Einst war Indiens Ministerpräsident Manmohan Singh ein Reformer. Dann saß er die wachsende Krise des Landes über Jahre nur noch aus. Nun hat er sich am Befreiungsschlag versucht. Aber greift der?
Von Christoph Hein
Geht einem mit 80 Jahren noch das Herz auf, wenn ein Beamter einem die Schlagzeilen des Tages vorliest, so dürfte eben dies dem Ministerpräsidenten Indiens gerade widerfahren sein. Der rund um die Welt für sein Zögern und Zagen gescholtene Manmohan Singh wurde von den Magazinen und Zeitungen der drittgrößten Volkswirtschaft der Erde über den grünen Klee gelobt. Endlich gute Nachrichten. Denn endlich drückte Singh die Reformen durch, die die Wirtschaftswelt seit Jahren von ihm forderte.
War es Mut? Oder war es die schiere Verzweiflung? Noch ist offen, was die indische Regierung zur Ankündigung des Reformpaketes getrieben hat. Seit der ersten Minute der Ankündigung aber war klar, dass sie für ihre Vorhaben bezahlen wird: Einem von der Opposition ausgerufener Generalstreik in einigen der indischen Metropolen folgte der Auszug des wichtigsten Partners aus der Koalitionsregierung.
Dabei hat Singh nicht mehr getan, als endlich die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Seit Jahren lavierte der als Reformer angetretene Ministerpräsident an der Spitze Indiens herum. Seine Regierung ächzte unter milliardenschweren Bestechungsskandalen. Jeden Ansatz von Reformen torpedierten entweder die Opposition oder die Koalitionspartner. Der Wert der Rupie fiel, Investitionen blieben aus, das Bruttoinlandsprodukt Indiens wächst inzwischen langsamer als dasjenige Indonesiens. Grade hat die Asiatische Entwicklungsbank ihre Wachtumsprognose aus dem April für Indien kassiert: Statt 6,5 Prozent in diesem Jahr sollen es jetzt nur noch 5,6 Prozent werden. Das Wachstum der Industrie stagnierte im Juli bei nur noch 0,1 Prozent im Jahresvergleich. Die Ratingagenturen drohten mit einer Herabstufung der Anleihen Indiens auf „Schrott-Niveau”.
Nun der vermeintliche Befreiungsschlag: Die Regierung erklärte, die hoch subventionierten und seit 14 Monaten eingefrorenen Treibstoffpreise für die Verbraucher anzuheben. Damit wird der Haushalt entlastet, gerade die indische Mittelschicht aber belastet. Zu Zeiten einer immer noch zweistelligen Inflationsrate bei den Preisen für Lebensmittel provoziert allein schon dieser Schritt zwangsläufig Wut auf die Regierung. Doch das war erst der Anfang: Ausländischen Supermarktketten wird nun erlaubt, die Mehrheit an Großmärkten in Indien zu besitzen. Damit können Wal-Mart oder Carrefour sich endlich auf den Weg machen, den auf 450 Milliarden Dollar geschätzten Markt zu erobern. Das – so sehen es Millionen von Indern – bedroht ihre Tante-Emma-Läden und ungezählte Arbeitsplätze. Zugleich wurde der erlaubte Anteil ausländischer Investoren an indischen Fluggesellschaften und an Energiebörsen auf nun 49 Prozent heraufgesetzt. Schon zeichnet sich ab, dass es zumindest für die am besten geführte Linie Jet Airways mit Etihad Airways aus Abu Dhabi einen Interessenten gibt. Schließlich wurde die lange angekündigte Privatisierung der Industrie vorangetrieben, in dem nun vier Staatskonzerne Anteile verkaufen dürfen. Auch bei Luftfahrt und der Öffnung der Staatskonzerne protestieren starke Gewerkschaften gegen drohende Verluste von Arbeitsplätzen.
Aus Sicht potentieller Investoren klingt manches rosiger, als es ist. Beispiel Supermärkte: Die Ausländer dürfen nur in Städten mit mehr als einer Million Einwohner investieren, und das auch nur, wenn die jeweilige Landesregierung zustimmt. Mindestens 100 Millionen Dollar müssen sie mitbringen, und die Hälfte davon bei den Erzeugern investieren. Ist hier der Betrag groß, ist er auf anderer Seite klein: Die Subventionen von Dieselbenzin werden von 17 Rupien auf 13 Rupien je Liter gekürzt. Statt zehn sollen die Inder in Zukunft nur noch sechs subventionierte Kochgas-Zylinder pro Jahr erstehen können. Und andere Reformen werden verpuffen. Die Öffnung des Luftfahrtsektors kommt den starken Linien wie Lufthansa-Partner Jet Airways zugute. Marode Fluggesellschaften wie Kingfisher – die aufgrund von Streiks inzwischen den Flugbetrieb unterbrochen hat – oder das staatliche Aushängeschild Air India werden es dagegen schwer haben, in diesen Zeiten einen ausländischen Partner zu finden, der dann dennoch nur die Minderheit und damit nicht das Sagen haben wird. Sie zu retten aber ist das Ziel der indischen Regierung.
Auch wenn sie nicht so tief gehen, wie sie sollten, sind alle Entscheidungen Singhs richtig und seit Jahren überfällig. Genauso klar aber war es, dass diese Entscheidungen jede Regierung der größten Demokratie der Erde an den Rand des Zusammenbruchs führen würden. Zu unpopulär sind die Folgen, zu sehr sind viele Politiker bemüht, ihr eigenes Wohlergehen über dasjenige des Staates zu stellen. Allerdings wäre es fatal für die Regierung, würde sie nun erneut unter dem Druck von Opposition und Straße umfallen – wie schon mehrfach in den vergangenen zwei Jahren.
Warum also schritt die Regierung Singh dennoch zur Tat? Zum einen wohl, weil die katastrophalen Wirtschaftsdaten ihr zumindest in Kreisen von Industrie und Investoren die Chance gab, Reformen anzugehen, die die breite Masse schmerzen. Zum anderen, weil die Anerkennung dieser Regierung rund um die Erde geschmolzen war. Zuletzt hatte „Coalgate”, die Vergabe von Minenlizenzen an einzelnen Politikern nahestehende Unternehmen, die dann niemals Kohle förderten, auch ein schlechtes Licht auf Singh selber geworfen. Als „Versager” und „tragische Figur” stand der alte Herr da, der in jungen Jahren den Reformkurs Indiens begründet hatte. Nur ein wirtschaftlicher Wiederaufschwung könnte Singhs Kongress-Partei vor den Wahlen 2014 noch schützen. Allerdings müsste die Wachstumsrate dann wieder deutlich über 5 Prozent steigen – sonst fehlt es schon allein an Arbeitsplätzen.
Sind diese Reformen der Durchbruch für Indiens wirtschaftliche Entwicklung? Sicher nicht, denn zu angeschwollen ist das Lastenheft nach Jahren des Nichtstuns. Wohl eher waren sie die Verzweifelungstat einer scheidenden Regierung. Sie begann mit großen Versprechen. Und tritt die Flucht nach vorn an, um mit ihrer letzten Legislaturperiode nicht als Bestatter des indischen Wirtschaftswunders in die Geschichtsbücher einzugehen.