Von Christoph Hein
Noch trägt seine Partei keinen Namen. Und dennoch kennt zumindest jeder Zeitungsleser und Fernsehzuschauer in Indien das Gesicht von Arvind Kejriwal. Denn der Mann führt einen großen Kampf: Er legt sich an mit der korrupten Elite des Subkontinents, sticht mitten hinein ins Wespennest, und dies gnadenlos. Damit erzielt er Aufsehen, lehrt Politiker und Geschäftsleute das Fürchten und hat gute Chancen, jede Menge Wählerstimmen zu gewinnen. Seit Jahren arbeitet der Aktivist hinter den Kulissen. Er zog die Fäden für die auch im Westen mit großem Interesse verfolgte Anti-Korruptionsbewegung des greisen Anna Hazare mit ihren Hungerstreiks in den vergangenen Monaten.
Nun greift Kejriwal ganz oben an: bei Indiens größtem Immobilienkonzern und der Familie Gandhi, die mit der Regierungspartei gleichzusetzen ist. So warf der 44jährige der DLF Ltd. vor, Robert Varda, den Schwiegersohn von Parteichefin Sonia Gandhi, bei Immobiliengeschäften bevorzugt und ihm günstigere Kredite eingeräumt zu haben. Wie tief seine Äußerungen einschlagen, zeigte die Kursentwicklung der DLF-Aktie danach: Sie verlor zweistellig. Und das, obwohl das Unternehmen die Vorwürfe dementierte, Varda sie als diffamierend bezeichnete.
Es folgte der Angriff auf Justizminister Salman Khurshid, dem der künftige Parteigründer unterstellte, gemeinsam mit dessen Frau Louise Gelder veruntreut zu haben, die für die Förderung von Behinderten gedacht waren. Anschließend geriet Nitin Gadkari ins Visier, die Vorsitzende der Oppositionspartei Bharatiya Janata (BJP): Sie soll riesige Ländereien erworben, und das Wasser für die Felder dort in ihre Fabriken umgeleitet haben. Belegt hat Kejriwal keine der Anschuldigungen ausreichend. Doch glauben ihm die Menschen allein deshalb, weil jeder Inder ein solches Verhalten der Elite aus Erfahrung für absolut glaubhaft hält. Und das ist gefährlich.
Kejriwals Bewegung „India gegen Korruption” und die daraus entstehende Partei sind politisch schwer einzuordnen – bislang ist als einziges Ziel der Wille zum Aufräumen im Lande zu erkennen. „Unser Ziel lautet, den Menschen zu zeigen, dass alle Parteien unter geheimen Absprachen agieren, alle Parteien zu einer Familie zählen und man ihnen nicht trauen darf”, donnert Kejriwal. „Von heute an betritt das Volk die politische Bühne. Bestechliche Politiker, Eure Tage sind gezählt.” Richtig daran ist, dass Korruption und Vetternwirtschaft bis in die höchsten politischen Ebenen Indiens grassieren. Bürgerrechtler gehen davon aus, dass ein normaler indischer Haushalt gezwungen ist, etwa 30 Prozent seines Nettogehaltes für Bestechung auszugeben, um überleben zu können.
Anna Hazare war ein alter Mann, der mit seiner Aura und seinen Hungerstreiks ein Regime in die Knie zwingen wollte. Als das von ihm und seinen Anhängern geforderte Anti-Korruptionsgesetz im Parlament grandios scheiterte, zerfiel die Bewegung. Kejriwal gilt nun als größere Bedrohung für das gute Leben der Oberschicht. Auch ohne die Aura Hazares besitzt er doch den Vorteil einer passenden Ausbildung und Karriere. Aufgewachsen ist er im Bundesland Haryana in einer Familie der Mittelschicht. Seine Ausbildung absolvierte Kejriwal im weltweit geachteten Indian Institute of Technology. Natürlich fand er sofort eine Stelle bei Tata Steel, nur um nach wenigen Jahren zu kündigen und im Hilfswerk von Mutter Theresa in Kalkutta mit den Ärmsten der Armen zu arbeiten.
Es folgten 14 Jahre als Mitarbeiter eines Finanzamtes, zuständig für die Einkommenssteuer. Das hätte ihm ein ruhiges Leben und ein sicheres Auskommen – wohl auch nicht ohne Bestechungsgelder – gesichert. Der Mann mit dem dicken Schnurbart und Nickelbrille aber tat, was kaum ein Inder täte: Er schmiss den Job hin, gelangweilt, angewidert. „Ich war glücklich mit meiner Stelle, aber dann wuchs das Gefühl, dass es viel zu viel Bestechung gab, die den einfachen Mann traf. Er musste für jeden Arbeitsschritt zahlen, den ein Beamter aufgrund der Gesetzte sowieso hätte leisten müssen”, erinnert er sich. Nun gründete Kejriwal Nicht-Regierungsorganisationen und wurde 2006 für sein Engagement mit dem angesehenen Ramon Magsaysay Preis ausgezeichnet. Ihn erhielt er, weil er an vorderster Front eine gesetzlich verankerte Auskunftspflicht der Behörden mit durchsetzte – dank ihr können auch die Ärmsten zumindest Auskunft über ihre Rechte erhalten. Vor zwei Jahren dann rief er die Anti-Korruptionsbewegung ins Leben und überredete Hazare, als deren Gesicht zu fungieren.
Auf den populären Gandhi-Epigonen folgt nun der Kopf der Bewegung. Niemand zweifelt, dass Kejriwal weiß, wovon er spricht. Das macht ihn gefährlich. Zumal seine Ehefrau Sunita, Mutter zweier Kinder, eine der Direktorinnen im Büro zur Untersuchung Schwerer Betrugsfälle im Ministerium für Unternehmensangelegenheiten ist. Ohne Zweifel lebt die Familie gefährlich. Nach einer kurzzeitigen Verhaftung berichtete Kejriwal denn auch, der Justizminister habe ihn massiv bedroht – was der bestreitet. „Er sollte nicht so zu mir sprechen”, sagte Arvind Kejriwal dann. „Es nützte nichts mehr, mich umzubringen, denn das Land ist erwacht. Wenn ein Arvind ermordet wird, werden die nächsten hundert Arvinds aufstehen.” Zumindest damit könnte er recht behalten.
Wer Indien bereist und weiss...
Wer Indien bereist und weiss wie das Land funktioniert, kann den Darstellungen von Christoph Hein nur folgen. Allerdings bleibt es für die Frage des (gewünschten) Erfolges der deutschen Unternehmen fragwürdig, dass seit dem Skandal bei SIEMENS mittlerweile der Corporate Governance/Compliance Codex jedes etwas aufwendigere Abendessen oder jede Einladung der Geschäftspartner gleich unter Korruptionsverdacht stellt. Den Vertriebs- und Marketingaktivitäten werden so nicht überwindbare Hürden auferlegt, die für Unternehmen (Kontroll-)kosten in die Höhe treiben und Akquisitionserfolge schwieriger werden lassen. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte.