Der Wind hat gedreht. Keine Konferenz der vergangenen Jahre kam ohne den Lobgesang auf Indiens Öffnung aus. Die Skandale der vergangenen Jahre, die Gerontokratie der politischen Elite, das Schmelzen der Wachstumsrate lassen Asiens viertgrößte Volkswirtschaft nun hart in der Wirklichkeit aufschlagen. Ändern sich die Politiker nicht rasch, wird Indien große Chancen verspielen.
Von Christoph Hein
Das fehlte gerade noch: Während in China die Spekulationen über einen Machtkampf in der allmächtigen Kommunistischen Partei ins Kraut schießen, nachdem diese den früheren Handelsminister Bo Xilai abservierte, wird in Indien über einen Beinahe-Militärputsch getuschelt. Auslöser soll der verärgerte indische Armeechef V K Singh sein, der sich mit der Regierung nicht über sein Geburtsjahr und damit das Jahr seines Abtritts einigen konnte. Das Schlimme daran ist nicht der Umstand, dass Singh angeblich zwei Bataillone gen Delhi schickte, was die Regierung dort in Alarmbereitschaft versetzt haben soll. Das Schlimme daran ist, dass inzwischen niemand mehr Zweifel daran hegt, dass genau dieses in der größten Demokratie der Erde möglich sei. Im Indien dieser Tage kann kein Skandal absurd genug, kein Gerücht zu abstrus sein, um Anhänger zu finden. Daran ist nicht die bunte Medienszene des Landes schuld. Sondern ein Verhalten der Eliten, denen alles zuzutrauen scheint.
Indien war der Superstar unter den Wachstumsmärkten – sympathisch, denn anders als China eine Demokratie. Einfallsreich, denn hier versprachen Datendienstleister wie Infosys, TCS oder Wipro die gewohnten Schritte der wirtschaftlichen Entwicklung einfach zu überspringen. Charmant, denn die Burgen Rajasthans und die Flüsse Keralas verzauberten Touristen. Geheimnisvoll, denn seine Götterwelt ist bunt und undurchdringlich. Und weltoffen, denn seine Elite spricht lupenreines Englisch. Längst aber zerstört Indien sein über Jahre aufgebautes, positives Image im Tagesrhythmus. Der Aufschlag auf dem Boden der Realität ist hart. Noch ist offen, ob Indiens Politiker Lehren daraus ziehen werden. Nicht viel spricht dafür.
Sicher, die gefürchtete „Hindu Rate of Growth”, eine Wachstumsrate von 2 bis 3 Prozent jährlich, hat die viertgrößte Volkswirtschaft Asiens hinter sich gelassen. Doch ausgerechnet der als Reformer gewählte Regierungschef Manmohan Singh verheddert sich in Untätigkeit, getrieben von rivalisierenden Politikern. Die Opposition bietet keine Alternative. Die Gerontokratie Neu Delhis überzieht das Land mit Spinnweben. Die Zukunftshoffnung Rahul Gandhi scheiterte an seinen eigenen Unzulänglichkeiten. Den ehrlichen Wirtschaftsführern bleibt nur, sich zu arrangieren und ihre Unternehmen trotz der Zustände wachsen zu lassen.
Das Land ist gelähmt von Betrugsfällen, Rechtsunsicherheiten, Ideenlosigkeit, Versagen bei der Umsetzung. Eine Auswahl umreißt die Spannweite: Ein Arztehepaar schließt sein 13jähriges Dienstmädchen über fünf Tagen in der Wohnung ein, während es in Urlaub fährt. Da erst rückt das Elend der Kinderarbeit in Indien wieder in den Fokus. Ein deutscher Maschinenbauer muss auf die Fertigstellung seiner Fabrikhalle Jahre warten, weil er sich weigert, ein paar Dutzend Euro Bestechungsgeld zu zahlen. Die Zahl der Stromausfälle nimmt zu, so wie die Verkehrsstaus aufgrund einer völlig mangelhaften Infrastruktur. Gesetze wie dasjenige gegen die Korruption oder jenes zur Öffnung des Landes für ausländische Supermarktketten scheitern in letzter Minute. Die als Ikonen des indischen Wirtschaftswunders geltenden Fluglinien trudeln von Krise zu Krise. Die Commonwealth-Spiele, gehandelt als Symbol eines neuen Indien, waren von Korruption bestimmt. Die Vergabe von Mobilfunklizenzen könnte den Staat 30 Milliarden Dollar gekostet haben, nun wird über entgangene Einnahmen in vielfacher Höhe beim Abbau von Rohstoffen spekuliert. Über Baumwolle wird ein Exportstopp verhängt, dann unterhalten sich die Minister darüber und er wird wieder aufgehoben, dann wieder verhängt. Ausländische Investoren staunten, als die Regierung einen Richterspruch zur fragwürdigen Besteuerung von Auslandsinvestitionen überstimmte. Der Bau von Sonnenkraftwerken, den der deutsche Steuerzahler fördert, wird blockiert. Die Rupie schwächelt unterdessen, die Haushaltslücke wächst. Die jüngst ausgewiesenen 6,1 Prozent Wachstumsrate reichen nicht, um den jungen Indern Arbeit zu bieten. So wird die hoch gehandelte „demographische Dividende” zum demographischen Sprengstoff. Die Liste ließe sich problemlos um das Doppelte oder Dreifache erweitern.
Natürlich wächst Indien weiterhin schnell. Nur: Die Kurve flacht ab. Schlimmer noch: Viel mehr wäre drin. Die Schuldigen dafür sitzen in Neu Delhi und in den Landesregierungen. Es sind Politiker, die das Land aufgrund ihrer Eigeninteressen ausbremsen. Treiben kann sie nur noch eines: Sorge, vielleicht Angst. Der Soziologe Sandeep Shastri der Jain University in Bangalore macht eine wachsende politische Konfrontation aus: „Da ist eine ganz breite Unruhe in großen Teilen des Volkes zu spüren, die zu einem Crescendo anschwellen wird”, orakelt er.
Angesichts dieser Zustände drängen sich zwei Fragen auf, die besonders Deutsche ungern stellen: War es naiv zu glauben, die florierende Privatwirtschaft werde den maroden Staatsapparat vor sich her treiben und zu Änderungen zwingen? Und ist eine Demokratie indischen Zuschnitts für bestimmte Phasen des Aufschwungs eines Entwicklungslandes wirklich die richtige Regierungsform?
Ich hatte und habe das Glück,...
Ich hatte und habe das Glück, viel in Ländern Asiens arbeiten zu dürfen, darunter vor allem auch Indien, Indonesien, Vietnam und auch China. Und ich sage schon seit jedem, auch wenn es nicht gerne gehört wird, dass Indien nicht ein zweites China ist und deswegen nicht einen so gradlinigen und schnellen Weg der Entwicklung gehen wird. Nur ist es leider politisch höchst unkorrekt, bei einem solchen Thema Tatsachen offen anzusprechen. Nein, die Demokratie taugt in diesem Entwicklungstadium nicht, wirklich nicht. Wie Hein sehr schön aufzeigt, beschäftigten sich die indische politische Elite vor allem mit sich selbst und ihrer Bereicherung, danach noch mit ihrem Bundesstaat und ihrer Ethnie. Aber Interesse für ihr Land? Fehlanzeige! Das ist der Unterschied zu China und Vietnam und selbst zu “neuen” Demokratie Indonesien: Dort haben die Eliten eine Vision zur Entwicklung ihres Landes und die setzen sie durch ohne viel Diskussion. Selbst Suharto, dieser Gauner, hat neben den mehreren Milliarden Dollar für sich selbst, immer auch etwas für sein Land gewollt. Und so seltsam uns die sozialistischen Planzahlen in China und Vietnam auch vorkommen mögen: die politischen Eliten ziehen und schubsen ihre Länder vorwärts mit klaren Entwicklungszielen (Vietnam soll aus der Armut komme und ein Industrieland werden: und siehe das: jetzt sind sie schon ein “middle-income country” nach gut 20 Jahren seit der Öffnung). Das bedingt weniger Rücksichtnahme auf Einzelinteressen (Ethnien) und Provinzfürsten und mehr ein gemeinsames Ziel. Wo findet sich sowas in Indien? Dort ist es wichtiger, spaltende Kastengrenzen einzuhalten als dieses hindernde Element zu überwinden. Was kümmert es die indische Elite, dass die Zhal der Armen mehrere hundert Millionen Menschen umfasst und wächst statt geringer wird. China und Vietnam haben staatliche Armutsminderungsprogramme, die umgesetzt werden und wirken! Die Länder investieren massiv in Infrastruktur jeder Art und es zahlt sich aus, während Indien verrottet (sorry!). Und als Gipfel der politschen Unkorrektheit sei angemerkt: auch Religionen und / oder Kulturphilosophien haben einen Einfluss (auch wenn man das nicht sagen darf): der Hinduismus ist eine Jenseits-bezogene Religion. Der das Leben bestimmende Konfuzianismus (keine Religion) in China und Vietnam ist gegenwartsbezogen: Arbeite und schaffe hier und jetzt und investiere in die Bildung Deiner Kinder! Da staunen dann die Inder, wenn sie nach Vietnam kommen und sehen, dass auf Baustellen auch am Wochenende und z.T rund um die Uhr gearbeitet wird….
Indien? sicher kein zukunfstfähiges Modell!
Unter welchen Bedingungen ist...
Unter welchen Bedingungen ist eine Demokratie welchen Zuschnitts überhaupt die richtige Regierungsform? Unterhalten wir uns 100 Jahren nochmal über die Staaten Europas…