagen nach dem Tsunami Probleme hatte, Essen für seine Kinder zu beschaffen. Doch wie kommen die Fischer an Kapital? Trotz Nullzinspolitik der Bank von Japan, die die Märkte mit Geld flutet, kommt bei denen, die es wirklich brauchen, bislang fast nichts an. Tachibanas Idee war, dass jeder, der Interesse hat, für 10000 Yen (etwas über 100 Euro) Anteile am neuen Unternehmen kaufen könne. Dafür dürften die Käufer dann an Veranstaltungen teilnehmen, selber mit anpacken – „zum Beispiel Baby-Austern auf Leinen ziehen” – und später bevorzugt Waren beziehen. 2000 Menschen haben bislang mitgemacht und Anteile gezeichnet. Doch um ihr Geschäft richtig aufzubauen benötigen die Fischer 500 Millionen Yen (etwas über 5 Millionen Euro). Allein ein neues Boot kostet 36 Millionen Yen, eine Reparatur etwa zwei Drittel des Preises; dazu müssten Trockenräume, Verarbeitungskapazitäten und Infrastruktur neu aufgebaut werden. Japans Regierung hat zugesagt, 67,5 Prozent der Kosten zu übernehmen. Bislang ist das für die Fischer in Ogatsu – und nicht nur dort – allerdings bloße Theorie.
Wenn man nur abwarte und auf finanzielle Unterstützung warte, passiere nichts, erklärt Tachibana. „Wir mussten selber etwas machen.” Und Ito ergänzt, allein das Ausfüllen der komplizierten Formulare überfordere viele der Fischer. „Vielleicht fließt das Geld in 2 Jahren”, sagt er, grinst verkniffen und zuckt mit den Schultern. „Es ist noch nichts passiert, wir haben noch kein Geld bekommen.” Tachibana, der wöchentlich zwischen Ogatsu und Tokio hin- und herpendelt meint, es gebe in Japans Politik und Verwaltung einfach zu viel Angst, beim Wiederaufbau Fehler zu machen. „Fehler vermeiden, nicht unangenehm auffallen, das lernen hier die kleinen Kinder schon”, sagte er. Fehler vermeiden, wegducken, nichts allein entscheiden, für die beiden ist das eines der Probleme, warum es mit dem Wiederaufbau nicht nur in Ogatsu so schleppend voran geht. „Die Regierung ist deswegen auch nicht in der Lage, sich zu bewegen”, meint er. Dennoch würden die Fischer – ganz in der japanischen Tradition verankert – die Obrigkeit in Tokio und Sendai deswegen nicht kritisieren, sondern die Sache selber in die Hand nehmen.
„Ich kann es mir nicht leisten, aus Angst vor Fehlern nichts zu machen”, erklärt Ito. Deswegen hat er sich auf das ehrgeizige Projekt mit Tachibana eingelassen und 20 Fischer überzeugt mitzumachen. „Ich habe nichts mehr zu verlieren”, sagt er und fügt trotzig hinzu: „In drei Jahren muss das hier laufen.” Solange dauert es, bis die Austernzucht die angestrebten 43200 Kilo Ernte einbringt. Bei der Jakobsmuschel geht es schneller. Da erhofft sich Ito schon im kommenden Jahr einen Umsatz von 239760 Kilo. Bis Juli rechnet er noch mit knapp 15 Millionen Yen Verlust, im folgenden Jahr soll der Durchbruch kommen, und für August 2013 bis Juli 2014 erwartet Ito einen operativen Gewinn von gut 31 Millionen Yen. Die Geschäftspläne hat er in einem Computer im neuen Büro der Gesellschaft direkt neben dem vom Tsunami zerstörten Haus seiner Familie. Dessen Ruinen, von denen man auf die verwüstete Bucht von Ogatsu blickt, dienen den Fischern jetzt als Lagerraum. Wenn seine Pläne Wirklichkeit werden, komme auch das Leben nach Ogatsu zurück, hofft Ito.