Gut ein Jahr nach der Atomkatastrophe in Fukushima ist keines der 54 Atomkraftwerke mehr am Netz. Jetzt wird der nicht geplante Atomausstieg langsam wieder rückgängig gemacht.
Es ist spannend, was in Japan dieser Tage hinter den Kulissen stattfindet. Regierung, und Wirtschaft ringen darum, ob und wie schnell die drittgrößte Industrienation der Welt wieder in die Atomkraft einsteigt. 54 Atomkraftwerke hat Japan. Bis zur Atomkatastrophe in Fukushima im März 2011 produzierten sie gut 30 Prozent des Stroms. Heute ist keiner der Atomreaktoren mehr am Netz, der letzte wurde Anfang Mai wegen Wartungsarbeiten vom Netz genommen.
Während in Deutschland schon der Ausstieg aus der Atomkraft bis 2022 ernsthafte Zweifel daran wachsen lässt, ob die sichere Energieversorgung – überlebenswichtig für ein Land, dass seinen Wohlstand vor allem der Exportindustrie verdankt – hat Japan den Atomausstieg binnen eines Jahres gemacht. Nicht geplant, nicht freiwillig. Stromsperren, Blackouts gab es dennoch nicht. Japan hat alle alten Kraftwerke reaktiviert, kauft den Markt für Flüssiggas leer und verbrennt Öl wie lange nicht mehr. Weil sich in den Regionen der Widerstand dagegen hält, die gewarteten Atomreaktoren wieder ans Netz gehen zu lassen, sind bislang alle außer Betrieb geblieben. In Europa sind viele Menschen erstaunt, dass es trotz Fukushima in Japan keinen großen, organisierten Anti-AKW-Protest gibt wie in Deutschland. Der heimliche japanische Widerstand ist im Ergebnis aber offenbar erfolgreicher gewesen.
Doch die Front der Atomkraftgegner bröckelt, die bislang verhindert haben, dass Atomreaktoren wieder ans Netz gehen. Der Rat der Stadt Oi sprach sich jetzt dafür aus, die beiden Atomreaktoren nahe der Stadt wieder ans Netz gehen zu lassen, nachdem die Regierung in Tokio und die Aufsichtsbehörden die Sicherheit der Reaktoren bekräftigt hatten. Es sind die beiden ersten Reaktoren, die von der Regierung wieder als sicher erklärt worden sind. Der Gouverneur der Präfektur Fukui, die im westlichen Japan vor den Toren der Ballungsräume Kyoto und Osaka gelegen ist, hatte sich zuvor in einer Umfrage der Zeitung „Yomiuri” bereits öffentlich darauf festgelegt, dass er den Neustart der Atomreaktoren wohlwollend prüfen werde.
Japans Regierung nimmt das mit Erleichterung zur Kenntnis. Die Entscheidung der Stadträte zeigt, dass die Rechnung von Industrieminister Yukio Edano und der Regierung in Tokio aufgehen könnte, die beiden Reaktoren in Oi noch vor der Sommerpause wieder zu starten. Widerstand kommt vor allem noch vom Bürgermeister der Metropole Osaka, Toru Hashimoto. Der Führer einer populistischen Regionalpartei hat Ambitionen, in Japans großer Politik mitzumischen. Er züchtigt Lehrer, die nicht aufstehen und mitsingen wollen, wenn beim Flaggenappell zum Schulbeginn die Nationalhymne gesungen wird, er will das Pazifismusgebot in Japans Verfassung kippen – und er wendet sich gegen die Atomkraft.
Eine Umfrage der Zeitung „Yomiuri”, die sich in ihrer Berichterstattung seit langem nachdrücklich für eine Zukunft der Atomkraft in Japan einsetzt, zeigte, dass mittlerweile immerhin 6 der 34 Präfekturen und Gemeinden Japans, in denen es Atomkraftwerke gibt, den Neustart ihrer Reaktoren befürworten oder ihm zumindest wohlwollend gegenüberstehen. Dazu gehört auch die Stadt Tomari auf der nördlichen Insel Hokkaido, deren Atomkraftwerk vor einer Woche wegen Wartungsarbeiten als letztes vorübergehend vom Netz genommen worden ist. Der Bürgermeister sagte, er werde einer Wieder-Inbetriebnahme „bedingungslos” zustimmen. Viele der Bürgermeister und Gouverneure, die sich bislang noch nicht festgelegt haben, erklärten in der Umfrage der Zeitung, sie würden ihre Entscheidung davon abhängig machen, wie die Entscheidung in Oi in diesem Sommer ausgeht.
Industrieminister Edano und Regierungschef Yoshihiko Noda hatten bereits Mitte April entschieden, die Reaktoren in Oi sollten wieder ans Netz gehen, nachdem die Atomaufsicht die Sicherheit bestätigt hatte – trotz des anhaltenden Widerstands aus den benachbarten Präfekturen Kyoto, Shiga und Osaka. Die Regierung weist deswegen in Hintergrundgesprächen auch immer wieder darauf hin, dass die Zustimmung dieser Städte und Präfekturen nicht zwingend notwendig sei.
Edano steht bei seiner Entscheidung unter starkem Druck der Industrie. „Das Risiko wird zu groß, in Japan zu produzieren, wenn es ewig so ein großes Energieproblem mit sich herumschleppt”, erklärte der Chef des Industriekonzerns Komatsu, Masahiro Sakane, zum Beispiel, der nur eine von vielen Stimmen ist, die von der Regierung ein offensiveres Eintreten für die Atomkraft fordern. Vor der Katastrophe in Fukushima produzierte Japan gut 30 Prozent seines Stroms mit Atomkraftwerken. Um die Lücke zu füllen, sind in den vergangenen Monaten nahezu alle alten fossilen Kraftwerke des Landes wieder in Betrieb genommen wurden. Die Kosten für Öl- und Gaseinfuhren haben die Handelsbilanz der Exportnation 2011 tief in die roten Zahlen gedrückt, 2012 sieht die Lage noch dramatischer aus. Der rasant schnelle Ausstieg bedroht die Stellung Japans als Industrienation.
Edano versucht deswegen, eine breitere Zustimmung zum Wiederstart der Reaktoren in Oi zu bekommen, und warnt, in den Großräumen Osaka und Kyoto, wo so bekannte Unternehmen wie Panasonic ihre Produktionsstätten haben, drohten sonst im Sommer Stromsperren. Die Regierung in Tokio hat offiziell eine Energielücke von 15 Prozent in der Region festgestellt, wenn die Atomreaktoren abgeschaltet bleiben. Wie es der Zufall will, könnte die erwartete Nachfrage von 29,88 Millionen Kilowatt den offiziellen Statistiken zufolge im Sommer gerade dann fast auf den Punkt genau befriedigt werden, wenn die umstrittenen Atomreaktoren in Oi wieder ans Netz gehen.