Thomas Quasthoff singt nicht mehr. Jedenfalls nicht im Klassikbetrieb. Der Bariton tritt in keiner Oper auf und stimmt öffentlich keine Schubert-Lieder an. Er geht aber weiter auf Tour. Zum Beispiel bringt er Werke des 2005 verstorbenen Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch zum Vortrag, den er seit seinen Studententagen bewundert. Gelegentlich singt Quasthoff dann auch, denn Hüsch fiel sozusagen ganz natürlich aus dem Reden ins Singen. Die allmähliche Verfertigung seiner Gedanken, die seine sorgfältig gebauten Nummern simulierten, strebte nach der musikalischen Form, einer Art Grundform, der Schlichtheit des Kinderlieds. Zum neunzigsten Geburtstag von Hüsch erschien im vergangenen Jahr eine angeblich vollständige Ausgabe seines literarischen Werks, leider nur im E-Book-Format. Zu einem der Bände, den Monologen des Bekenntnisartisten Hagenbuch, hat Quasthoff das Vorwort beigesteuert. Damit setzt er einen erfreulichen Kontrapunkt zur postumen Aneignung Hüschs durch den Klerus, zumal den evangelischen. Weiterlesen →
Was die New Yorker verstört, kann die Münchner nicht stören
Als der am 28. November vergangenen Jahres verstorbene Regisseur Luc Bondy im September 2009 an der Metropolitan Opera in New York seine Inszenierung der „Tosca“ herausbrachte, erging es ihm wie dem Helden von Giacomo Puccinis Oper. Beziehungsweise fast. Aus dem Riesensaal erscholl ein Buhchor, wie ihn die New Yorker, die nur von Kurzbesuchern für unhöflich gehalten werden, seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt hatten. Bondy glaubte, sein letztes Stündchen habe geschlagen. Dem Interviewer André Müller erzählte er später: „Es fehlten nur noch die Gewehre, sonst hätte man mich erschossen.“
Den Schießbefehl hatte Bondys Vorgänger erteilt, Franco Zeffirelli, dessen Produktion aus dem Jahr 1985 Met-Intendant Peter Gelb durch Bondys Deutung ersetzte. Während sich Bondy immerhin Auszüge aus Zeffirellis Inszenierung auf Video angesehen hatte, machte sich Zeffirelli nicht die Mühe, zur Begutachtung von Bondys Arbeit nach New York zu reisen. Er sprach sein Urteil in Abwesenheit und im Voraus, in einem Interview aus Rom. Weiterlesen →
Sehr wohl gereimt: Ein zweiter Blick auf die Münchner „Meistersinger“
„Die Bühne stellt das Innere der Katharinenkirche, in schrägem Durchschnitt, dar.“ Es ist normal, dass der Regisseur diese Regieanweisung Richard Wagners für „Die Meistersinger von Nürnberg“ nicht beachtet. Die Ausnahme ist Otto Schenks Met-Inszenierung von 1993, an deren Stelle demnächst Stefan Herheims Salzburger Deutung treten wird, in der die Katharinenkirche aus Wagners Schreibtisch hervorwächst. Patrick Bannwarts Bühnenbild für den ersten Aufzug der Münchner Neuinszenierung von David Bösch ist ein Bauplatz mit allerlei Gerüsten. In der Mitte erhebt sich ein Boxring, dahinter sieht man schon die Gasse des zweiten Aufzugs mit grauen, unverputzten Mietshäusern auf beiden Seiten. Die Gemeinde befindet sich nicht in der Kirche, als sie „den letzten Vers eines Chorales“ singt, „mit welchem der Nachmittagsgottesdienst zur Einleitung des Johannisfestes schließt“, sondern betritt gemessen schreitend die Bühne. Ministranten im Chorhemd gehen voran. „Zum Luther-Choral zieht eine katholische Prozession durchs Viertel“: Taugt das, wie der Kollege Markus Thiel meint, als erster Beleg dafür, dass Böschs Inszenierung „arg viel Ungereimtes“ enthalte? Weiterlesen →
Von Boston aus gesehen ist München wie London
Am heutigen Sonntag ist das Boston Symphony Orchestra mit seinem Chefdirigenten Andris Nelsons zu Gast in München. In der Philharmonie im Gasteig wird das Orchester ein russisch-französisches Programm aufführen, unter anderem die Briefszene aus Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“ mit Kristina Opolais, der Gattin von Nelsons, die der Bayerischen Staatsoper soeben für die Titelpartie in Fromental Halévys „La Juive“ abgesagt hat. Mark Volpe, Managing Director des Orchesters und der Boston Symphony Hall seit 1997, war vor acht Jahren zuletzt in München. Neugierig lässt er sich beim Gespräch in seinem Büro in der Symphony Hall über den Stand der Münchner Konzertsaaldebatte unterrichten.
Fundamentalismusalarm im Residenztheater
Das Programmheft zur Neuinszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ am Münchner Residenztheater lässt eine Übertragung des Geschichtsdramas in die Gegenwart erwarten. Über den Großbuchstaben des Stücktitels flattert unscharf vor nächtlich-finsterem Hintergrund eine Fahne. Wir sehen die deutschen Nationalfarben und bemerken einen Verfremdungseffekt, den Verzicht auf die horizontale Abstraktion der republikanischen Trikolore zugunsten der Restauration eines heraldischen Gottesbezugs: schwarzes Kreuz in goldener Einfassung auf rotem Grund.
O! Haupt! Voll! Blut! Und! Wunden!
Dies ist keine Einladung, sondern ein Befehl. „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen!“ Die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach beginnt mit einem Imperativ. In der Interpretation durch die Chorgemeinschaft Neubeuern unter Leitung von Enoch zu Guttenberg hat er kategorische Wucht: Die Gestaltung der ersten Phrase gibt das Gesetz für alles, was kommt an diesem Karfreitag im Gasteig.
Guttenberg lässt ein Drama aufführen. Nach dem Höhe- und Endpunkt der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi nach Matthäus, dem Tod des Helden, trägt der Evangelist nach, was in diesem Moment mit der Welt geschah: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus.“ Der Riss pflanzte sich fort: „Und die Erde erbebete und die Felsen zerrissen.“ Einen hochbewegten Duktus hat Bach dieser Partie des Evangelistenberichts eingeschrieben. Die Erschütterung erfasst den Chronisten, und zwar im objektiven Sinne existentieller, nicht bloß persönlicher Betroffenheit.
Die Spur verliert sich Richtung Pullach
Der Kommissar befragt die Ortspolizisten: „Wo geht denn der Weg hin?“ Antwort: „Direkt zum Bahnhof.“ Damit ist für Köster die Sache klar. Er wendet sich an seinen Assistenten: „Ja, wahrscheinlich ist er so gefahren wie wir eben, nicht? Heilmannstraße, Richtung Pullach, bis er nicht mehr weiterkonnte.“ Ein paar Schritte vor dem Bahnhof wurde der Wirt der Radfahrerkneipe im Morgengrauen aus seinem Auto gezogen.