Irgendwie wirkt die einsam an der Ampel stehende Frau wie von der Welt verlassen. Alleine steht sie im Zentrum der japanischen Hauptstadt Tokio am Fußgängerüberweg vor dem Haupteingang der Unternehmenszentrale der Tokyo Electro Power (Tepco), der Betreibergesellschaft der havarierten Atomreaktoren in Fukushima. In der Hand hält sie ihr rosa Megaphon. Die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, das Gesicht mit einem gelben Tuch verhüllt, verbirgt sie ihre Identität. Es ist kühl an diesem Tag. Sie trägt einen dicken olivgrünen Parka, manchmal trinkt sie einen Schluck aus der Wasserflasche aus ihrem rosa Rucksack. Es ist Mittagszeit. Aus dem Tepco-Eingang auf der gegenüberliegenden Straßenseite drängen die Angestellten hinaus ins Freie. Dunkele Anzüge, gedeckte Krawatten; keiner der Männer würdigt die Frau auch nur eines Blickes, die ihnen mit überschlagender Stimme ihren Protest gegen Fukushima und Atomkraft in Japan entgegen schreit. Der eine oder andere Passant aus den umliegenden Büros, der auf dem Weg zum Mittagessen in der Stammkneipe an der roten Ampel warten muss, riskiert verstohlen einen Blick auf diese einsame Kämpferin gegen Atomkraft. Doch niemand stoppt, niemand spricht sie an.
Die junge Frau macht unverdrossen weiter. Sie fragt, „was habt ihr gemacht in Fukushima?” Von der gegenüberliegenden Straßenseite beäugen sie zwei Polizisten misstrauisch. Die Stimme der Frau wird schrill. „Schützt endlich unsere Kinder!”, fordert sie. Mich beeindruckt diese Frau, ich hole meinen Fotoapparat aus der Tasche, ein schneller Schnappschuss. Wer die japanische Kultur kennt, in der Auffallen, offene Kritik an den herrschenden Verhältnissen bis heute ein unumstößliches Tabu sind, der ahnt, was diese Frau mit ihrem öffentlichen Protest wagt. 70 Prozent der Japaner wollen neusten Umfragen zufolge nach der Katastrophe in Fukushima auf Atomkraft verzichten. Dennoch gibt es keine Anti-AKW-Bewegung wie in anderen Ländern. Das ist die Schattenseite der zwei Gesichter, die Japaner gerne zeigen, des „Honne” und „Tatemae”. Tatemae – Maskerade – bezeichnet im Japanischen das Verhalten und Äußerungen in der Öffentlichkeit. Die eigenen Wünsche – Honne – bleiben dabei oft verborgen. Nur vor wirklich engen Freunden und vertrauten Partnern ist Tatemae nicht notwendig. Auch deswegen eilen selbst mögliche Sympathisanten nach einem kurzen Blick auf die Frau schnell weiter.
Ihr Gesicht ist auf dem Foto nicht zu erkennen. Warum die einsame Kämpferin also nicht auf Facebook zeigen? Das Echo war beeindruckend. „Die Frau ist eine Geschichte wert”, hieß es. Doch wie findet man unter mehr als 30 Millionen Menschen im Großraum Tokio eine Frau wieder, die manchmal in der Mittagszeit allein gegen Atomkraft demonstriert? Es hat geklappt, über das Internet. „Das ist eine Freundin, die kenne ich”, meldete sich Yukiko Takahashi, eine 27 Jahre alte Juristin aus Fukushima, die von Twitter bis zu ihrem eigenen Blog alle Möglichkeiten intensiv nutzt, ihre Landsleute gegen Atomkraft zu mobilisieren. Ein Treffen ist schnell verabredet.
„Ja, das bin ich”, sagt Ryoko Muto, als sie das Foto sieht. Dann lacht sie. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich fotografiert worden bin.” Kurz zuvor hätten die Sicherheitskräfte vor Tepco sie gerade mal wieder barsch darauf hingewiesen, dass sie nur auf der gegenüberliegenden Straßenseite protestieren dürfe. „Da war ich so wütend, dass ich vielleicht ein bisschen aufgeregt war”, meint sie. Muto ist 38 Jahre alt, Hausfrau und Mutter von zwei Töchtern, 5 und 8 Jahre alt. Aufgewachsen ist sie in Ibaraki, der Nachbarpräfektur von Fukushima. Ihre Heimatstadt liegt gerade mal 20 Kilometer entfernt vom Atomkraftwerk Tookai. Wie die meisten Japaner glaubte sie den Beteuerungen der Energieunternehmen und der Regierung in Tokio, die Atomanlagen des Landes seien 100 Prozent sicher. „Ich konnte die Meldungen aus Fukushima am 12. März zuerst auch gar nicht glauben”, erzählt sie. „Von Atomkraft und den Risiken hatte ich doch keine Ahnung.”
Die Wende im Leben der Ryoko Muto kam am 28. Dezember vergangenen Jahres. Gemeinsam mit ihren beiden Töchtern demonstrierte sie damals vor die Tepco-Zentrale. Frauen aus Fukushima hatten sich damals dort angemeldet, um der Führung des Energieunternehmens eine Petition mit ihren Bitten und Fragen zu überreichen. Mutos Kinder hielten ein selbstgemaltes Bild in den Händen: Ein Apfelbauer ist darauf zu sehen, Kühe, Schweine, grünes Gras – und die Bitte „gebt uns Fukushima zurück”. Auf dieser Demonstration lernte Muto Yukiko Takahashi kennen. „Ich komme aus Fukushima”, berichtet die junge Frau, „und dann sehe ich diese Familie mit diesem Bild.” Vor Rührung seien ihr damals die Tränen in die Augen getreten. Muto und Takahashi beobachteten, wie Sicherheitskräfte von Tepco die älteren Frauen aus Fukushima brüsk zurückdrängten. „Niemand hat sich die Mühe gegeben, wenigstens mit ihnen zu sprechen”, empört sich Muto. „Verantwortung für das, was sie getan haben?” Die Frau verzieht das Gesicht, als wolle sie ausspucken. In diesem Moment habe sie entschieden, von nun an immer wieder ihre Stimme gegen Atomkraft in Japan zu erheben. „Ich war wütend, dass die die Frauen nicht reingelassen haben”, sagt sie, „so arrogant kann Tepco mit den Opfern einfach nicht umgehen.”
Zuhause hat sie dann alles geplant. Ihrem Mann verriet sie nichts. Er ahnt bis heute nicht, dass seine Frau immer wieder in der Mittagszeit für ein, zwei Stunden nach Tokio fährt. „Der würde sich nicht nur Sorgen machen”, erklärt sie. Bloß nicht auffallen, ist nun mal die Devise unter Japanern. Heimlich kaufte sie sich das Megaphon, das sie bis heute auch zuhause in ihrem rosa Rucksack vor der Familie versteckt. Am 4. Januar, dem ersten Arbeitstag nach den Neujahrsfeiern in Japan, brachte Muto gegen 11 Uhr das Pausenbrot zu ihrer jüngsten Tochter in den Kindergarten. Die Älteste war schon in der Schule. „Dann bin ich los.” Die Mutter bestieg die Vorortbahn und fuhr von ihrer Wohnung in der Nachbarprovinz Saitama nach Shimbashi, dem Bahnhof nahe der Tepco-Zentrale. „Ich wollte nur nicht nur meinen eigenen Ärger ausdrücken, ich will auch etwas für die Menschen in Fukushima tun, die von Tepco betrogen werden”, sagt sie.
Muto ist, anders als ihre Freundin Takahashi, keine Intellektuelle. Sie ist eine einfache Frau. Und doch kann sie sehr klar erklären, warum sie Tag für Tag einsam protestiert. Das sei auch ein Protest gegen Japans Massenmedien, die wider besseres Wissen und wegen ihrer finanziellen Verflechtung mit Tepco unliebsame Wahrheiten unterdrückten. Wenn es die Öffentlichkeit nicht gebe, dann wolle wenigstens sie versuchen, eine Gegenöffentlichkeit gegen Politik und Energiewirtschaft zu schaffen. „Ich will zeigen, dass es Widerstand gegen die Atomkraft in Japan gibt.” Bisweilen greift Muto dabei schon mal zu drastischen Worten. „Kussottare!”, ruft sie, „was für eine Scheiße.”
Tut sie das, wird sie umgehend von Polizisten ermahnt. „Benutzen Sie bitte kein unhöfliches Vokabular”, sagen die Ordnungskräfte dann, die zum Schutz der Tepco-Zentrale abkommandiert worden sind. Als Muto diese Geschichte erzählt, grinst sie breit über das Gesicht und schiebt ihre Schirmmütze in die Stirn. „Ich bin Mutter von zwei kleinen Kindern”, sagt sie. „Da greift man auch zu kräftigeren Worten, damit einem zugehört wird.” Nur das will sie, dass die Menschen, vor allem die Beschäftigten von Tepco, ihr zuhören. Sie sollen endlich über das nachdenken, was in Fukushima nach dem 11. März passiert ist. Sie sollen nicht mehr, wie die politische Klasse, wie Tepco, wie die meisten der eilig vorübereilenden Passanten, den einfachen Weg gehen und schlicht verdrängen, was passiert ist. Mitstreiterin Takahasi nickt. „Ich verstehe nicht, dass die Leute so weitermachen, als wäre nichts geschehen”, sagt sie. Am Wochenende fährt Takahashi oft von Tokio nach Fukushima, um ihre Familie und ihre Freundin zu besuchen. „Und dann sehe ich, dass nichts mehr normal ist, nichts…”
Eine Stunde Fahrt sind es jedes Mal für die Demonstrantin. Ihre Zeit ist begrenzt, vor 11 kann sie nicht weg, dann bringt sie ihrer Kleinen das Pausenbrot. Und spätestens um 14 Uhr 30 muss sie zurück sein, dann kommt die älteste Tochter aus der Schule. Nicht nur ihr Mann, auch Nachbarn und manche ihrer Freunde wissen nichts von Mutos mutigem Protest. „Das bleibt mein Geheimnis”, sagt sie. Dabei ist das Risiko groß, dass sie auffliegt. Ihr Mann arbeitet nur wenige Gehminuten von der Tepco-Zentrale entfernt. Er nutzt dieselbe Bahn. Was würde passieren, wenn ihr Mann auf dem Weg zum Mittagstisch in eine der vielen Kneipen sie zufällig sehen würde? Muto lacht – und schweigt-
Seit einer Woche kommt sie nicht mehr jeden Tag. „So einmal in der Woche schaffe ich es jetzt noch”, sagt Muto. Auf die Dauer sei der einsame Kampf doch zu aufreibend. Doch der Protest sei wichtig. Manchmal raunen ihr Passanten zu, „ganbatte”, „weiter so, viel Erfolg”, wenn sie ihren einsamen Protest über die Straße schreit. Plötzlich sehen die Augen der sonst so kämpferischen Frau traurig aus. „Das passiert leider nur selten, sehr, sehr selten”, flüstert sie. Japans Regierung bereitet derweil ihre neue Energiestrategie vor. Zwischen 20 und 30 Prozent solle die Atomkraft auch in Zukunft zur Energieversorgung des Landes beitragen, heißt es.