Bagdad Briefing

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Über den neuen Krieg gegen den Terror – und jene, die sich Krieg und Terror entgegenstellen. Von Bagdad bis Benghasi, von Doha bis Damaskus.

Blutiger Freitag in Kairo

| 8 Lesermeinungen

Der Tag hatte noch gar nicht richtig begonnen, als die bewaffneten Männer zuschlugen: In Qaliubya nördlich von Kairo erschossen sie am Freitagmorgen an einem Kontrollpunkt einen Polizisten, der deren Wagen kontrollieren wollte. Wenige Stunden später griffen Männer von einem Motorrad aus einen Polizeiwagen im Kairoer Stadtteil Nasr City an. Zwei Offiziere wurden getötet.

Schlimmer hätte dieser von islamistischen Aktivisten zum „Aufstand der muslimischen Jugend“ deklarierte Protesttag nicht anfangen können. Seit Tagen mobilisieren Polizei und Armee ihre Einheiten, um Massenaufmärsche der Salafistischen Front zu unterbinden. Auch die vor einem Jahr zur terroristischen Vereinigung erklärte Muslimbruderschaft hat zu Demonstrationen aufgerufen. Auf Kairos Uferstraße Corniche patrouillieren seit dem frühen Morgen lange Konvois von Armeefahrzeugen, um jeden Protest im Keim zu ersticken.

Ein halbes Jahr nach der Wahl Militärmachthaber Abd al Fattah al Sisis zum Präsidenten ist es der erste Versuch der marginalisierten und kriminalisierten Muslimbruderschaft und ihrer Verbündeten, ihre Anhänger in großer Zahl auf die Straßen zu bekommen. Doch der Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt und der Rabaa-Platz in Nasr City sind bereits seit Donnerstagabend abgeriegelt. Erst am Mittwoch hatte eine Regierungskommission zugegeben, dass Sicherheitskräfte dort im August 2013 mehr als 600 Islamisten erschossen hatten. Menschenrechtsorganisationen gehen von mehr als tausend Toten aus.

Das Massaker von Rabaa und das wenig später verhängte Verbot der Muslimbruderschaft hat Tausende Anhänger des von Sisi gestürzten islamistischen Präsidenten Muhammad Mursi in den Untergrund getrieben. Bis heute sind die Behörden den Beweis schuldig geblieben, dass sie danach zur Terrorgruppe Ansar Beit al Maqdis stießen, die für Dutzende Anschläge gegen Sicherheitskräfte auf der Sinai-Halbinsel verantwortlich ist. Auch in Kairo schlagen sie regelmäßig zu; im September 2013 scheiterte ein Attentat auf Innenminister Ibrahim Muhammad nur knapp. Im Oktober stattete Sisi per Sonderdekret die Militärjustiz mit weitreichenden Befugnissen aus, um den Terror in den Griff zu bekommen.

Mit jedem Toten mehr wird die Pauschalbeschuldigung des Regimes, dass Muslimbrüder und Dschihadisten eine Front bildeten, zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Wenn jungen Menschen nur zwischen autoritärer Herrschaft und extremistischen Untergrund wählen können, ist jeder Antiterrorkampf zum Scheitern verurteilt.

Erst am Mittwoch bekamen das 78 minderjährige Anhänger Mursis in Alexandria zu spüren, die zu zwei bis fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurden. Ihr Vergehen: Sie hatten in den vergangenen Monaten an Demonstrationen teilgenommen, zu denen die Muslimbruderschaft aufgerufen hatte. Zwischen 13 und 17 Jahre alt waren die Verurteilten. Viele ebenso junge Demonstranten werden auch nach Ende der Freitagsgebete wieder auf den Straßen der großen Städte erwartet. Die Tötung der drei Polizisten am frühen Morgen lässt Schlimmstes befürchten.


8 Lesermeinungen

  1. ThorHa sagt:

    Vor einem Jahr hatte ich den schlimmsten Medienverachtungsanfall,
    an den ich mich erinnere. Als sich bei uns die Medienvertreter daran berauschten, dass die zweifellos menschenrechtsfeindliche, darüber hinaus unfähige Herrschaft von sunnitischen Theokraten namens Muslimbruderschaft durch eine noch mörderischere Variante jenes Schlächterregimes abgelöst wurde, das ebenso hauptverantwortlich für das Erstarken der Muslimbruderschaft war, wie für die Proteste, die als Teil des “Arabischen Frühlings” in Ägypten ausbrachen.

    Wieder einmal macht der Weesten das, wofür er notorisch berüchtigt ist – aus Angst vor den natürlich unkontrollierbaren Folgen eines Freiheitsausbruches in die Umarmung der Scheinsicherheit einer brutalen Diktatur flüchten. Obwohl die Geschichte hundertfach lehrt, dass diese Komplizenschaft sich langfristig nicht auszahlt und als Verrat an den “westlichen” Werten diesen universalen Menschenrechten massiven Schaden zufügt.

    Dummheit und Feigheit im engen Verbund. Das Ergebnis ist das beschriebene Ägypten. Bah.

    Gru

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  3. Nobody1980 sagt:

    mehr als 600 Islamisten??
    Wenn der Autor geschrieben hätte, 600 friedlich demonstrierende Muslime oder von mir aus Muslimbrüder, dann hätte ich vielleicht weiter gelesen. Wie würde so ein Artikel aussehen wenn Erdogan mal 600 Demonstranten einfach über den haufen schiesst?

  4. MagTwain sagt:

    Was wäre die Alternative?
    “Wenn jungen Menschen nur zwischen autoritärer Herrschaft und extremistischen Untergrund wählen können, ist jeder Antiterrorkampf zum Scheitern verurteilt.”

    Zumindest auf Ägypten bezogen, fiele mir da derzeit kein anderes Modell ein. Die Muslimbrüder hatten ihre Chance, zu beweisen, dass sie “Politik können.” Leider führte das zu dem, womit man rechnen musste. Auflösung des Parlaments, Erhöhung der Machtbefugnisse für den islamistischen Mubarak namens Mursi und der Ausschluss aller “Ungläubigen” von öffentlichen Ämtern. Der erste Aufruf zum Dschihad ließ ebenfalls nicht lange auf sich warten. So, wie der “Präsident aller Ägypter” agiert hat, ist es kaum verwunderlich, dass die Macht am Ende wieder in den Händen der Armeeführung liegt. Wünschenswert ist das gewiss nicht, aber unter dem Strich dürfte der Blutzoll für die ägyptische Bevölkerung ein geringerer sein – auch wenn das ein schwacher Trost ist.

    • deutschlaender2 sagt:

      Die Grundrechenarten und Abwesenheit von Islamophobie
      genügen eigentlich, um zu der Feststellung zu kommen, dass das mit dem Blutzoll nicht ganz hinkommt. Lesen Sie einfach bei hiki31 hier unten nach, und sagen mir dann noch, wie viele Todesopfer unmittelbar auf Mursi zurückzuführen sind. Soweit ich weiß liegt die Zahl ziemlich nahe bei 0.

  5. Widerstaendler sagt:

    Titel eingeben
    Wir sollten froh sein, das wenigstens eine arabische Regierung die Bedrohung durch den radikalisierten Islam ernst nimmt und sich dagegen wehrt. Stattdessen wird auch diese sofort kritisiert.

    Was passiert, wenn der IS Bedrohung nur halbherzig geantwortet wird, sieht man derzeit.

    • deutschlaender2 sagt:

      Woher nimmt jemand, der nicht zwischen den
      Muslimbrüdern und dem IS zu unterscheiden bereit (oder imstande?) ist, die Chuzpe, sich in einem Blog mit dem seit Jahren in Kairo ansässigen Korrespondenten Bickel so uninformiert und pauschalisierend zu äußern?
      Was passiert, wenn mit den legitimen (auf dieses Wort lege ich größten Wert!) islamisch-politischen Aspirationen eines bedeutenden Teils der Bevölkerung so umgegangen wird wie derzeit in Ägypten kann sich jeder denken. Die Regierung Mursis als nicht umbuchbares “One-Way-Ticket to islamist hell” zu deuten – dazu gehört schon viel ex ante-Ablehnung von allem, das das Wort “Muslim” im Namen führt – mithin Islamophobie. In Tunesien haben sich die Muslimbrüder ohne zu mucken abwählen und in die Opposition schicken lassen. Das hätte in Ägypten auch passieren können, und die Muslimbrüder hätten dadurch ihre Demokratietauglichkeit bestätigt bekommen – wurde aber nicht zugelassen.

  6. hiki31 sagt:

    15.000 politische Verhaftungen, 1.400 getöte Demonstranten, Demonstration- und
    Pressefreiheit verboten. Halt, alles was das Herz des diktatorischen Regimes einschließlich den Putschisten begehrt. Und USA sowie EU pflegen die Beziehungen, als ob nichts passiert wäre. Interessenpolitik pur.

    Menschenrechte und Bürgerfreiheiten sind nur dann wichtig, wo sie nicht gegen eigene Interessen verstoßen. Bravo! Ansonsten fühlt man sich auch mit Diktatoren wohl. Heuchlerisch pur!

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