Von CHRISTIAN GEINITZ
Hier fühlen sich nicht nur Kolonialisten wohl! Keine andere Unterkunft im ostchinesischen Badeort Qingdao besitzt mehr Flair als das „Zhanqiao Prince Hotel”. Der hellgetünchte Bau liegt direkt gegenüber der Landungsbrücke nicht weit vom „Strand Nummer 6″ entfernt. Aus der Beletage, die ihren Namen hier zu recht trägt, bietet sich ein wunderbarer Blick weit über die Bucht. Die Uferpromenade mit den sattgrünen Pinien heißt Taiping Lu, zur Zeit der deutschen Herrschaft war es die Kaiser-Wilhelm-Straße. Damals nannte sich unser Grandhotel nach dem Bruder des Monarchen „Prinz Heinrich”.
Die Fassade hat sich seit damals stark verändert, auch im Innern regiert Historismus statt Historie. Dennoch schwirrt die Grandezza vergangener Zeiten noch immer durch das Haus mit seinen dunkelgetäfelten Korridoren, der geschwungenen Freitreppe und den nachgemachten Jugendstilleuchten.
Das Café gegenüber der Rezeption erinnert unvoreingenommen an die Zeit von 1897 bis 1914, als die deutsche Kolonialstadt „Tsingtau” hieß und das umliegende Schutzgebiet so wie heute das Lobbycafé, „Kiautschou”. An den Wänden hängen Fotografien und Zeichnungen aus der Besatzungszeit, eine Vitrine präsentiert drollige Trouvaillen: Teller des „Seemannshauses Tsingtau” mit Doppeladler, die Zwiebelmuster-Kaffeekanne eines deutschen Hausstandes, einen Hofbräuhaus-Humpen des Lokals „Maxim Tsingtau”.
Aufgeschlagen ist auch eine Seite des Berliner „Illustrierten Weltblatts ,Reporter‘” von 1897 mit Heldengeschichte und martialischer Zeichnung zur „Besetzung Kiau-Tschous” durch die deutschen Truppen. Aus einem alten Reiseführer erfahren wir, dass das „Prinz Heinrich” als erstes Haus am Platze über 40 Suiten verfügte sowie über „Damen-, Klub- und Lesezimmer”. Offenbar logierte man hier monatsweise und zwar für 100 bis 150 Dollar.
Wer heutige Reiseführer studiert, könnte meinen, Qingdao sei ein hübsches Seebad im europäischen Stil wie Heiligendamm oder Brighton. Tatsächlich aber ist die wichtigste Stadt der Provinz Shandong südlich von Peking in weiten Teilen genauso zugepflastert, verkehrsgeplagt und letztlich hässlich wie alle chinesischen Metropolen. Kein Wunder, denn hier leben mehr als doppelt so viele Menschen wie in Berlin. Es gibt einen internationalen Flugplatz, einen der größten Häfen Chinas, Kohlekraftwerke, Betriebe zur Ölverarbeitung und riesige Gewerbegebiete mit Werften und Schwerindustrie.
Was Qingdao (Chinesisch für „grüne Insel”) in Fernost dennoch unverwechselbar macht, findet sich auf sehr kleinem Gebiet entlang der Südküste mit ihren kleinen Buchten und Halbinseln. Zum einen ist das schmucke Marina-Viertel an der Fushan Bucht zu erwähnen, das für die Segelwettbewerbe der Olympischen Spiele 2008 zu baulichem und ästhetischem Weltstandard aufgemotzt wurde. Zum anderen macht tatsächlich das deutsche Erbe die Stadt zu etwas besonderem.
Die zur Versorgung der kaiserlichen Soldaten gegründete Brauerei besteht bis heute. Sie ist Chinas wichtigster Bierexporteur und trägt den alten Namen „Tsingtao” in alle Welt hinaus. Selbst viele einfache Gaststätten in der Stadt servieren das Getränk auf recht unchinesische Art vom Fass – allerdings ohne Kompressor und Kühlung. Wenn man nicht aufpasst (oder Durst hat), kommt es in Saftkrügen („Da Zha”) an den Tisch. Gebraut wird die blonde Schöne zwar nicht mehr nach dem Reinheitsgebot, aber – zumindest in der Stadtbrauerei – noch immer mit dem Quellwasser aus dem nahegelegenen Laoshan-Gebirge.
Die eindrücklichsten baulichen Hinterlassenschaften der Europäer sind die protestantische Christuskirche und der Gouverneurspalast. In ersterer dürfen seit einiger Zeit wieder Gottesdienste auf Deutsch stattfinden. Obwohl die Gemeinde nur fünf Mitglieder zählt, reist dafür extra unser Pfarrer aus Peking an. Der eigentliche Ansturm kommt von den chinesischen Gläubigen und den Südkoreanern, welche die größte Ausländergruppe in der Stadt stellen (die Deutschen sind insgesamt nur etwa 500 hier). An Sonntagen finden zwei chinesische Gottesdienste hintereinander statt, der erste schon um halb acht Uhr, damit alle Zuhörer Platz finden. Selbst dann ist die Kirche bis auf den letzten Platz besetzt.
Der 1910 eröffnete Bau, der später den Roten Garden als Tanzsaal diente, weist eine eigenartige Wilhelminische Architektur auf. Die gelbe Außenwand ist rauh verputzt mit Wellenmustern, die an das Meer erinnern sollen. Klobige Granitbrocken ragen auf unregelmäßige Weise aus den Mauern hervor wie die fallenden Steine im Computerspiel „Tetris”. Den gedrungenen Turm mit der Uhr der Firma Weule aus Bockenem im Harz decken grüne Kupferplatten. Saniert wurde er mit Mitteln einer Stiftung, die in China und Deutschland Geld und Kompetenz für die Renovierung zusammenträgt. Auch einige der imposanten Bleiglasfenster wurden auf diese Weise wiederhergestellt.
Die Helfer kümmern sich auch um den Gouverneurspalast, der von ähnlich trutziger Bauart ist wie die Kirche. In ihm finden sich viele Originalmöbel bis hin zum Tresor des deutschen Statthalters und einem Blüthner-Flügel aus Leipzig. Angeblich besuchen jährlich 500.000 Interessierte das Museum, vor allem natürlich Chinesen. Besonders eng wird es in dem Zimmer, in dem sich Mao Tse-Tung einst einquartierte, vom 12. Juli bis zum 11. August 1957, wie eine Tafel verrät. Das improvisierte Bett im Erdgeschoss steht bis heute dort, frisch bezogen mit einem weißen Laken. Nach dem Rundgang kann man auf einer beschatteten Terrasse speisen, sie gehört zum „Ratskeller-Restaurant”.
So fesselnd und auch ein bisschen rührend das koloniale Erbe ist, so gibt es in Qingdao doch noch viel mehr zu entdecken. Zum Beispiel die längste Brücke der Welt, die über Wasser führt. Das Guinnessbuch der Rekorde, das diesen Titel ausweist, nennt eine Gesamtlänge von 42,5 Kilometern. Das könnte stimmen, denn wir sind auf ihr bei Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h tatsächlich eine halbe Stunde unterwegs gewesen. Eine halbe Stunde auf einer Brücke! Es ist auch die einzige Überquerung, die ich kenne, in der plötzlich – mitten über dem Wasser – eine Abzweigung auftaucht. Eigentlich verbindet der Bau Qingdao im Osten mit Huangdao („gelbe Insel”) im Westen. Doch es gibt eben auch einen Arm, der nach Norden führt, nach Hongdao („rote Insel”). Die endlose Konstruktion überspannt die Jiaozhou-Bucht, nach der die Deutschen einst ihren Außenposten „Kiautschou” nannten.
Etwas anderes fiel mir auch auf in Qingdao. Dort sind Hunderte, vielleicht Tausende dreirädriger Vehikel im Einsatz. Diese knallroten Kabinenroller sind vollgestopft mit Menschen und Gepäck und operieren als Alternative zu Taxis. Das Bemerkenswerte daran ist, dass sie von Fahrern mit leichten Behinderungen gelenkt werden. Nur sie bekommen überhaupt die Lizenz, diese „Beng Beng Che” zu führen. Sonst trifft man in Chinas öffentlichem Leben kaum auf Behinderte, außer auf Bettler. Ihre Versorgung durch Wohlfahrt oder Versicherungen ist sehr eingeschränkt, normalerweise kümmern sich die Familien um sie. Der Vorstoß in Qingdao, ihnen als Chauffeure ein Einkommen zu bescheren, erscheint ziemlich clever. Falls beim nächsten Qingdao-Besuch mehr Zeit ist, werde ich der Sache einmal genauer nachgehen.
Dann will ich endlich auch lernen, wie man Mah-Jongg spielt. Nicht so sehr wegen des Spiels selbst, sondern wegen des vollautomatischen Mah-Jongg-Tisches im „Prinz Hotel”. Das ist eine faszinierende Erfindung für jeden Technikfreak: Wenn alle Setzsteine verbraucht sind, öffnet sich eine Mulde in der Mitte des Tisches, in der sie verschwinden. Im Innern des quadratischen Möbels rumpelt es dann heftig, die kleinen bunten Klötze werden gemischt und in Form gebracht. Wie von Geisterhand erscheinen sie anschließend durch entsprechende Öffnungen wieder an der Oberfläche vor jedem der vier Mitspieler, in Reih und Glied sortiert als doppelgeschossige Mauern.
Ich muss also unbedingt zurückkommen in diese ebenso typische wie untypische chinesische Stadt an der Südküste der Shandong-Halbinsel. Das ist übrigens selbst aus Deutschland heraus gar nicht so schwierig. Lufthansa fliegt Qingdao seit neuestem aus Frankfurt an, mit Zwischenstopp in Shenyang. Wer die Heimat dann trotzdem vermisst, kann sich im Bierzelt der Fluggesellschaft darüber hinwegtrösten. Dort findet gerade das Oktoberfest statt.
Fotos itz.
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Sehr schön!
Ich habe in den...
Sehr schön!
Ich habe in den 90ern mal für etwa ein Jahr in Qingdao gearbeitet und es sehr genossen. Das Wetter ist herrlich, die Architektur einzigartig, das Shandong-Essen hervorragend. Das Laoshan-Gebirge und das Meer direkt vor der Haustür… sehr lebenswert! Seit 20 Jahren gibt es mittlerweile auch ein paar Winzer in der Gegend, die überwiegend Chardonnay und Riesling anbauen. Und was mich vor allem immer wieder fasziniert: eine Menge Gebäude in der Innenstadt, die deutliche Spuren deutscher Architektur aufweisen, stammen aus der Zeit bis zu mehreren Jahrzehnten nach Ende der Kolonialzeit. Offensichtlich haben chinesische Architekten selbst noch zu Zeiten der Volksrepublik “auf Deutsch” gebaut.
Danke für den Artikel und die schönen Erinnerungen! Auf dem Gelände des Gouverneurspalastes kann man übrigens auch übernachten, da gibt es ein Hotel, was den großen Vorteil hat, dass man auch nach den Öffnungszeiten im Palastgarten spazieren gehen kann…
Der "alte Name Tsingtau/o"?...
Der “alte Name Tsingtau/o”? Warum sollte man den denn heute nicht mehr verwenden? Die deutsche Aussprache für ts kommt der chinesischen Aussprache für q jedenfalls näher als das deutsche q. & es ist wohl davon auszugehen, daß Uneingeweihte das q eben deutsch aussprechen. Mal abgesehen davon halte ich eh nix von der “Ethnisierung” ausländischer Namen. Wenn deutsche Schreibweisen vorhanden sind, warum soll man sie nicht verwenden?
Was die Dreiradtaxis angeht, so dachte ich, diese seien in ganz China verbreitet & nur in manchen Stadtzentren verboten. Habe sie jedenfalls so ziemlich überall gesehen, wo ich bisher in China war (wenn auch in verschiedenen Ausführungen). Für Kanton kann ich auch mit ziemlicher Sicherheit behaupten, daß sie ebenfalls nur von “Behinderten” gefahren werden dürfen. “”, weil mir gesagt wurde, daß die Fahrer oft nur ein Paar Krücken als Beweis für ihre Behinderung mitnehmen.