Der Kommissar befragt die Ortspolizisten: „Wo geht denn der Weg hin?“ Antwort: „Direkt zum Bahnhof.“ Damit ist für Köster die Sache klar. Er wendet sich an seinen Assistenten: „Ja, wahrscheinlich ist er so gefahren wie wir eben, nicht? Heilmannstraße, Richtung Pullach, bis er nicht mehr weiterkonnte.“ Ein paar Schritte vor dem Bahnhof wurde der Wirt der Radfahrerkneipe im Morgengrauen aus seinem Auto gezogen.
Die Ermittler gehen ein paar Schritte bis zur Brücke über die Bahn. Nun fragt der Kommissar den Assistenten: „Wo führen denn diese Gleise hin?“ Antwort: „Kufstein… Kufstein, Innsbruck, Brenner, Italien.“ Der Wirt musste die Leiche seiner verschwundenen Frau nur über das Geländer heben und auf den nächsten Güterzug warten, um sie spurlos zu beseitigen. Dann legte er sich in sein Auto und zog sich den grauen Filzhut über die Augen. Hätte er ein paar Minuten länger durchgehalten, wäre er nach Grünwald gekommen. Aber er konnte eben nicht mehr weiter. Im metaphysischen und im soziologischen Sinne.

Wo er liegenblieb, ist die Münchner Vorstadtlandschaft noch grau, geradezu schäbig. Das Brückengeländer ist verbogen, der Gehsteig müsste ausgebessert werden. Nicht leicht zu finden, so ein Ort, den jeder links liegenlässt, der nicht sturzbetrunken von der Straße abkommt. Für den Regisseur Dominik Graf ist die Sache klar. Sein Kollege Zbynek Brynych, der für die am 4. Juli 1980 erstmals ausgestrahlte 42. Folge der ZDF-Serie „Der Alte“ verantwortlich zeichnete, muss denselben Weg zurückgelegt haben wie seine Figuren. Nur ist er nicht gefahren, sondern zu Fuß gegangen.
Der Tscheche habe sich München erwandert, erzählt Graf in der Dachkammer der Münchner Kammerspiele im Gespräch mit dem Filmkritiker Bert Rebhandl. Die Donnersberger Brücke, das Westend, Pullach: Das seien Brynychs Biotope gewesen. Der topographische Realismus eines Segments des Freitagsabendkrimi-Kosmos, der heimatkundliche Quellenwert dieser Veduten aus der unheimlichen Hauptstadt der alten Bundesrepublik verdankt sich demnach dem Umstand, dass Brynych, der auch mehrere Folgen von „Der Kommissar“ und „Derrick“ drehte, in München im Exil arbeitete.
Brynych, 1927 in Karlsbad geboren und 1995 in Prag verstorben, gehörte zu den Filmemachern des Prager Vorfrühlings wie Jiří Menzel und Miloš Forman. In Cannes, wo sein Film „Der fünfte Reiter ist die Angst“ 1965 im Wettbewerb lief, lernte er Carlo Ponti kennen, der ihn nach Rom holte, dann aber doch nichts Rechtes mit ihm anfangen konnte. Der Münchner Produzent Helmut Ringelmann engagierte ihn, und so begann in der deutschen Fernsehgeschichte, wenn man Graf glaubt, fast so etwas wie ein goldenes Zeitalter: eine Epoche aus Goldblech. Brynych, der begnadete Filmkunsthandwerker, machte vor, wie sich billiges Material mit frappantem Effekt veredeln lässt.
„Episode“ ist der Serientitel der Kammerspielabende zum Thema Serie: Autoren aus dem Umkreis der Filmzeitschrift „Cargo“ zeigen jeweils eine Folge einer Fernsehserie und diskutieren sie vor und mit einem Publikum, das bequem sitzt und mit Chips und Bier versorgt wird. Die Episode dieses Abends heißt „Sportpalastwalzer“. An Brynychs einstündigem Film nach einem Drehbuch von Detlef Müller interessiert Graf und Rebhandl, inwiefern gerade das Formelhafte des Formats die Kreativität stimulieren konnte.

Ein Beispiel ist der Kontrast im schauspielerischen Stil zwischen den beiden Hauptfiguren, dem für die Sicherheit der Zuschauer sorgenden Kommissar und dem einmal und nie wieder auftretenden Mörder. Bis Folge 100 versah Siegfried Lowitz, der erste und für viele Fans der wahre „Alte“, seinen Dienst; den aus der Lebenskurve getragenen Radsporthelden spielt Klaus Löwitsch. In München hatten sich ihre Wege gekreuzt: Von 1962 bis 1968 gehörten der 1914 geborene Lowitz und der 22 Jahre jüngere Löwitsch gleichzeitig dem Ensemble der Kammerspiele an. Bei der Wiederbegegnung im Fernsehstudio, in den Kulissen des Kommissariats und der Kneipe, griff keiner von beiden auf die Technik des artikulierten Vortrags zurück. Lowitz spricht tonlos, an der Grenze zum Nuscheln. Löwitsch begräbt die Konventionen des Sprechtheaters unter den Exaltationen eines Gebärdentheaters, zieht sich zusammen, bäumt sich auf, windet sich. Vom Auto unterscheidet die athletische Maschine, dass sie nicht stillsteht, wenn sie nicht mehr weiterkommt.
Die Frau des Wirts muss eine Krücke benutzen, wenn sie hinter der Theke hervorkommen will, um sein Herumpoussieren mit der blonden Kellnerin zu unterbinden. Sie hat einen Klumpfuß, seit er sie im Rausch mit dem Auto überfahren hat. In Wahrheit ist er genauso an das Lokal und die Ehe gefesselt wie sie. Um sie zu quälen, lässt er die Musikbox wieder und wieder dasselbe Tanzstück ausspucken. Sportpalastwalzer, so wird der von Siegfried Translateur komponierte Walzer „Wiener Praterleben“ wegen seiner Karriere als Erkennungsmelodie der Berliner Sechtstagerennen genannt.
Ein Ohrwurm in Endlosschleife als einzige Musikbegleitung: Brynychs Markenzeichen. Walzerkönig, wie? Der Wirt, weiland Liebling der Paläste, nun Herr der Hütte, kann sich nicht satthören an der Hymne seiner Gefangenschaft. Das optische Pendant zu den Hammerschlägen dieser Schicksalssymphonie im Winzformat sind die Großaufnahmen der Gesichter, oft oben beschnitten wie im Italo-Western.
So fügen sich die Elemente eines grotesken Stils zusammen, mit dem das Genre in der Lesart von Graf und Rebhandl die mit dem Wiederholungsprinzip der Serienunterhaltung gegebene Gefahr des Umschlags in eine Selbstparodie abwehrt. Warum empfindet man die Übertreibung nicht als albern, wenn sie Manier wird? Graf schwärmt vom Schweiß, den die Nahaufnahmen sichtbar machen: Die Beglaubigung der Arbeit am großen Gefühl macht das Fernsehen zum Wahrheitskino für daheim.

Vielleicht darf man die Perspektive aber auch umkehren: Die Kommentierung von Produkten der Massenunterhaltung, mögen sie auch die Handschrift eines Autors vom Rang eines Zbynek Brynych zeigen, ist ihrerseits dem Risiko ausgesetzt, den Eindruck einer Parodie auf die kritische Arbeit zu erwecken. Der Enthusiasmus des Genre-Fans Graf rettet den Ernst der Sache, weil die Interpretation sich nicht zu ernst nimmt. In der Verausgabung der überbordenden Annotation, wie sie auch Blogs zum Thema kennzeichnet, schwingt das Bewusstsein dafür mit, dass Seriengucken immer Zeitverschwendung ist.
Entspannte Konzentration macht den Abend zum Vergnügen. Man hat es mit einem idealen Gegenstand für Kritik im Medium des Gesprächs zu tun, weil die spontane Assoziation dem Betrachter ebenso auf die Sprünge helfen kann wie die in einsamen Endlossitzungen erworbene Kennerschaft. In drei Abschnitten wird „Sportpalastwalzer“ gezeigt und besprochen. Es macht Freude, wenn eine mittendrin geäußerte Beobachtung später ihre Bestätigung erfährt. Im Unterschied zu Derrick kommuniziert Köster kaum mit seinen Mitarbeitern. Hier dreht er sich am Ende zu seinem Assistenten um, als er gestehen muss, dass seine Theorie, die er ausdrücklich als Theorie bezeichnet, ein Irrtum war.
Der Mord des Wirts an der Ehefrau, die tyrannisch an ihm hing, war noch nicht geschehen, als die Polizei ihn auf der Straße nach Pullach aufgriff, sondern ihm vom eifersüchtigen Ehemann der Kellnerin prophetisch angedichtet worden. Die Tat geschah erst, als die verschwundene Frau heimkehrte. In der Schuld der Mörder aus Ringelmanns Filmfabrik, so lautet eine leitende Vermutung Grafs, spiegelt sich immer die Schulderinnerung der Nation, die sich freitags generationenübergreifend vor dem Fernseher versammelte. In diesem Sinne wollte ein Zuschauer eine Häufung von Zeichen für den Holocaust erkannt haben: die ins Ausland führenden Bahngleise; die Hypothese, der Leichnam der Wirtsfrau sei in einer Mülldeponie verbrannt worden; der Versuch des Wirts, sich mit Gas das Leben zu nehmen.
„Der fünfte Reiter ist die Angst“ erzählt von einem verletzten Widerstandskämpfer im besetzten Prag des Jahres 1941, dem ein mit Berufsverbot belegter jüdischer Arzt das Leben rettet. Die Ähnlichkeit von Bildformeln für Situationen der Bedrohung und Überwachung unter Nachbarn sieht Graf nicht als politische Botschaft: „Brynych wusste, wovon er redete, aber in seinen Thrillern ist er ein großes ekstatisches Kind.“ Der Sportpalastwalzer war in der Bundesrepublik so bekannt, dass die Fernsehzuschauer 1980 bei einem Krimi dieses Namens nicht sofort an Goebbels gedacht haben müssen.

Rebhandl gibt zu bedenken, dass die Intention des Drehbuchautors oder Regisseurs nicht darüber entscheidet, was man mithört. Mit der brodelnden Stimmung des Berliner Sportpalasts der zwanziger Jahre rufe die Befehlstonfolge auch die Atmosphäre der Münchner Bierkeller auf, in denen Hitler zur gleichen Zeit ein ähnliches Rumoren erzeugt habe. Wir könnten gar nicht anders, so Rebhandl, als Geschichtszeichen zu sehen, und dem komme entgegen, dass Brynych Zeichen als Zeichen geliebt habe. Auf der Grundlage seiner irrtümlichen Theorie über den Mord, der in Wirklichkeit noch nicht geschehen ist, trifft Köster im philosophischen Disput mit seinem Vorgesetzten, dem von Henning Schlüter gespielten Kriminalrat Millinger, eine Aussage über das perfekte Verbrechen, die Tat, auf die kein Zeichen mehr verweist. „Es wäre nicht das erste Mal, das ein Täter mit seinem Opfer auch die Erinnerung an die Tat beseitigt.“ Die Spur verliert sich Richtung Pullach: Wusste man über die Kunst der geschichtspolitischen Tatortreinigung nicht beim Bundesnachrichtendienst besonders gut Bescheid?
Bei einem Mord ohne Leiche wird man im Fernsehkrimi immer damit rechnen, dass das Opfer wieder auftaucht und der von der Gattung geforderte Mord sich ein anderes sucht. Hier kann man lange glauben, es werde die Kellnerin mit dem Halsband aus zwei verketteten Herzchen erwischen, die ihrem Mann gesteht, dass sie verrückt nach ihrem Chef ist, obwohl auch sie ihn des Mordes verdächtigt. Aber dann kehrt die Hinkende zurück, und der Wirt muss die Tat begehen, an die er sich unter Anleitung des Kommissars zu erinnern begonnen hatte.
Brynychs Geheimnis laut Graf: Er vertraute auf die Geschichte. Unerbittlich nimmt sie ihren Lauf. In Abwandlung eines bekannten Scherzworts über Auschwitz, die Juden und die Deutschen kann man sagen: Der Mann kann der Frau nicht verzeihen, dass er sie zum Krüppel gefahren hat.