Von CHRISTIAN GEINITZ
Ein alter Baum, den man nicht verpflanzen sollte, sitzt im Schatten eines anderen alten Baumes. Die 90 Jahre alte Frau rückt ihren Bambushocker zurecht und blinzelt durch das Blätterdach eines ausladenden Kakibaums vor ihrem Haus. Beide leben schon immer hier, doch damit ist es bald vorbei. Ihr Dorf Caiwan wird aufgegeben, weil es im Weg steht: dem Fortschritt, dem größten Bauprojekt der Welt, dem Wasser. Die Familie müsse wegziehen, sagt die Tochter der alten Dame. „Wir wollen das nicht, auch wenn das neue Haus noch so schön ist.” Sie weist mit der Hand umher. In einem grob gemauerten Koben suhlen zwei Ferkel, eine Henne hüpft von einem abgewetzten Schleifstein zu einer Tonschale mit Wasser. Die Weizen- und Reisfelder der Familie liegen in der Senke hinter dem Dorf. „Hier können wir uns selbst versorgen, jeder hat Arbeit”, sagt die Frau und nickt in eine unbestimmte Richtung. „Woanders nicht.”
Hinter den Büschen, vielleicht zwei Kilometer entfernt, erhebt sich der Damm von Danjiangkou. Seit den siebziger Jahren staut er den Han-Fluss, den wichtigsten Zustrom des Jangtse, zu einem von Chinas größten Seen. Er dient als Trinkwasserreservoir und Speicher für Dürrezeiten, erzeugt Strom und schützt vor Hochwasser. Seine neue Aufgabe ist mindestens ebenso wichtig: Künftig soll der See den Norden rund um Peking mit Wasser versorgen. Dazu entsteht ein Kanal- und Röhrensystem von mehr als 1430 Kilometern Länge. Das entspricht der Entfernung von Bremen nach Neapel. Damit der Zufluss ausreicht, muss die Staumauer erhöht werden. Der Wasserspiegel steigt dann um 13 Meter, 13.3000 Hektar Acker- und Siedlungsflächen versinken, mehr als 340.000 Menschen müssen ihre Heimat verlassen. Die Aktion ist die größte Umsiedlung seit dem Bau des Drei-Schluchten-Staudamms am Jangtse.
Der Grund dafür ist der Wassermangel in Chinas regenarmem Norden. Je Einwohner steht nur ein Fünftel des Landesdurchschnitts zur Verfügung, in Peking sogar nur ein Siebtel. Wegen der engen Besiedlung, der extensiven Landwirtschaft und der hohen Industriedichte leben die Hauptstadt, die benachbarte Hafenmetropole Tianjin und die Provinz Hebei über ihre Verhältnisse. „Das Oberflächenwasser ist weitgehend aufgebraucht, der Grundwasserspiegel sinkt jedes Jahr um einen Meter”, warnt Lars Skov Andersen, stellvertretender Leiter eines EU-Wasserprojekts in China. Die befürchtete Versalzung der verbliebenen Ressourcen hätte gefährliche Folgen, da in der Region fast ein Drittel der Landwirtschaft vom Grundwasser abhängt.
Um die Wasser- und Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen, hatte 1952 schon Mao Tse-tung den Bau eines Kanals vom Süden her vorgeschlagen. Doch erst seit 2002 macht China ernst mit dem so genannten Süd-Nord-Wasserverteilungs-Projekt. Geplant sind drei unabhängige Wasserwege aus dem oberen, mittleren und dem unteren Einzugsgebiet des Jangtse. Die Gesamtkosten, einschließlich der Umsiedlungs- und Entschädigungsleistungen, werden auf 420 Milliarden Yuan (46 Milliarden Euro) geschätzt. Die Tibet-Route im Westen liegt auf Eis, doch die beiden anderen sollen nach mehrmaliger Verzögerung 2013 und 2014 den Betrieb aufnehmen.
Die östliche Ader, die in Tianjin endet, nutzt Teile eines frühen chinesischen Mammutprojekts, des Großen Kanals. Die Anfänge dieser längsten künstlichen Wasserstraße der Welt gehen bis ins 6. Jahrhundert vor Christus zurück. Das neue Vorhaben leidet unter der mangelnden Wasserqualität und darunter, dass das natürliche Gefälle nicht ausreicht. Deshalb sind Pumpstationen nötig, die Energie und Wartung brauchen.
Die mittlere Route, die in Danjiangkou beginnt, ist die wichtigste und mit fast der Hälfte der Gesamtkosten auch die aufwendigste. Neben der Dammerhöhung gilt die Unterquerung des Gelben Flusses in der Provinz Henan als die größte Herausforderung. Westlich von Zhengzhou haben sich die Tunnelbohrer des deutschen Unternehmens Herrenknecht fast zweieinhalb Kilometer lang unter dem Flussbett hindurchgegraben. Durch die beiden Stollen strömt das Wasser künftig Richtung Norden, fast 15 Milliarden Kubikmeter im Jahr mit einer Fließgeschwindigkeit von einem Meter in der Sekunde. Getrieben allein von der Strömung, würde eine Flaschenpost aus Danjiangkou etwa 17 Tage bis Peking brauchen.
Die Leidtragenden des eindrucksvollen Jahrhundertbaus sind die Umsiedler. Zwar hat sich seit den Zwangsvertreibungen der 1,2 Millionen Anrainer am Drei-Schluchten-Stausee vieles zum Guten gewendet. Die Entschädigungen und die Umzugsbedingungen seien verbessert worden, stellt die kalifornische Nichtregierungsorganisation International Rivers fest. Die Bewohner müssten nicht länger ihre Heimatprovinzen verlassen und würden nicht mehr mit Gewalt vertrieben. „Die Regierung hat ihre Lektion vom Drei-Schluchten-Staudamm gelernt”, schreibt der chinesische Autor des Berichts.
Die Bauern stoßen aber weiterhin auf große Schwierigkeiten. Nach den Berechnungen von International Rivers dient nur etwa ein Drittel des Umsiedlungsbudgets von umgerechnet 8300 Euro je Person dem Neubeginn in der Landwirtschaft. Der Großteil davon fließe in den Kauf der Agrarflächen, so dass am Ende gerade einmal 600 Euro für den Start am neuen Ort übrigblieben. Nicht der Umzug und die Unterbringung seien die Hauptbelastungen, sondern mangelnde Einkommensperspektiven und die fehlende Mitbestimmung über die Neuansiedlung.
All das bestätigt sich in Caiwan. Für die Dorfälteste unter dem Kakibaum, deren Namen wir nicht nennen sollen, ist die Flucht vor dem Wasser ein weiterer tiefer Einschnitt in ihrem Leben und vermutlich der letzte. Im Krieg habe sie alles verloren, sagt ihre Tochter. Später überstand sie Maos verheerende Agrarpolitik im „Großen Sprung nach vorn”, als Millionen Bauern verhungerten, die Kulturrevolution, den Verlust des Ehemanns. Bis heute leidet die zarte Frau unter einem Schönheitsideal der Kaiserzeit, das bis in die Dreißigerjahre galt. Als Kind wurden ihre Füße gebrochen und durch Bandagen am Wachstum gehindert. Sie trägt umgearbeitete Kinderpantoffeln, laufen kann sie nur an einem Stock. „Ihre Schuhe sind mir zu eng”, sagt die siebenjährige Großnichte und hilft der Alten auf.
Ihr Haus hat die Familie Ende der Siebzigerjahre gebaut, aus Holz und Lehm, wie es hier üblich ist. Im fensterlosen Wohnzimmer thront ein mächtiger Fernseher, Plastikplanen unter der Zimmerdecke sollen den Regen aufhalten. Kommoden im Schlafzimmer trennen die Betten der Generationen voneinander. Es gibt Strom, fließend Kaltwasser, sogar Mobilfunkempfang in UMTS-Qualität. Aber das Dorf ist nicht an die Kanalisation angeschlossen, der Schotterweg hierher lässt sich mit Autos nicht befahren. Einen Wagen besitzt ohnehin niemand.
Künftig kommen die Bewohner in einem Dorf talaufwärts unter, das die Lokalregierung extra für sie gegründet hat. Die neuen Heime sind gemauert und fast doppelt so groß wie die alten. Sie haben zwei Stockwerke und richtige Badezimmer. Von dort dauert der Schulweg nur noch zehn Minuten, statt 40 wie bisher. Jedes Familienmitglied bekommt 1,5 Mu neue Ackerfläche, das sind 1000 Quadratmeter. Die alte Frau und ihre Angehörigen haben dann fast doppelt so viel Land wie bisher. Umziehen wollen sie dennoch nicht. Die neuen Felder grenzten nicht aneinander und lägen zu weit vom Haus entfernt, sagt die Tochter. Die jungen Leute gingen zum Arbeiten lieber in die Stadt, für die alten sei der Weg aufs Land zu weit. „So oder so, wir werden verlieren.”
Ähnlich sieht das der 64 Jahre alte Wang Xiuming. Er kommt den Weg entlang getrottet, die „Biandan” geschultert, eine Bambusstange mit zwei Körben. Wang war Zigaretten kaufen, die Schachteln sind seine einzige Last. Seine Hütte liegt noch näher an der Staumauer als Caiwan, davor weiden seine beiden Kühe. Das Wasser schöpft Wang aus dem See, am Ufer baut er Erdnüsse und Bohnen an. „Es ist doch egal, ob wir damit zufrieden sind, wir müssen weg hier”, sagt der hagere Mann. Beim Grinsen zeigt er viele schiefe gelbe Zähne. Ihn fuchst, dass er sein neues Haus nicht selbst bauen darf und dass man ihm vorschreibt, wo er hinzuziehen hat. Dass es kein Baugelände näher am jetzigen Standort gebe, kann er nicht glauben. Er zeigt auf einen nahegelegenen Hügelkamm. „Da oben werden Villen und Ferienhäuser gebaut.”
Für die touristische Nutzung fühlt sich der Konzern Hubei Lemen Shiye zuständig. Ursprünglich lieferte er nur die Wasserrohre für den Damm, doch eines seiner Tochterunternehmen ist auch ins Fremdenverkehrsgeschäft eingestiegen. Jiang Xianjie, einer der Manager von Hubei Lemen, steht an einer scharfen Abrisskante oberhalb der Bauarbeiten und erläutert die Pläne. Rechts von ihm ragt die Staumauer auf, links unten liegen die Felder von Wang Xiuming. „Das wird alles überflutet”, sagt der Mann mit der Zigarette hinter dem Ohr, „aber hier vor uns, wo sich die Bagger drehen, entsteht eine große Ausflugsanlage direkt am Wasser”.
Lemen plant Geschäfte, Restaurants, Hotels, Freizeiteinrichtungen und finanziert auch die Zubringerstraßen. Eine Milliarde Yuan (110 Millionen Euro) koste das Projekt, verrät Jiang. Die Uferbefestigung und die Betonstufen zum Schiffsanleger sind schon fertig. Dort sollen später zehn Ausflugsboote mit je 70 Gästen zu Seerundfahrten ablegen. Noch verläuft hier nur ein schmaler Fluss, auf dem ein Fischer in seinem Nachen unterwegs ist. Am Rand der Maisfelder auf der anderen Uferseite hat Lemen acht mannshohe Tafeln mit roten Schriftzeichen aufstellen lassen. „Qualität, Tempo, Sicherheit, Effizient” steht da. Damit wolle man die Bevölkerung überzeugen, sagt Jiang. „Viel Kontakt haben wir zu denen allerdings nicht.” Mit ihren Beschwerden richteten sich die Bauern eher an die Lokalregierung.
Die Erfahrungen mit solchen Eingaben sind gemischt. Die Bewohner des Dorfes Wangjiawan jedenfalls fühlen sich von den Behörden im Stich gelassen. Vor einem halben Jahr mussten die 128 Familien in die Neubausiedlung umziehen, weil ihr Dorf gleichen Namens dem Wasser zum Opfer fällt. Jetzt leben sie in weißverputzten Reihenhäusern mit roten Dächern und Solaranlagen zur Gewinnung warmen Wassers. Das sehe hübsch aus, sagen die Leute von Wangjiawan, die Bauqualität aber sei schlecht. „Wir haben uns schon oft beschwert”, murrt der 68 Jahre alte He Chengxiang, „passiert ist nichts”. Der Mann mit der Sonnenbrille, der durch Krankheit ein Auge verloren hat, zeigt die Risse im Mauerwerk seines Hauses und die Wasserflecken an der Decke. Auf der anderen Straßenseite klafft eine Baulücke, Trümmer liegen herum. „Das Haus ist eingestürzt”, sagt ein Nachbar.
He und viele andere Umgesiedelte versuchen, ihr früheres Landleben in der neuen, eher städtischen Umgebung weiterzuführen und werden damit nicht glücklich. Auf jedem Winkel Erde vor und hinter den Häusern wachsen Mais, Bohnen, Kürbisse. In Hes Treppenhaus stapeln sich Feuerholz und Werkzeuge, Sichel, Dreschflegel, Spaten. In der Küche kocht seine Frau statt auf einem Gasherd auf dem alten Brennofen, der Kosten und der Gewohnheit wegen. Es gibt zwar eine Wassertoilette, aber die Familie nutzt lieber das selbstgezimmerte Plumpsklo hinter dem Haus.
Nicht nur oberhalb des Staudamms, in Wangjiawan oder Caiwan, stößt das Süd-Nord-Wasserprojekt auf Skepsis, sondern auch unterhalb. „Für uns gibt es mehr Nachteile als Vorteile”, sagt Zhang Zhongwang, Direktor des Instituts zur Erforschung des Han-Flusses an der Universität von Xiangfan. Die Fünfmillionenstadt, die auch Xiangyang heißt, liegt 140 Kilometer stromabwärts von Danjiangkou. „Die Leute hier fürchten, dass ihnen Peking das Wasser wegnimmt. So ganz falsch ist das nicht”, sagt der Geographieprofessor. Seinen Berechnungen nach könnten in der Landwirtschaft annähernd 41.000 Hektar austrocknen. Für neue Bewässerungssysteme und Brunnen seien umgerechnet 47 Millionen Euro nötig, für die Trinkwasserversorgung 13 Millionen. Auch die Industrie bekomme die Knappheit zu spüren, sie müsse 160 Millionen Euro aufbringen.
Falls der Wasserspiegel unterhalb der Staumauer wie berechnet fällt, rechnet Zhang mit einer Abnahme der Binnenschifffahrt um 40 Prozent. Neben wirtschaftlichen hat der Wissenschaftler auch ökologische Einwände. Der Eingriff in die Natur zerstöre zwei Dutzend Fischlaichgründe. Die Reproduktion einiger Arten nehme um ein Drittel ab, der Fischfang könnte 60 Prozent geringer ausfallen als bisher. Zhang hält es für einen Irrglauben, dass die Süd- und Zentralprovinzen mit so viel Wasser gesegnet seien, dass sie den Norden mitversorgen könnten. Hubei, wo Danjiangkou und Xiangfan liegen, habe im vergangenen Jahr die schlimmste Dürre seit 50 Jahren hinter sich gebracht. Noch nie sei der Wasserstand am Staudamm geringer gewesen als damals.
Konfrontiert mit den Argumenten, schüttelt der Chefingenieur der Anlage energisch den Kopf. Die Bedenken seines Namensvetters ignorierten die Grundidee der höheren Staumauer, sagt Zhang Xiaoting. Der beleibte Mann trägt ein geringeltes Polohemd zu schwarzen Hosen und Lederslippern. Auf der Baustelle am Damm muss er wie jeder andere einen Helm tragen. Das größere Speichervolumen bedeute gerade nicht, dass flussabwärts weniger Wasser fließe, versichert er, „sondern das Gegenteil”. Obgleich in den Stausee im Trockenhalbjahr 2011 nur 3 Kubikmeter in der Sekunde zugeflossen seien, habe das Wehr 398 Kubikmeter abgeben können – dank des Reservoirs. Mit der Erhöhung garantiere man ganzjährig 400 Kubikmeter. Die Verträge stellten sicher, dass die Versorgung der Haushalte, der Landwirtschaft und Industrie Priorität genieße, verspricht Zhang Xiaoting. „Wir kümmern uns zuerst um den Han-Fluss. Erst dann um Peking.”
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