
Hier und heute entscheidet sich das Leben des jungen Chinesen. Es gibt einen Weg in die Freiheit, vom Festland hinüber nach Hongkong. Aber dafür muss Huang Jiang schwimmen, sehr lange schwimmen. Drüben im Osten der Landenge, die Rot-China von der britischen Kronkolonie trennt, ist der Weg übers Meer kürzer. Doch dort lauern die Haie, sagen die Leute. Also steigt Huang im Westen ins Wasser, in der Nähe eines kleinen Bauerndorfs namens Shenzhen. Dreieinhalb Stunden lang kämpft er sich durch die Bucht. Das ist anstrengend, aber möglich, denn Huang gehört zu den besten Schwimmern seines Landes. Vor einem Jahr, 1969, schaffte er den dritten Platz in den Kanton-Meisterschaften.
Die Polizei fischt ihn an Land
Plötzlich taucht die Küste auf. Erst ist es nur ein Strich, dann erkennt der Fünfundzwanzigjährige Bäume und einige Häuser. Und Menschen! Huang ruft, Huang winkt, Huang schwimmt schneller. Die anderen stürzen an den Strand und helfen ihm wenig später an Land. Sie tragen die Uniform der Hongkonger Polizei. Der junge Mann bekommt ein Handtuch, Tee, eine warme Decke und muss ein paar Formulare ausfüllen. „Dann fuhren sie mich zu meiner Tante, die schon in Hongkong wohnte. Eine Woche später hatte ich einen Pass“, erinnert sich Huang.
Heute ist er 67 Jahre alt, ein schlanker Herr in hellen Baumwollhosen und blauem Hemd, zierlich, aber sportlich geblieben und mit einem wachen, klaren Gesicht. Aus dem Flüchtling von damals ist ein reicher Mann geworden, das kleine Nest Shenzhen hat sich zu einer der größten und dynamischsten Städte Chinas mit fast 11 Millionen Einwohnern entwickelt. Längst gehören beide Buchten, zwischen denen sich der Schwimmer damals entscheiden musste, zu der Metropole. Und auch Dafen ist ein Stadtteil von Shenzhen geworden, jenes Künstlerdörfchen, das Huang nach seiner Rückkehr aus Hongkong aufgebaut und zur Blüte geführt hat.
Bis Huang kam, standen hier nur Bauernhäuser
Der alte Herr weist die Fußgängerzone hinauf, wo sich eine Galerie an die nächste reiht, dazwischen Cafés und Ateliers. „Früher waren hier Bauernhäuser und Felder – bis ich kam.“ Das ist nicht überheblich gemeint, sondern entspricht wohl der Wahrheit. Huang Jiang gilt als der Vater der vielleicht ungewöhnlichsten, in jedem Falle aber buntesten Spielart des chinesischen Aufschwungs. Aus einem verschlafenen Örtchen hat er in den vergangenen 24 Jahren ein Weltzentrum für Kopisten gemacht, eine Fließbandproduktion für Ölgemälde und Massendekorationen aller Stilrichtungen.
Heute stehen hier rund 1000 Werkstätten mit 6000 Mitarbeitern, sagt Feng Jianmei, die stellvertretende Direktorin des örtlichen Verbands der Kunstindustrie. 80 Prozent der Werke seien Ölgemälde. Zur besten Zeit sei vermutlich jedes zweite in internationalen Kaufhausketten oder Möbelhäusern verkaufte Ölbild aus Dafen gekommen. Zum Umsatz gibt es nur Schätzungen. Feng selbst nimmt mit ihrem 35 Malern 12 Millionen Yuan im Jahr ein (1,5 Millionen Euro). Rechnet man den Umsatz je Mitarbeiter auf die Gesamtzahl hoch, sind es in ganz Dafen 2,1 Milliarden Yuan, mehr als 250 Millionen Euro. Nicht schlecht für vier Quadratkilometer in einem Schwellenland.
Als Huang Jiang damals aus China wegging, waren solche Erfolgsgeschichten undenkbar. Zumal für einen wie ihn in der Mao-Zeit. Sein Vater hatte der Kuomintang angehört, der Gegenseite im Bürgerkrieg. Er kam 1950 in Haft und starb dort. Mehr will der Sohn dazu nicht sagen. Doch klar ist, es wurde eine schwere Zeit für die Angehörigen, im „Großen Sprung nach vorn“ und später in der Kulturrevolution. Die Mutter, eine Lehrerin, brachte die Familie durch, indem sie Privatstunden erteilte, darunter einem Sohn des Leiters der Kunsthochschule von Guangzhou (Kanton). Sie nahm den kleinen Huang mit in das große Haus, wo er mit Kunst in Kontakt kam, zeichnen und malen lernte.
Er nennt sich “gewerblicher Maler”, nicht Fälscher
Doch mit der Kuomintang-Vergangenheit hatte die Familie in dem repressiven System keine Zukunft, weshalb erst die Tante auswanderte und dann Huang selbst. Zunächst schlug er sich als Bürogehilfe durch, für 200 Hongkong-Dollar im Monat. Das waren keine 40 DM, aber eine Busfahrkarte kostete nur einen Cent. Hocharbeiten konnte sich der Zugereiste nicht, dafür war sein Englisch zu schlecht. Also wurde er Barkeeper, wo es Trinkgeld gab und man viele Leute kennenlernte. Huang kam mit Auftragsmalern in Kontakt, die sein Talent erkannten und ihn zum Kopisten ausbildeten, zum „gewerblichen Maler“, wie er das nennt.
Einer der Hauptkunden des Studios war die amerikanische Einkaufsmarktkette Walmart. Sie orderte Tausende billiger Ölschinken, zeigte sich aber zunehmend ungehalten über die steigenden Kosten in Hongkong. „Da witterte ich meine Chance“, sagt Huang, denn mittlerweile hatte sich das chinesische Festland für den Welthandel geöffnet. Chinas starker Mann Deng Xiaoping erklärte Shenzhen zu einer Sonderwirtschaftszone, in der man den Kapitalismus erproben wollte. Sie sollte gezielt Gründer aus dem nahen Hongkong abwerben. Leute wie Huang.
1986, sechs Jahre nach Beginn des Experiments und sechzehn Jahre nach seiner Flucht, betrat der inzwischen Einundvierzigjährige zum ersten Mal wieder chinesischen Boden. „Ich hatte maßlose Angst, aber glaubte auch an meine Möglichkeiten“, erinnert er sich. „Vorsichtshalber habe ich meinen Hongkonger Pass behalten – bis heute.“ Verstreut im Perlflussdelta, wo Shenzhen liegt, baute er einige kleinere Ateliers auf, bis er 1989 Dafen entdeckte. Der Weiler lag nahe genug an der aufstrebenden Großstadt, hatte aber seinen ländlichen Charakter bewahrt, und die Grundstückspreise waren niedrig. Huang baute eine große Werkstatt und zog alle seine 25 Maler aus den anderen Standorten hier zusammen. Über Nacht zählte Dafen 126 statt 100 Einwohner.
Sechstausend Ölschinken im Monat für Walmart
Den Kunden Walmart nahm Huang aus Hongkong mit. „Wir stellten ein einziges Bild für die her“, sagt der Unternehmer und blickt sich suchend in seinem Lager um. Dicke Stapel mit bemalten Leinwänden liegen auf dem Boden, Hunderte derselben Pariser Straßenszenen, Dutzende lieblicher Sonnenuntergänge, ein Löwenpärchen in der Savanne, höfische Momentaufnahmen aus einem längst vergangenen Europa. Huang zieht ein Bergpanorama hervor. Alpenglühen, schneebedeckte Gipfel, ein baumbestandener Strom fließt dem Betrachter entgegen. „Das ist es, unser erstes Bild“, sagt er stolz. „Jeden Monat haben wir 6000 Stück davon gemalt.“
Verschiedene Techniken hat Huang für die Massenfertigung ausprobiert, immer geht es um möglichst effizientes Arbeiten. Mal stellt ein Maler das gleiche Bild wieder und wieder her, dann teilen sich mehrere ein Gemälde, jeder trägt nur eine Farbe auf oder ein Motiv. Zu Spitzenzeiten, das war 1992, beschäftigte Huang in mehreren Werkstätten bis zu 3000 Kopisten. Sie schafften 300.000 Werke unterschiedlicher Motive im Monat, jeder einzelne vier Bilder am Tag. Bezahlt wird bis heute nach Fläche, pro Quadratmeter bekommen die Maler 300 Yuan (37 Euro).
Huangs Idee der billigen Fließbandpinselei war so bestechend und so erfolgreich, dass sie schon bald Nachahmer fand. Kaum ein Jahr nach ihm eröffnete der erste Konkurrent in Dafen: Der Kopierer wurde kopiert. „Der alte Li ist noch immer hier“, sagt Huang lächelnd und ganz ohne Missgunst. „Er ist vor allem für griechische Hafenszenen bekannt, mit Fischerbooten, Wölkchen, weißgetünchten Häusern und so.“ Aber keiner der vielen Wettbewerber, versichert der Pionier, sei jemals so groß geworden wie er selbst. Jedenfalls bis zur Finanzkrise.
Bald schon wurde der Kopierer kopiert
Bevor es im Ausland drunter und drüber ging, exportierte Huang jeden Monat Bilder für eine Million Yuan, 122.000 Euro. Doch als der Häusermarkt in Amerika zusammenbrach, brauchten die Leute keine neuen Möbel und Dekorationen mehr. Dann ging es auch in Europa bergab. „Wir waren voll auf den Westen ausgerichtet“, sagt der Unternehmer, „nach der Finanzkrise war das Geschäft kaputt“. Verbittert hat ihn das nicht und auch nicht arm gemacht, in den guten Zeiten hat er viel gespart. Heute müsse man eben andere Wege gehen, sagt Huang, etwa so wie sein Sohn. Der studiert in Peking Finanzwissenschaften.
Der Misserfolg in der Ausfuhr heißt nicht, dass die Maler von Dafen die Flinte ins Korn werfen. Sie wenden sich stattdessen neuen Märkten zu, vor allem im Inland. Feng Jianmei hat innerhalb weniger Jahre das Chinageschäft ihres Unternehmens aus dem Nichts heraus auf weit mehr als die Hälfte des Umsatzes gesteigert. Ihre Kunden sind die großen Hotelketten. Wenn diese neue Häuser eröffnen, brauchen sie Dutzende, wenn nicht Hunderte Gemälde zur Dekoration, in den Gästezimmern, in der Lobby, den Fluren und Restaurants. Die Maler stimmten sich mit den Architekten ab, damit die Farben und Muster zur Einrichtung passen, sagt die 35 Jahre alte Frau. „Keiner bildet sich ein, dass das Kunst ist, wir machen Möbelstücke wie Sofas.“
Keine Kunst, sondern “Möbelstücke wie Sofas”
Gerade hat Jiang eine Großbestellung aus Daqing in der Nordostprovinz Heilongjiang bekommen. Die im Ausland weitgehend unbekannte Stadt ist Chinas wichtigster Standort zur Erdölförderung. Hier leben fast drei Millionen Einwohner, Zehntausende Geschäftsleute zieht es regelmäßig in die Metropole. Das örtliche Sheraton-Hotel hat bei Jiang 1400 Gemälde geordert, darunter 400 identische für die Gästezimmer. „Das Geschäft ist sicherer als der Export“, glaubt die Jungunternehmerin. In China eröffneten jedes Jahr Hunderte neuer Hotels. „Und alle wollen etwas Hübsches an die Wände hängen.“
“Unseren Malern geht es besser als Van Gogh”
Die adrette Frau im roten Holzfällerhemd diskutiert gern über das Für und Wider der Auftragskunst. Dass seien keine Plagiate, argumentiert sie, die Schutzrechte seien abgelaufen, die Motive würden verändert. Die alten Meister in Europa hätten ebenfalls Werkstätten unterhalten, Dutzende Schüler beschäftigt, immer wieder dieselbe Vorlage reproduziert. Das wichtigste Argument aber ist für Jiang, dass ihre Mitarbeiter vom Malen leben können. „Sie haben ein sicheres Einkommen und widmen sich in ihrer Freizeit der eigenen Kunst.“ Bis zu 9000 Yuan verdiene ein fleißiger Kopist im Monat, mehr als 1000 Euro. Das gebe ihnen die Freiheit, ohne Kaufdruck an ihrem Lieblingsbild zu arbeiten. Jiang grinst: „Unseren Leuten geht es besser als Van Gogh.“
Im Lavieren zwischen Nachahmen und Kreativität ist Dafen gewissermaßen ein Spiegelbild für den Strukturwandel in ganz China. Die Volksrepublik will wegkommen von ihrer Rolle als Werkbank der Welt, als Massenproduzent von Billigwaren, die andere entwickelt haben. Das gelingt einigen Unternehmen im Land, und das gelingt in Dafen auch einigen Künstlern. Etwa Shi Fei. Der untersetzte Mann mit dem Bürstenhaarschnitt auf dem runden Kopf trägt eine Fleckentarnhose zur Militärjacke. Er steht vor einer mächtigen Staffelei und führt den Pinsel mit schnellen Bewegungen. Eine verwischte Großstadtszene: Autos, Doppeldeckerbusse, Lastwagen rasen durch eine Häuserschlucht einem Fluchtpunkt entgegen.
Von solchen Bildern kann Shi heute gut leben. Er hat Preise gewonnen, veranstaltet schicke Vernissagen und unterhält in Dafen ein Atelier in bester Lage. Angefangen hat in einer der großen Werkstätten als einfacher Abmaler. „Das war Talentverschwendung“, sagt er heute, „aber ich konnte die Miete bezahlen“. Außerdem habe die Wiederholung gewisse Techniken geschult, hin und wieder traf man Sammler oder Galeristen. Shi gelang es, sich nach und nach aus dem Kopierbetrieb herauszuziehen, er verkaufte seine ersten eigenen Bilder, schaffte es auf Ausstellungen und stand irgendwann auf eigenen Füßen. „Man muss etwas Eigenes machen, sonst verkümmert man“, sagt er.
Fälscherei 2.0
Geschäftemacherei und künstlerischer Anspruch präsentieren sich in Dafen Tür an Tür. Eine enge, halb mit Bildern zugestellte Treppe hinauf hat An Hua sein Lager und Büro. Er serviert Tee aus einer winzigen Kanne. Mit einer silbernen Zange taucht er die Tässchen in heißes Wasser, um sie zu erwärmen. „Gemälde sind für mich in erster Linie Waren“, sagt er. „Ich könnte auch alles andere verkaufen, Hauptsache im Netz.“ Der junge Mann hat das Modell Dafen auf eine neue Stufe gehoben, sozusagen auf das Niveau 2.0. Malen lässt er wie alle anderen im Akkord, hundert Auftragsfertiger bescheren seinem Unternehmen Wen Bohui rund 2 Millionen Yuan Umsatz im Monat (244.000 Euro). Doch die Werbung, der Kundenkontakt, die Motivauswahl, die Bestellung und Abrechnung, all das findet nur im Internet statt.
Die Käufer können aus mehreren tausend Motiven auswählen, fast alle Kunden sind Chinesen. Die Mittelschicht in seinem Land wachse rasant, weiß An, der eigentlich Buchhalter ist und früher für einen Exporteur von LED-Leuchten gearbeitet hat. Die Menschen würden immer wohlhabender, kauften Wohnungen, richteten sie nach westlichem Vorbild ein – und säßen den halben Tag am Computer. „Junge Leute kaufen alles online, das ist meine Nische“, sagt An und blättert durch einen Stapel von Van Goghs „Sonnenblumen“. Das Bild sei ein Dauerbrenner, in allen Größen und Formen, sagt er und lacht. „Ich glaube, wir haben noch mehr Fassungen gemalt als der Künstler selbst.“
Die “Mona Lisa” mit dem Gesicht einer Freundin läuft besonders gut
Im Format 20 mal 25 Zentimeter kostet die gerahmte Blütenpracht 250 Yuan (30 Euro). Die dreimal so großen Seerosen von Claude Monets bietet Wen Bohui für 2800 Yuan (340 Euro) an. Fast ebenso begehrt ist die europäische Historienmalerei „vor allem Napoleon!“ ruft An aus dem Nebenraum. Er nimmt seinen Hund auf den Arm, ein kurzbeiniges Tier, das etwas zu viel an einem Picasso schnüffelt. Den Internethandel mit Kunst hält An, trotz aller Betonung des Geschäftlichen, für durchaus kreativ. Dann nämlich, wenn Kunden per E-Mail Fotos schicken, um sie in bekannte Motive einarbeiten zu lassen. „Männer bestellen gern die Mona Lisa mit dem Gesicht ihrer Freundin“, sagt An und tätschelt seine Promenadenmischung.
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größter Fälscher ?
Eine verfälschende Überschrift.
Der Autor hat von der Materie keine Ahnung.
Ein Fälscher produziert Fälschungen.
Dieser Chinese produziert Kopien ,
bzw. läßt produzieren.
die mir Fantasienamen signiert sind.
Ein Fälscher signiert mit dem Namen eines
bekannten Künstlers.